Aber angenommen, es gibt etwas in anderen, über das man nicht hinwegsehen kann, weil es dem Willen Gottes widerspricht, wie sollen wir dann handeln? Zweifellos sollte es ein passendes Wort der Zurechtweisung geben, wenn es nötig ist; aber es soll auch „Langmut“ geben; und wenn an irgendeiner Stelle Langmut besonders gefordert ist, dann dort, wo das Böse uns selbst betrifft. Wir sollen das Böse gegenüber dem Herrn nicht dulden; aber wo immer es das ist, was uns verletzt, gilt die Aufforderung: mit Langmut, einander ertragend in Liebe, euch befleißigend, die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Band des Friedens (4,3).
Hier ist es nicht nur die demütige Gnade und Geduld, die der Christ zu pflegen hat, sondern der geistliche Fleiß, mit dem er aufgerufen ist, das Kostbarste und das, was Gott am meisten kennzeichnet, hier auf der Erde festzuhalten.
Wie vollkommen ist die Heilige Schrift! Sie sagt nicht: „die Einheit des Leibes“, obwohl sie diese einschließt. Hätte es aber geheißen: „die Einheit des Leibes“, dann hätten die Menschen vielleicht eine äußere Institution aufgebaut (was sie ja auch getan haben) und es zu einer Frage von Leben und Tod gemacht, sich nicht davon zu trennen. Aber was der Heilige Geist denen einschärft, die Christus angehören, ist, „sich zu befleißigen“ – mit allem erforderlichen Ernst –, nicht die Einheit des Geistes herzustellen, sondern sie „zu bewahren.“ Sie ist etwas, das der Geist gemacht hat und das wir zu bewahren oder zu beachten haben. Es geht nicht nur darum, dass wir Empfindungen der Liebe zu unseren Mitchristen haben sollen. Das mag es auf tausend verschiedene Art und Weise geben; aber wenn wir es noch so gut beachten, wäre das nicht „die Einheit des Geistes bewahren“. Was ist dann gemeint? Die Einheit des Heiligen Geistes, die bereits gebildet ist, umfasst alle Glieder Christi. Und wo sind die Glieder Christi zu finden? In einem Sinn, Gott sei Dank, überall: in einem anderen, leider, irgendwo! Wo immer Christus gepredigt wird und Menschen Ihn angenommen haben, da sind seine Glieder. Und was haben wir zu tun? Eifrig die Einheit zu bewahren, die alle umfasst, die Christus angehören, und zwar „im Band des Friedens“. Hier wird von Frieden gesprochen, nicht so sehr für uns selbst mit Gott, sondern eher für den Genuss und die Förderung der praktischen Einheit unter den Heiligen Gottes. Das Fleisch ist ängstlich und unruhig: Eine friedvolle Gesinnung ist die Frucht des Heiligen Geistes und trägt mächtig dazu bei, die Herzen in der Praxis zusammenzubinden. Gottes Geist ist nicht damit beschäftigt, nur richtige Meinungen über gewisse Punkte zu geben: Seine Ziele sind tiefer. Er beugt die Gläubigen vor Christus und erhöht Ihn in ihren Augen. Jemanden aus der Dunkelheit ins Licht zu bringen oder aus einem schwachen in ein tieferes Licht, ist sicherlich wertvoll: Das ist es, womit Gott selbst jetzt beschäftigt ist. Wir tun gut daran, während wir unsere Freiheit für Christus festhalten, die Schranken, die Menschen aufgerichtet haben, nicht zuzulassen, sondern sie als null und nichtig zu behandeln.
Oft wird gesagt, dass dann doch jeder Mensch ein Recht auf ein eigenes Urteil haben kann. Das verwerfe ich völlig. Kein Mensch hat ein Recht auf eine Meinung in göttlichen Dingen; Gott ist allein und absolut berechtigt, seine Meinung mitzuteilen. Was wir tun müssen: aus dem Weg treten, damit das Licht Gottes in die Herzen seiner Kinder leuchten kann. Die Menschen verursachen in ihrer Selbstherrlichkeit nur, dass ihre dunklen Schatten auf sie selbst und auf andere fallen: Sie behindern so die Mitteilung der göttlichen Wahrheit, anstatt zu helfen, dass sie verbreitet wird. Wenn aber der Wunsch des Dieners Christi ist, dass Gott seine Kinder weiterführen und stärken möge, ist der Wunsch dann vergeblich? Nein, niemals. In dem Moment, in dem man beginnt, Menschen um eine bestimmte Person, eine bestimmte Ansicht oder ein bestimmtes System zu versammeln, bildet man nur eine Sekte. Denn das ist eine Partei, die zwar viele Glieder Christi enthalten mag, die aber ihre Grundlage der Vereinigung nicht auf Christus, sondern auf Punkte der Verschiedenheit gründet, die so zu einem besonderen Abzeichen und Mittel der Trennung zwischen den Kindern Gottes werden. Die Versammlung zur Zeit der Apostel hat nie den Glauben eines Bekehrten in Bezug auf eine Einrichtung oder eine Meinungsverschiedenheit in Frage gestellt – sie hat nie gefragt: „Glaubst du an das Episkopat, an den Voluntarismus oder gar an die Versammlung Gottes? Die wahre und gottesfürchtige Frage war und ist immer: Glaubst du an den Christus Gottes? Es ist wahr, dass in den frühen Tagen, wenn jemand Christus bekannte, er von Juden und Heiden verstoßen wurde; er wurde das Ziel der Feindschaft für die ganze Welt; und das führte damals dazu, dass Menschen sich erst dann zu Christus bekannten, wenn sie wirklich an Ihn glaubten. Wenn aber ein Mensch den Heiligen Geist empfangen hatte, und zwar durch das Hören und den Glauben, war er sogleich ein Glied am Leib Christi und wurde so anerkannt.
