Behandelter Abschnitt 1Thes 5,12-13
Der Apostel wendet sich danach einem Bedürfnis zu, das unter den Gläubigen selten, wenn überhaupt, zur Unzeit kommt, selbst dort, wo der Fluss des Glaubens und der Liebe noch frisch und stark ist: die gebührende Anerkennung derer, die sich mühen und die Führung auf Seiten ihrer Brüder übernehmen.
Wir bitten euch aber, Brüder, dass ihr die erkennt, die unter euch arbeiten und euch vorstehen im Herrn und euch zurechtweisen, und dass ihr sie über die Maßen in Liebe achtet, um ihres Werkes willen. Seid in Frieden untereinander (5,12.13).
Es wird allgemein angenommen, dass die Personen, auf die diese Ausdrücke der geistlichen Arbeit, der Ermahnung oder des Führens hinweisen, Bischöfe oder Presbyter waren. Aber das würde die besondere Belehrung und den Wert dessen, was hier gemeint wird, zunichtemachen; denn es ist eine Verkennung der apostolischen Ordnung, wie sie in der Schrift dargestellt wird, wenn man davon ausgeht, dass irgendjemand in der Versammlung in Thessalonich während eines so kurzen Aufenthalts wie des ersten Besuchs unter Bekehrten, die alle noch notwendigerweise Neulinge in den Dingen Gottes waren, wie klug und eifrig und vielversprechend sie auch sein mochten, zum Amt des Aufsehers ernannt wurden. Der aufmerksame Leser von Apostelgeschichte 13 und 14 braucht kein Argument, um zu beweisen, dass die Apostel bei einem zweiten Besuch, es sei denn, der erste war von langer Dauer, Älteste für die Jünger in jeder Versammlung ernannten oder auswählten. Die Weisheit dieses Vorgehens, wenn nicht sogar die Notwendigkeit dafür, wird für jeden nüchternen Verstand, der darüber nachdenkt, offensichtlich sein, selbst wenn wir nicht das ausdrückliche Verbot für Timotheus hätten, dass solche Personen ein solches Amt ausüben dürfen (1Tim 3,6). Denn sicherlich wäre es, was auch immer die Päpste tun mögen, äußerst hart anzunehmen, dass der Apostel bei seiner eigenen Wahl der Aufseher den Grundsatz vernachlässigt hat, den er seinem wahren Sohn im Glauben so ernsthaft vorhält.
Zweifellos sollten die Ältesten oder Aufseher geehrt werden, besonders die, die sich in Wort und Lehre bemühen (1Tim 5,17). Aber die wichtige Lektion, die in den anderen von uns betrachteten Schriftstellen vermittelt wird, ist, dass, bevor es eine solche offizielle Beziehung gab, diejenigen, die unter den Gläubigen arbeiteten, ihnen im Herrn vorangingen und die Gläubigen ermahnten, vom Apostel als berechtigt angesehen werden, nicht nur in ihrer Arbeit anerkannt zu werden, sondern dafür auch in Liebe über alle Maßen geachtet zu werden. Sehr wahrscheinlich waren sie genau die Personen, die ein Apostel oder ein apostolischer Beauftragter wie Titus als Aufseher einsetzen konnte. Aber in der Zwischenzeit und unabhängig davon wurde damit ein äußerst wichtiger Grundsatz aufgestellt, der für die Gläubigen selbst ebenso heilsam war wie für diejenigen, die noch keinen äußeren Titel hatten: nichts anderes als eine geistliche Gabe, die im Glauben und in der Liebe ausgeübt wurde, mit dem einfältigen Wunsch nach der Herrlichkeit des Herrn in dem gesunden, glücklichen und heiligen Zustand ihrer Geschwister.
Auch ist dieser Zustand der Dinge unter den Thessalonichern keineswegs ein Ausnahmefall; an anderen Orten können wir Ähnliches sehen. So finden wir bei den Gläubigen in Rom, wo sich (soweit die Schrift lehrt) noch kein Apostel aufgehalten hatte, Gaben, zu deren Ausübung sie im Brief ermutigt werden, nämlich zu lehren, zu ermahnen, zu leiten oder zu regieren und so weiter. Apostolische Einsetzung hatten sie noch nicht; dementsprechend hören wir von keinen solchen Amtsträgern wie Aufsehern oder Dienern. Aber es ist ein Irrtum, daraus zu schließen, dass es keine anderen Vorsteher gab oder geben konnte; denn Römer 12 ermahnt solche Personen ausdrücklich, ihre Gabe auszuüben, auch wenn sie keine äußere Berufung hatten.
