Behandelter Abschnitt Titus 3,1-2
Von den persönlichen und häuslichen Pflichten wendet sich der Apostel nun zu den mehr äußerlichen Pflichten.
Erinnere sie daran, Obrigkeiten und Gewalten untertan zu sein, Gehorsam zu leisten, zu jedem guten Werk bereit zu sein; niemand zu lästern, nicht streitsüchtig zu sein, milde, alle Sanftmut zu erweisen gegen alle Menschen (3,1.2).
Wie der Apostel Petrus in seinem ersten Brief ähnliche Ermahnungen an die gläubigen Juden richtet, so tat es unser Apostel sehr ausführlich, als er an die Gläubigen in Rom schrieb, die meist frühere Heiden waren. Jetzt beauftragt er Titus, der ein Grieche ist, ähnliche Ermahnungen an die Brüder auf Kreta zu richten, deren Landsleute wegen ihrer Unbotmäßigkeit und anderer Laster berüchtigt waren. Nie war eine solche Ermahnung nötiger als jetzt, in einer Zeit, wo die Gesetzlosigkeit so schnell zunimmt, dass sie alle Rechtschaffenden schockiert. Die Gesetzlosigkeit in der Welt ist nicht weniger schamlos als ein ähnlicher Geist in der Versammlung, obwohl sie zweifellos im Tempel Gottes, wo der Heilige Geist wohnt, besonders abscheulich ist. Doch es ist gut möglich, dass Menschen eine starre Theorie des Gehorsams in der Versammlung vertreten und eine ähnliche Verantwortung in der Welt mit Füßen treten und leugnen. Sie sind darin nicht von Gott gelehrt. Vielleicht ist es noch üblicher, auf dem Gehorsam gegenüber der Autorität der Welt zu bestehen und ihn in der Versammlung unter dem Vorwand zu verweigern, dass sie sich in einem Zustand des Verfalls befindet. Gottes Wort verurteilt allen solchen Eigenwillen.
Die Schrift ist jedoch klar und entschieden: Es genügt nicht, sich um des Zorns willen unterzuordnen, sondern um des Gewissens willen. Gott ist an unserer Unterordnung beteiligt, „denn es gibt keine Obrigkeit, außer von Gott, diejenigen aber, die bestehen, sind von Gott eingesetzt“ (Röm 13,1). Ganz gleich, ob monarchisch, republikanisch oder eine Mischung von beiden, sie sind von Gott verordnet. „Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, widersteht der Anordnung Gottes“ (Röm 13,2). Es spielt auch keine Rolle, ob es sich um einen obersten Herrscher oder um die von ihm Beauftragten handelt, wie uns der Apostel Petrus wissen lässt (1Pet 2,13-15): „Denn so ist es der Wille Gottes“. Es war in seiner Vorsehung angeordnet, dass, als der Apostel an die Gläubigen in Rom schrieb, einer der grausamsten Despoten herrschte: „Jede Seele sei den obrigkeitlichen Gewalten untertan“ (Röm 13,1). Der schlimmste Herrscher ist besser als Anarchie. Dennoch spricht das Wort Gottes nicht aus Gründen der Nützlichkeit. Wer auch immer die Obrigkeit sein mag, sie ist „Gottes Dienerin, dir zum Guten. Wenn du aber Böses verübst, so fürchte dich, denn sie trägt das Schwert nicht umsonst; denn sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe für den, der das Böse tut“ (Röm 13,4). Wenn diese Lehre in unseren Tagen fremd ist, ist es umso mehr eine Pflicht für die Gläubigen, nicht nur zu glauben, sondern auch danach zu handeln.
