Doch unsere Verlegenheiten sind Gottes Gelegenheiten – immer und vor allem dann. Als das Gericht scheinbar unumgänglich war, zeigten sich seine Güte und seine große Menschenliebe. Irdische Erlösungen reichten bei weitem nicht aus, um die Not zu lindern. Vergeblich war das Reden der Propheten; vergeblich die auffälligsten Kräfte, Wunder, Zeichen. Der Mensch war verloren. Würde Gott erscheinen, um ihn zu retten? Genau das erklärt der Apostel hier in klaren und sicheren Worten.
Als aber die Güte und die Menschenliebe unseres Heiland-Gottes erschien (3,4).
Es ist eine gesegnete und vollständige Aussage dessen, was Gott in seiner Güte ist, im Gegensatz zu alledem, was wir in unserer Torheit und Bosheit einst waren. Verderbnis, Gewalt, Ungehorsam und Irrtum beschrieb uns selbst. Gott, der heilig und von unerschütterlicher Gerechtigkeit ist, ist auch der Gott der gnädigen Güte in seinem eigenen Wesen und hat ganz besondere Liebe zum Menschen. Diese ist nicht mehr verborgen, es bedarf keiner Offenbarung mehr, auf die man warten müsste. Sie ist so vollständig erschienen, dass Gott selbst dem vollen Ausdruck seiner Liebe nichts mehr hinzufügen könnte. „Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“ (Joh 1,17). Es ist wahr, dass kein Mensch Gott zu irgendeiner Zeit gesehen hat. Aber das hat das Wirken seiner Güte und den Beweis seiner Menschenliebe keineswegs behindert, sondern im Gegenteil, es gab nur Anlass zu ihrer reichsten Entfaltung. „Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn kundgemacht“ (Joh 1,18). Nichts konnte dies übertreffen. Es war jenseits allen Denkens der Kreatur.
Die Engel waren in Bewunderung versunken; die Menschen, in dummem Unglauben, denken nicht daran; sonst würden ihre harten und sinnlosen Herzen vor den Wundern einer solchen Liebe schmelzen. Der Verstand des Menschen ist unfähig, die Gnade zu ergründen, und zieht sich deshalb in seine eigene dunkle Selbstsucht zurück. Und kein Wunder, wenn er, wie er immer zu urteilen pflegt, über Gott selbst urteilt. Keiner, der je geboren wurde, hätte das Herz für einen solchen Tod gehabt, selbst wenn er es gekonnt hätte.
Gott sandte seinen einzigen Sohn, um für seine Feinde zu sterben! Für einen guten Menschen, für einen lieben Freund zu sterben, würde ein Mensch vielleicht tun, so wie es auch geschehen ist. Für seine Feinde zu sterben, ist eine Unmöglichkeit für den Menschen. Aber gerade so sind die Güte Gottes und seine Liebe zum Menschen erschienen. Da sie charakteristisch göttlich ist, kann sie nur durch den Glauben empfangen werden. Solche, die ihren eigenen Gedanken glauben und nach ihren eigenen Gefühlen urteilen, weigern sich, sie zu empfangen, belügen Gott und sind deshalb verloren, und das mit Recht. Denn ist es nicht die Ablehnung Gottes, sowohl in seiner Gnade als auch in der Wahrheit? Wie groß auch immer das Mitleid Gottes mit dem törichten, ungehorsamen Menschen sein mag, wie wir, die wir einmal so waren, nur bezeugen können, so kann Gott doch nicht über die absichtliche und beharrliche Verachtung seiner Liebe in der Gegenwart seines offenbarten Lichtes hinweggehen. Und es ist das wahre Licht Gottes, das jetzt leuchtet. Das ist das Evangelium Christi, in dem mehr als in allem anderen zusammengenommen die Güte Gottes und seine Menschenliebe erschienen sind. Darum hat Er es zu jeder Kreatur ausgesandt, wie die Sonne für jedes Land scheint.
Mit dem Gesetz war es nicht so, obwohl es in der Lage ist, mit jedem Herzen, das es aufnimmt, in gerechter Weise umzugehen. Dennoch wurde das Gesetz Israel gegeben, und nur sie wurden formell und durch göttliche Autorität unter das Gesetz gestellt. Nach der Schrift waren die Heiden ohne Gesetz; sie werden so im Gegensatz zu den Juden bezeichnet; und deshalb werden sie unter Gottes Gericht kommen, wie uns in Römer 2 gesagt wird.
Doch jetzt haben sogar die, die nichts als Sünder waren und nichts als das Gewissen hatten, um anzuklagen oder zu entschuldigen, das unaussprechliche Vorrecht, das Evangeliums zu hören, das ihnen gepredigt wird. Wie die Juden unentschuldbar waren, ihren Messias zu verwerfen, als Er zu ihnen kam in der Liebe und in der weitesten Bezeugung, so sind die Heiden noch unentschuldbarer, wenn sie ihre Augen und Ohren vor jenem Christus verschließen, der alle Menschen zu sich nach oben ziehen will. Es war ein Wunder, dass Gott sich in seiner Liebe erniedrigte und in der Person seines menschgewordenen Sohnes zu den Menschen herabkam. Es war ein unendliches Wunder, dass ein Mensch, der menschgewordener Gott war, als Opfer für Sünder am Kreuz starb. Nun ist Er von den Toten auferstanden und zur Herrlichkeit emporgehoben, erhöht, um Buße und Vergebung der Sünden zu geben, nicht nur Israel, sondern jedem armen Sünder, der an Ihn glaubt, bis an das Ende der Erde.