Ähnlich finden wir in den Briefen an die Versammlung in Korinth keine Spur von Ältesten – eher der Beweis, dass es sie dort noch nicht gab. Denn wenn es sie gab, wäre es dann nicht seltsam, sie zu ignorieren, wenn es keine gottgefällige Zucht gab, wie wir in 1. Korinther 5 und 6 sehen, und wenn eine solche Unordnung herrschte, dass dort das Abendmahl entehrt wurde (1Kor 11), ganz zu schweigen von der Verwirrung in der Versammlung (1Kor 14) und der falschen Lehre, die in ihrer Mitte aufkeimte (1Kor 15)? Wenn es keine Ältesten gab, kann man verstehen, dass diese Übel direkt vor die Tür der Versammlung lauerten, ohne Bezug auf irgendwelche Personen, die zur Leitung berufen sind. Ihr Fehlen lässt sich leicht erklären: Die Versammlung in Korinth war noch jung, wenn auch kräftig. Es war üblich, bei einem späteren Besuch diejenigen unter den Brüdern zu ernennen, in denen der Herr den Aposteln die passenden Eigenschaften für das Amt eines Aufsehers zu erkennen gab. Doch inzwischen fehlte es nicht an denen, die sich wie das Haus des Stephanas dem Dienst an den Gläubigen verordneten (1Kor 16,15.16); und der Apostel gebietet jedem, sich unterzuordnen, der sich dem Werk und der Arbeit anschlossen.
In Ephesus gab es, wie wir aus Apostelgeschichte 20 wissen, Älteste oder Aufseher; aber das hinderte nicht das freie Handeln derer, die vom Herrn begabt waren, ob Hirten oder andere (Eph 4), die vielleicht nicht die örtliche Verantwortung von Ältesten hatten. Die gleiche Bemerkung gilt für Philippi, wo ausdrücklich Aufseher und Diakone erwähnt werden, aber da es die Ausübung von Gaben in der Lehre oder im Führen geben konnte und zweifellos auch gab, bevor solche Amtsträger erschienen, so gab es in ihrer Gegenwart nichts, was die Freiheit des Geistes in der Versammlung hätte behindern können (vgl. auch Kol 2,19 mit 4,17 und Heb 13,7.17.24). 1. Petrus 4,11 veranschaulicht und bestätigt denselben Grundsatz: Das ist ein goldener Grundsatz für uns jetzt, wo wir keine apostolischen Besuche haben können oder die damalige ordnungsgemäße Einsetzung zu örtlichen Aufgaben, zu der sie befugt waren. Aber wir dürfen und sollen umso eifriger alles besitzen, was der Herr zur Ordnung und Auferbauung der Versammlung gibt, wie wir hören, wie die Apostel die Gläubigen an so vielen Orten ermahnen, es zu tun, wo es keine Ältesten gab, und sogar dort, wo und wann sie es waren.
Man könnte fragen, wenn es noch keine offizielle Ernennung der Ältesten in Thessalonich gab, woher sollten die Gläubigen dann die richtigen Personen erkennen, die sie als solche anerkennen, ehren und lieben sollten? Die Antwort ist, dass der Geist Gottes dies geben würde, wenn auch nicht mit der Einsicht und sicherlich nicht mit der Autorität eines Apostels, aber durchaus genug, um die Gläubigen für alle praktischen Zwecke zu führen. Deshalb sagt der Apostel hier: „Wir bitten euch aber, Brüder, dass ihr die erkennt, die unter euch arbeiten (V. 12). Hier war die Zusicherung des Wortes; der Heilige Geist würde den Rest tun, wenn nicht Eigenwille und Stolz oder Neid hinderlich wären. Sogar so viel Dienst der hingebungsvollen Arbeit und des bescheidenen Führens und der treuen Ermahnung würde sich im Gewissen bemerkbar machen, wie es dem Herzen noch leichter fallen würde, wenn die Gläubigen mit Gott wandelten.
Doch das ist so neu unter den Christen, dass sogar fromme Gelehrte sehr große Schwierigkeiten haben, die Bedeutung von εἰδέυαι zu entdecken, während hier die Kraft in seinem ständigen Gebrauch liegt. Wenn die Gläubigen einen Bruder erkennen können, um ihn zu lieben, so können sie auch die erkennen, die Gott zu ihrem Segen und ihrer Führung gebraucht, und wenn sie vor Ihm rechtschaffen sind, werden sie sie umso mehr achten, weil sie nicht über das Falsche lästern, auch wenn es im Augenblick schmerzlich ist. „Wenn nun dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein“ (Mt 6,23). Man kann nicht lieben, wie hier ermahnt wird, wenn man die Personen nicht kennt, so wie es unmöglich ist, brüderliche Liebe zu leisten, wenn wir nicht wissen, wer unsere Brüder sind.
Frieden unter uns zu haben, ist von großer Bedeutung für ein solches Erkennen, so wie das Erkennen zum Frieden beiträgt. So folgt es auch hier.