Der Apostel schließt diesen Teil seines Themas mit einem weiteren Wort ab, das paradox erscheinen mag, wenn man es mit dem zweiten Vers vergleicht. denn jeder wird seine eigene Last tragen (6,5).
In der Tat haben wir hier die beiden großen praktischen Prinzipien des Christentums: Das eine ist aktive, tatkräftige Liebe, die die Lasten anderer trägt, und das andere ist die persönliche Verantwortung: „denn jeder wird seine eigene Last tragen.“
Beachten wir, dass hier nicht von der Erlösung die Rede ist. Wenn ein Mensch seine eigene Last in der Frage der Rechtfertigung vor Gott tragen müsste, würde das jede Hoffnung zerstören. „Und geh nicht ins Gericht mit deinem Knecht! Denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht“, sagt der Psalmist (Ps 143,2). Wenn Gott in dieser Frage mit mir ins Gericht geht, bin ich verloren. Es geht hier nicht um einen sündigen Menschen, sondern um einen Knecht Gottes. Es ist ein bekehrter oder wiedergeborener Mensch. Deshalb bringt unser Herr in der Frage, ob ein Mensch nicht seinem eigenen Tod überlassen oder durch die Kraft des Lebens Christi erlöst werden soll, ein ganz anderes Prinzip zum Ausdruck. Er sagt: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod in das Leben übergegangen“ (Joh 5,24). Gericht ist die einzig wahre Bedeutung des Wortes in diesem Vers, nicht Verurteilung. Das, was an anderer Stelle richtig mit „Verurteilung“ übersetzt wird, ist etwas völlig anderes als das hier. So ist der Ausspruch, dass es „keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind“ gibt, überhaupt nicht dasselbe Wort. Aber an manchen Stellen, wo unser Herr und der Heilige Geist Gericht sagen, haben die Übersetzer es gewagt, vom Wort Gottes abzuweichen und Verdammnis zu verwenden.
Dies ist auch nicht nur auf eine Stelle beschränkt. In der bemerkenswerten Offenbarung über das Abendmahl in 1. Korinther 11 kommt ein ganz ähnlicher Fehler vor. Die Übersetzer haben ein eigenes Wort und eine eigene Idee eingeführt, die eindeutig falsch sind: Sie haben es gewagt zu sagen, dass „wer unwürdig isst und trinkt, isst und trinkt sich selbst Verdammnis, indem er den Leib nicht unterscheidet“ (1Kor 11,29). Das ist nicht wahr. Gott sagt: „Er isst und trinkt sich selbst Gericht“. Es gibt keinen kompetenten Richter, keinen Christen, der mit der Sprache des Heiligen Geistes vertraut ist, der das leugnen würde, wenn er die Beweise fair prüfen würde. Die menschliche Tradition erklärt die Neigung der Menschen, einfache Prinzipien der Wahrheit beiseitezuschieben. Denn es ist nicht so sehr eine Frage, die aus kritischen Gründen zu entscheiden ist; sondern eine solche Abänderung widerspricht dem ganzen Ziel des Heiligen Geistes in dem Abschnitt. Was sagt der Apostel den Korinthern? Ihr habt das Mahl des Herrn unwürdig behandelt, indem ihr es zu einer gewöhnlichen Sache gemacht habt. Einige von euch sind so weit gegangen, dass sie sich selbst in offener, grober Sünde vergessen haben. Das Mahl des Herrn hat eine besondere Feierlichkeit wie der Tag des Herrn. Wer behauptet, dass der Tag des Herrn der Sabbat ist und dass das Abendmahl einer jüdischen Verordnung gleicht, weiß nicht, was die beiden charakteristischsten christlichen Einrichtungen bedeuten. Der Tag des Herrn unterscheidet sich von jedem anderen Tag, dem Tag der Gnade und der Auferstehung (der Sabbat ist das Zeichen der Schöpfung und des Gesetzes). So ist es auch mit dem Abendmahl: In ihm stellt der Herr dem Gläubigen seine vollkommene Erlösung vor Augen, das Blut und den gebrochenen Leib Christi, und gibt ihm das Zeugnis, dass er frei ist von aller Verdammnis. Ihr aber, sagt der Apostel, die ihr gegessen und getrunken habt wie bei einem gewöhnlichen Mahl, ihr habt unwürdig teilgenommen. Denn ein bekehrter Mensch mag unwürdig essen und trinken. Die Gläubigen in Korinth nahmen es auf die leichte Schulter, und der Teufel verschaffte sich einen Vorteil über sie, und einige hatten sich sogar betrunken. Das, sagt der Apostel, war das Essen und Trinken des Gerichts für sie selbst, nicht das Mahl des Herrn. Die Folge war, dass einige von ihnen krank wurden und andere schon entschlafen waren. Er lässt sie wissen, dass der Herr sie richtete und seine Hand auf sie legte. Aber das war zweifellos Gericht, nicht Verdammnis.