Warum sollte das jetzt nicht gelten? Bin ich nicht zufrieden mit der Weisheit Gottes? Würde ich dann sein Wort ergänzen, oder ohne oder gegen es handeln? Es ist keine Sekte, wenn du nach dem Willen Gottes handelst; es ist eine Sekte, wenn du davon abweichst. Die Frage ist also: Was ist die Absicht Gottes mit seiner Versammlung? Wie möchte Er, dass wir uns versammeln? Bin ich bereit, alle echten Christen aufzunehmen – Personen, von denen alle glauben, dass sie bekehrt sind? Zweifellos gibt es so etwas wie einen Ausschluss, wenn sie sich nicht als solche erweisen; denn es gibt keinen möglichen Fall des Bösen, außer dem, auf den das Wort Gottes zutrifft, so dass es nicht die geringste Notwendigkeit für irgendwelche Regeln oder Vorschriften von Menschen gibt. Wenn die Menschen nicht geistlich sind, werden sie die Einheit des Geistes nicht lange bewahren. Sie werden bald reichlich Grund für Schuldzuweisungen finden. Diejenigen aber, die fest und sicher an Christus als dem Zentrum der Einheit des Geistes festhalten, sind keine Sekte, also können sie auch niemals eine werden, was auch immer die Parteiung, Spaltungen, falschen Lehren ihrer Gegner sein mögen. Es ist sehr betrüblich, dass irgendwelche Gläubigen im Selbstgericht weggehen, aber es ist umso gesegneter für die, die trotz allem Glauben und Geduld und Gnade haben, um zu bleiben. Der Apostel sagte, als er an die Korinther schrieb: „Denn es müssen auch Parteiungen unter euch sein, damit die Bewährten unter euch offenbar werden“ (1Kor 11,19). Das waren die Männer, die damals dem Herrn mit ganzer Entschiedenheit des Herzens anhingen. Möge dasselbe auch für uns jetzt gelten! Ich bestreite, dass das Wort Gottes wirkungslos ist oder dass ich jetzt in irgendeiner Weise mehr als damals an die Sünde gebunden bin. Die Einheit des Geistes, die die Epheser zu bewahren hatten, ist die Einheit, die Gott von allen seinen Kindern erwartet. Wenn das Wort mich durch den Heiligen Geist zu neuem Leben gebracht hat; wenn ich dadurch meinen Erlöser und meinen Vater kenne; wenn ich es als das Mittel anerkenne, das Gott benutzt, um mich von Tag zu Tag zu reinigen, soll ich dann sagen, dass ich seinem Wort nicht folgen muss als ein Glied des Leibes Christi in der Versammlung Gottes, wo Er im Geist wohnt? Sicherlich, wenn ich seine göttliche Autorität besitze, wehe mir, wenn ich nicht danach strebe, Ihm in allen Dingen zu folgen. Gott ruft uns auf, uns zu befleißigen, „die Einheit des Geistes zu bewahren im Band des Friedens“. Es geht nicht um die Einheit unserer Geister, sondern um die Einheit des Geistes.
Wenn wir darüber nachdenken, dass es der Heilige Geist ist, der diese Einheit bildet, ist das nicht ein erhebender Gedanke? Sollten wir uns nicht vor allem hüten, was Ihn betrüben könnte? Unser Herr legte besonderen Wert auf das, was den Heiligen Geist betraf; und so sollten auch wir es tun, wenn wir weise sind. Wenn der Heilige Geist zu diesem Zweck hier auf der Erde ist, wird Er zu einer göttlichen Prüfung für die Gläubigen, ob sie bereit sind, Ihn zu ehren oder nicht. Aber man könnte sagen, wenn man alle Christen aufnimmt, ohne von ihnen ein Unterpfand für die Zukunft zu verlangen, kann man stillschweigend, wenn nicht ausdrücklich, einen Sozinianer2 oder Arianer3 aufnehmen. Aber ich erkenne solche überhaupt nicht als Christen an: Du etwa? Worauf ist die Versammlung gegründet? „Wer sagt ihr, dass ich sei?“, sagt unser Herr in demselben Kapitel, in dem Er zum ersten Mal ankündigt, dass Er die Versammlung bauen wird. „Du bist der Christus“, sagte ein Jünger, „der Sohn des lebendigen Gottes.“ Und was antwortet unser Herr? „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Versammlung bauen.“ Daher sollte mit den Menschen auf das schärfste und strengste verfahren werden, ob sie in Tat und Wahrheit an die göttliche Herrlichkeit des Herrn Jesus Christus glauben und sie bekennen. Der kleinste erlaubte Kompromiss in dieser Hinsicht wäre ein Grund, an einem solchen Menschen zu zweifeln. Sie haben keinen Grund, den als Christen aufzunehmen, der an der Reinheit, Herrlichkeit oder Integrität der Person Christi rüttelt. Die Versammlung ist auf Christus, den Sohn Gottes, gegründet: Wenn dieser Felsen erschüttert wird, ist alles verloren. „Wenn die Grundpfeiler umgerissen werden, was tut dann der Gerechte?“ (Ps 11,3). Christus anzutasten, bedeutet, die Grundlage anzutasten, auf der die Versammlung Gottes ruht.