Dann sollte Titus sie ermahnen, allgemein gehorsam zu sein. Dass dies die Bedeutung des Wortes ist, geht aus dem neutestamentlichen Sprachgebrauch hervor (Apg 5,29.32; 27,21). Es gibt keinen hinreichenden Grund, „den Richtern zu gehorchen“ zu übersetzen, wie in der Autorisierten Version. Im Gegenteil, damit würde eine Ermahnung verlorengehen, indem man sie zu einer bloßen Wiederholung des früheren Satzes macht. Berufen sich die Menschen auf die Rechte der Menschen? Der wahre Platz eines Gläubigen ist zu gehorchen. Missbrauchen sie den Gehorsam, um die Autorität Gottes beiseitezuschieben? Die Antwort lautet: „Man muss Gott mehr gehorchen als Menschen“ (Apg 5,29). Aber Gehorsam ist immer und überall die Pflicht des Gläubigen. Wenn er sich nicht sicher ist, was der Willen Gottes ist, sollte er warten, bis er ihn erfährt, denn er ist „auserwählt nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters, durch Heiligung des Geistes, zum Gehorsam und zur Blutbesprengung Jesu Christi“ (1Pet 1,1.2). Wir sind weder Juden unter dem Gesetz, noch sind wir gesetzlose Heiden. Es ist daher von großer Wichtigkeit, einen geschärften Geist des Gehorsams Gott gegenüber, wenn auch nicht immer dem Menschen gegenüber, zu haben.
Aber weiterhin möchte der Apostel, dass Titus Nachdruck auf die Bereitschaft zu jedem guten Werk legt. Der Gläubige ist berufen, nicht nur praktisch ein Gerechter zu sein, sondern ein guter Mensch. So ging unser Herr auf der Erde umher, um Gutes zu tun. Wenn wir nicht, wie Er, die, die vom Teufel überwältigt sind, heilen können, werden wir hier ermahnt, zu jedem guten Werk bereit zu sein. Es ist ein echtes und wirksames Zeugnis für Christus, wenn die Wahrheit festgehalten und bekannt wird, zusammen mit der Aktivität im Guten: Wenn Christus nicht anerkannt wird, fehlt das göttliche Licht, das leuchten sollte. Alles wendet sich dann der Verherrlichung des Menschen zu, nicht Gott, unserem Vater.
Doch auch hier möchte er, dass sie darauf bedacht sind, „niemand zu lästern“. Das ist keine leichte Sache in einer Welt, in der das Böse von allen Seiten im Überfluss vorhanden ist und in der so viel davon den Kindern Gottes in Wort und Tat vorgeworfen wird; aber Gottes Wort an uns ist klar: „niemand zu lästern“. Es mag eine Pflicht geben, für ein Gott wohlgefälliges Ziel Zeugnis abzulegen. Lasst uns darauf achten, dass wir nur dann angeklagt werden können, wenn wir so reden. Kein Teil der Schrift ist klarer als dieser Brief für eine strenge Zurechtweisung, die nötig ist. Das ist kein böses Reden, sondern von Gott und für Gott.
Außerdem ist es für die, die in der Wahrheit stehen, sehr schwer, nicht „streitsüchtig“ gegenüber denen zu erscheinen, die sie leugnen und sie für unerreichbar oder gleichgültig halten. Mit Christus vor Augen ist es jedoch der klare Platz des Christen, wirklich fern von jeglichem Streit zu sein, obwohl die Nächstenliebe verlangt, dass wir unser Zeugnis für die Wahrheit ablegen und immer treu mit unseren Brüdern umgehen. Wenn schon der Jude keine Sünde in seinem Nächsten zulassen sollte, wie viel mehr soll der Christ in der Liebe wachsam sein und die Wahrheit und in Liebe reden! Das kann nur sein, wenn wir Gott vor Augen haben, wie Er in Christus gesehen wird. Dann ist die Liebe da und nicht die Streitsucht.
Außerdem sind wir aufgerufen, „alle Sanftmut zu erweisen“. Auch hier hat uns Christus ein Beispiel hinterlassen, dem wir in seinen Schritten folgen sollen. Keiner hat Heuchelei und Selbstgerechtigkeit so schonungslos entlarvt. Doch keiner ist so zärtlich und rücksichtsvoll sogar gegenüber den größten Fehlern. Er war sanftmütig und von Herzen demütig und ruft die Seinen auf, sein Joch auf sich zu nehmen und von Ihm zu lernen, denn das ist der Weg, Ruhe für die Seelen zu finden, wo so vieles dazu neigt, sie zu zerren und zu betrüben (Mt 11,28).