Und was war das Ziel des Herrn bei all dem? „Damit wir nicht mit der Welt verurteilt werden“ ‒ „Wenn wir uns aber selbst beurteilten, so würden wir nicht gerichtet. Wenn wir aber gerichtet werden, so werden wir vom Herrn gezüchtigt, damit wir nicht mit der Welt verurteilt werden“ (1Kor 11.31.32). Es heißt, dass wir nicht verdammt werden sollen; während die gewöhnliche Übersetzung es so darstellt, dass sie genau diesem Verhängnis ausgesetzt waren. Lesen wir das Wort als „Gericht“, und wir werden feststellen, dass ein völlig neues Licht auf den Abschnitt geworfen wird. Wenn wir das falsche Wort einführen, stören wir das Gleichgewicht, das nicht wiederhergestellt werden kann. Doch sobald wir zum wahren Sinn zurückkehren, der am Rand angegeben ist, wird alles klar. Was vorher dunkel war und uns beunruhigte, sehen wir jetzt als einfach und ernst, heilig und in der Tat tröstlich.
Wenn du das Gedächtnis an die Leiden des Herrn leichtfertig behandelt hast, bist du in Gefahr, so unter seine Hand zu kommen. Einige waren sogar weggenommen worden; aber es heißt, „damit wir nicht mit der Welt verurteilt werden“. Die Andeutung ist, dass sie so ungezogene Kinder waren, dass sie nicht länger in dieser Welt bleiben konnten. Deshalb legte Er die Krankheit auf sie und nahm sie durch den Tod weg.
Die Bedeutung des Wortes κριμα (verurteilt) in 1. Korinther 11 ist eng verwandt mit κρισις (Gericht) in Johannes 5,24. Was unser Herr im Evangelium lehrt, ist, dass die Menschen entweder das eine oder das andere von Christus haben müssen – entweder das Leben oder das Gericht. Der Hauptunterschied besteht darin, dass in Johannes 5 das Gericht der endgültige und ewige Akt des Richtens ist, während 1. Korinther 11 von einem züchtigenden Prozess in dieser Welt spricht. Aber das richtige Wort ist „Gericht“, nicht „Verdammnis“. Unser Herr zeigt sich als der Geber des Lebens in Gemeinschaft mit dem Vater und als der alleinige Vollstrecker des Gerichts. Er gibt jetzt das Leben: Wer an Ihn glaubt, hat das Leben; wer Ihn ablehnt, wird ins Gericht kommen. Denn kein Mensch kann sowohl Gegenstand des Lebens als auch des Gerichts sein. Der Grund, warum die Menschen ins Gericht kommen werden, ist, weil sie den Sohn Gottes und das ewige Leben in Ihm ablehnen. „Wer den Sohn hat, hat das Leben“ (1Joh 5,12). Das ist der Punkt der Worte unseres Herrn.
Du könntest fragen: „Wie kann man dieses ewige Leben bekommen? Gericht das durch Gehorsam oder durch eine Verordnung? Weder das eine noch das andere. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod in das Leben übergegangen“ (Joh 5,24). Wer so hört und glaubt, weiß, dass es Gott um die Menschen geht und dass Er sie durch den Herrn Jesus Christus glücklich und ohne Sünde sehen möchte. Doch weiter heißt es: Er „kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod in das Leben übergegangen“. Genauso steht es in Hebräer 9,27: „Und ebenso wie es den Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht.“ Es ist dasselbe Wort. Das ist der Anteil des Menschen, dem er nicht entkommen kann. Der Mensch als solcher muss sterben, und er muss gerichtet werden. Aber merke, er ist es, der als bloßer natürlicher Mensch lebt und stirbt. Es wird nicht gesagt, dass es für den Christen so bestimmt ist. Im Gegenteil, es gibt viele Christen, die niemals sterben werden; und kein Gläubiger wird jemals ewig gerichtet werden.