Denn der Zeitpunkt war kaum weniger bewundernswert als der Weg. Die Sünden hatten sich in jeder Form und jedem Grad gezeigt und das Gericht darüber stand noch aus. Der Mensch war versucht worden, dann war er sich selbst überlassen – und endete in der Sintflut. Israel hatte das Gesetz empfangen und war abgefallen. Die Heiden hatten die Weltmacht erhalten und bewiesen nur, dass sie moralisch „Bestien“ waren. Juden und Heiden verwarfen gemeinsam den Sohn Gottes, den Messias, der nichts als Licht und Gutes zur Ehre Gottes hätte bringen können und wollen. Als alle natürliche Hoffnung im Grab versunken war, hat Gott Ihn aus den Toten auferweckt und Ihm die Herrlichkeit geschenkt. Und nicht nur das, sondern Er lässt die Gnade durch das Evangelium tiefer und größer erscheinen als je zuvor. „Hierin ist die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben [was das Gesetz verlangte und nie bekommen hat], sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat [das ist das Evangelium] als Sühnung für unsere Sünden“ (1Joh 4,10). So sind die Güte Gottes und seine Menschenliebe erschienen. Sie ist unvergleichlich, voller Trost, Befreiung und Segen für jeden, der an Christus glaubt; wer sie aber verachtet, entehrt Gott in seiner tiefsten Gnade und zieht Gottes Rache und ewiges Gericht auf sich. Mit den feierlichen Worten unseres Herrn Jesus selbst: „wer aber dem Sohn nicht glaubt [oder gehorcht], wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm“ (Joh 3,36).
Es ist bemerkenswert, dass, wenn wir das Wort in seiner menschlichen Anwendung in Apostelgeschichte 28,2 finden; das ist die einzige Stelle in der Schrift ist, wo wir von „Freundlichkeit“ oder Menschenliebe hören, die Gott, unserem Erlöser, zugesprochen wird. Ist das nicht der Inspiration würdig? Die Menschenliebe Gottes bedeutet seine besondere Zuneigung zum Menschen und zeigt sich, wie wir gleich sehen werden, in einer Weise, zu der die Kreatur ganz unfähig ist. Wohltätige Menschen rühmen sich ihrer eigenen Menschenfreundlichkeit oder der ihrer Mitmenschen. Was kann in größerem Gegensatz dazu stehen? Das schlechtere Metall wird sehr oft von Irrlehrern, von Arianern, Unitariern und Deisten, von ungläubigen Agnostikern und Positivisten gezeigt. Außerdem scheuen Christen jeder Art nicht davor zurück, sich häufig mit irgendwelchen oder allen diesen Feinden des Glaubens zu sozialen, erzieherischen und politischen Zwecken in ein unheiliges Bündnis zu begeben. Die Menschen rühmen sich dieser Kombinationen, die dem Wort Gottes und dem Kreuz Christi so fremd sind, ein weltliches Gegenstück für die Einheit des Geistes, die wir als Glieder des einen Leibes Christi zu bewahren haben. Sie freuen sich, dass irgendwelche rein natürlichen Mittel zur Linderung von sozialer Not und persönlichem Elend eingesetzt werden, ohne Rücksicht auf Gottes Willen, Sinn und Herrlichkeit.
In dem, was rein äußerlich und von dieser Schöpfung ist, können sich die Menschen alle vereinigen, unabhängig von ihrem Glauben oder Mangel an Glauben – ja, gegen den Glauben der Auserwählten Gottes. So ist die Menschenliebe des Menschen, ohne ernsthaftes Nachdenken über Gottes Wort oder Willen, beschäftigt mit Gefängnissen und Arbeitshäusern, dem Krankenhaus und dem Irrenhaus, Volksparks, Bädern und Vereinen, öffentlichen Musikkapellen, und versucht so, sich mit jeder aufstrebenden Klasse, wie auch mit dem Elend der Welt im Allgemeinen zu beschäftigen.
Doch unser Heiland-Gott geht mit dem Menschen um, indem Er das Licht hineinbringt, das seinen Ruin in den besten Verhältnissen offenbart, vom Thron herab bis zum Erstgeborenen der Sklavin, die hinter der Mühle steht. Gottes Menschenliebe sieht die menschlichen Philanthropen vielleicht als die an, die am meisten seiner rettenden Liebe bedürfen, weil sie durch das Bewusstsein der Liebenswürdigkeit oder des Wohlwollens im Hinblick auf ihre Sünden geblendet sind. Viele von ihnen glauben aus Prinzip nur das, was sie sehen. Sie sehen nur die Tatsachen des menschlichen Elends und suchen es zu lindern, völlig unwissend, dass sie selbst elend vor Gott sind, nicht weniger als die niedrigsten von denen, die sie lindern wollen, und dies für eine Ewigkeit, die sie nicht nur nicht glauben, sondern vielleicht offen leugnen und herausfordern.