Zuletzt folgt: „alle Sanftmut zu erweisen gegen alle Menschen“. Welch ein Selbstgericht ist hier gefordert! Welch ein beständiges Wandeln im Glauben und nicht im Schauen! Nur Christus, wenn Er vor den Augen des Glaubens steht, kann solch einen Wandel hervorrufen oder erhalten, wie auch immer die Umstände sein mögen. Es ist nicht nur Sanftmut im brüderlichen Umgang, sondern ausdrücklich „gegen alle Menschen“ und in jeder Form der Sanftmut. Wer kann das bewirken? Wahrlich, sie ist „von Gott“: Keine andere Quelle nützt, und wie sie durch seinen Geist ist, so auch und nur mit Christus vor den Augen des Herzens.
Der Apostel zeichnet nun ein sehr düsteres, aber wahres und lebensnahes Bild, nicht nur von dem, was der Mensch hier oder in der Welt ist, sondern von dem, was wir selbst einst in unserem natürlichen Zustand waren. Es ist offensichtlich, dass damit einerseits die Pflicht zur Unterordnung unter die Autorität und andererseits der Geist des milden und sanftmütigen Verhaltens gegenüber allen Menschen in allen, die den Namen des Herrn tragen, gestärkt werden sollte. Die Gnade sollte sich durchsetzen und sich überall zeigen. Das war bei weitem nicht immer der Fall unter den Kindern Gottes. Und das ist kein Wunder. Sie sind größtenteils in der irrigen Annahme erzogen worden, dass das Gesetz die Lebensregel für den Christen sei. Die Folge davon war, dass die so gebildeten Christen den Geist irdischer Rechtschaffenheit viel mehr zum Ausdruck brachten als den der himmlischen Gnade.
Notwendigerweise werden wir im Maß unserer Rechtschaffenheit wirklich durch das charakterisiert, was unsere Gedanken und Zuneigungen beherrscht. Wenn dort Irrtum herrscht, weil die Gemeinschaft fehlt, wird der Wandel entsprechend vom Willen Gottes abweichen. Da Christus unser Leben ist, auferstanden und im Himmel, so ist sein Wort in seiner ganzen Fülle die Regel unseres Lebens, so wie der Geist die Kraft ist, die uns als seine Zeugen zur Ehre Gottes wirkt und formt.
Keine Lebensregel ist falscher als die, dass das praktische Leben unabhängig vom Glaubensbekenntnis ist. Christus ist im geschriebenen Wort als die wahre Regel des christlichen Lebens dargelegt; und wie Er selbst gewandelt ist, so gebraucht Er das ganze Wort Gottes in der Kraft des Geistes, um in uns sowohl Einsicht als auch göttliche Beweggründe zu schaffen, die aus seiner Liebe fließen. Die Gnade ist also der vorherrschende Charakter des Christen, das direkte und wesentliche Gegenteil des Gesetzes; und doch regiert die Gnade in jedem Sinn durch die Gerechtigkeit. Zweifellos prüfte Gott Israel in alter Zeit durch sein Gesetz, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut; aber der Zweck war, die Unmöglichkeit zu beweisen, dass etwas Gutes im Menschen ist oder aus dem Menschen herausgeholt werden kann. Das muss der Gläubige lernen, und er lernt es allein durch Erfahrung. Auf diesem Grund kann nichts als die Gnade Gottes in Christus von Schuld und Sünde, wie auch von deren Folgen, befreien; aber die praktische Auswirkung ist, dass die „Rechtsforderung (τὸ δικαίωμα) des Gesetzes erfüllt würde in uns, die nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln“ (Röm 8,4). Die, die theoretische Überlegungen über das Gesetz anstellen, beginnen mit wirkungslosen Kämpfen und enden in Enttäuschung oder in Verblendung.