Wo aber jemand Christus wirklich und wahrhaftig bekennt, Ihn so bekennt, dass er sich deinem Gewissen als göttlich empfiehlt, nimm ihn auf; denn Gott hat ihn aufgenommen. Er mag Baptist oder Kinder-Täufer sein: das macht nichts, nimm ihn auf. Wenn er in Sünde lebt, muss ich dann sagen, dass Christus und Trunkenheit und so weiter nicht zusammengehen können? Der Glaube an den Sohn Gottes ist unvereinbar mit dem Wandel in der Finsternis. Wie sehr ein Mensch auch von Christus reden mag, wenn er mit diesem Bekenntnis eine Missachtung der moralischen Herrlichkeit Gottes verbindet, beweist er dadurch, dass er nicht aus Gott geboren ist. Simon der Zauberer dachte, dass die Gabe Gottes mit Geld zu erkaufen sei. Das war ein Irrtum, dem er anhing, werden einige sagen. Ja, aber dieser Fehler war lebenswichtig und bewies, dass er kein Leben aus Gott haben konnte. Und deshalb wurde er, obwohl er getauft war, nicht als ein Glied des Leibes Christi aufgenommen. Wir haben keinen Grund, anzunehmen, dass er je das Brot gebrochen hat. Die Taufe wäre angesichts solcher Umstände kein Grund, warum die Versammlung ihn aufnehmen sollte, von dem sie nicht glaubt, dass er ein Gläubiger ist.
Dies zeigt in gewissem Maß den Charakter oder die Grenzen der Einheit des Geistes. Denn der Heilige Geist ruft zwar die Menschen und befähigt sie, sich zu Christus zu bekennen, lässt sie aber niemals im Sumpf ihrer eigenen Schlechtigkeit wandeln. Wenn ein Gläubiger in eine Sünde eines bestimmten Charakters fällt, sollte er ausgeschlossen werden. Was nur persönlich ist, sollte auf eine private Weise behandelt werden; es wäre ungeheuerlich, alle Versäumnisse auf dieselbe Grundlage zu stellen. Das erste und tiefste Empfinden sollte es sein, die Person wiederherzustellen, um Gott zu rechtfertigen. Die Versammlung ist ein Zeuge der göttlichen Gnade und muss sich um den Segen der Unbekehrten und die Wiederherstellung von Christen, die sich verirrt haben, bemühen. Sind wir bestrebt, die Einheit des Geistes zu bewahren? Wie kommt es, dass sich die Christen zu verschiedenen Vereinigungen zusammenschließen? Wenn das Wort Gottes das ist, was sie um jeden Preis zu verwirklichen suchen, warum brauchen sie dann menschliche Regeln und moderne Erfindungen? Wenn Gott eine Regel gibt, so will ich keine andere haben, sondern die seine in ihrer ganzen Kraft, um dem Gewissen des Menschen die Wahrheit vor Augen zu führen und zu sagen: Das ist Gottes Wille. Ist es gut oder weise, dies aufzugeben? Gott hat ein Wort geschrieben, das sich auf alles Moralische bezieht, nach dem Er seine Kinder wandeln lassen wollte: Tun wir das? Einige mögen fragen: Seid ihr denn vollkommen? Ich antworte: Wir bemühen uns, die Einheit des Geistes in Frieden festzuhalten, wir bemühen uns aufrichtig, uns dem Willen Gottes unterzuordnen: Tut ihr das auch? Das ist die Hauptfrage für jedes Kind Gottes – bemühe ich mich, die Einheit des Geistes zu bewahren? Und tu ich es auf Gottes Weise oder nach meiner eigenen Vorstellung? Habe ich mich hingegeben, um seinen Willen zu tun? Unsere Aufgabe ist es, Ihm gegenüber pflichtbewusst zu sein. Wir haben unsere Anweisungen, und unsere Verantwortung ist es, sie auszuführen, unterworfen dem, dem wir angehören und dem wir zu dienen verpflichtet sind.
2 Die Sozinianer, nach den italienischen Humanisten L. und F. Sozzini benannt, lehnen die Dreieinheit Gottes ab.↩︎
3 Die Arianer lehnen ebenfalls die Dreieinheit Gottes ab.↩︎