Ich muss das, was ich sage, durch andere Stellen beweisen. „Denn der Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der Posaune Gottes vom Himmel herabkommen, und die Toten in Christus werden zuerst auferstehen; danach werden wir, die Lebenden, die übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und so werden wir allezeit bei dem Herrn sein“ (1Thes 4,16.17). Das heißt, die lebenden Gläubigen werden mit den Toten, die bereits auferstanden sind, entrückt. Aber nimm eine andere Schriftstelle dazu. „Wir werden zwar nicht alle entschlafen“ (1Kor 15,51). Die Menschen müssen alle sterben, aber wir „werden zwar nicht alle entschlafen“. Wir werden nicht unbedingt alle sterben, „wir werden aber alle verwandelt werden“. Ob sie nun entschlafene Christen sind oder lebende, alle müssen verwandelt werden, dem Bild des Erstgeborenen gleichgestaltet, in ihrem Körper verherrlicht werden.
Doch es werden nicht alle Gläubigen aus diesem Leben geschieden sein und auch keine Auferstehung brauchen; denn die Christen, die lebendig gefunden werden, wenn Christus kommt, werden entrückt werden, um bei Christus zu sein, und in sein herrliches Bild verwandelt werden, ohne überhaupt durch den Tod zu gehen, wie so viele Henochs, sofort verwandelt in das Gleichnis der Herrlichkeit Christi. Das ist es, worauf wir alle als Christen warten sollten, ohne zu wissen, wann es sein wird. Deshalb heißt es: „Wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden.“
Aber was wird aus denen, die Christus abgelehnt haben? Sie müssen alle gerichtet werden. „Und ebenso wie es den Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht, so wird auch der Christus, nachdem er einmal geopfert worden ist, um vieler Sünden zu tragen, zum zweiten Mal denen, die ihn erwarten, ohne Sünde erscheinen zur Errettung“ (Heb 9,27.28). Da haben wir die beiden Seiten: den des Menschen: Tod und Gericht; den des Christen: Christus, der für die Sünden geopfert wurde und im Begriff steht, in Herrlichkeit zu ihrer vollen Erlösung, nicht zum Gericht, wiederzukommen. Die Frage der Sünde war beim ersten Kommen Christi so vollständig geklärt, dass keine einzige Frage mehr darüber aufkommen wird. Wenn Er wiederkommt, wird Er „zum zweiten Mal denen, die ihn erwarten ohne Sünde [d. h. getrennt von der Sünde, nichts mit ihr zu tun habend] erscheinen zur Errettung“. Er hatte für die Sünde selbst gelitten – sie selbst weggetan; und die Konsequenz ist, dass jeder Gläubige, ganz gleich wo er ist und was seine Unwissenheit sein mag, berechtigt ist, auf den Herrn zu warten, der für ihn kommen wird, und für alle kommen wird, die vor ihm in Christus entschlafen sind.
Er hat das Recht zu wissen, dass Christus ihn niemals ins Gericht rufen wird, weil Er, nachdem Er für ihn gerichtet wurde und die Sünde für immer durch das Opfer seiner selbst weggetan hat, solchen zum zweiten Mal ohne Sünde zur Errettung erscheinen wird. Diejenigen aber, die Christus ablehnen, werden, soweit sie nicht ins Gericht kommen, nachher ausdrücklich dafür von den Toten auferweckt werden. Das ist die „Auferstehung zum Gericht“. Ihre Wirkung wird zweifellos Verdammnis sein, aber ihre biblische Bezeichnung ist „Gericht“. Es ist dasselbe Wort wie zuvor. Der Zweck der Auferweckung wird das Gericht sein. Und was ist der Charakter der Auferstehung des Gläubigen? Leben, das gleiche Leben, das uns jetzt gegeben ist. Es wird seinen vollen Lauf und seine volle Entfaltung über unseren Leib haben, so dass wir vollkommen mit dem Leben Christi erfüllt sein werden, nach Leib und Seele.
Das ist die Erwartung des Christen. Daher geht es in diesem fünften Vers („denn jeder wird seine eigene Last tragen.“) nicht im Geringsten darum, dass jeder seine Last im Gericht trägt. Wenn das so wäre, könnte kein Mensch gerettet werden, nicht einer verdient es, gerettet zu werden. Denn wer hat sich nicht schon der Sünden schuldig gemacht, der dunklen und tödlichen Sünden, Sünden, die Gott unmöglich vergeben könnte, wenn Er nicht einen eigenen, vollkommenen Weg hätte, und den hat Er. Aber dieser Weg kostete Ihn seinen Sohn und das Kreuz seines Sohnes; und das Kreuz ist der Triumph Gottes. Darin hat Christus die Sünde für jeden, der an Ihn glaubt, für immer weggetan.
Wenn er also sagt: „einer trage des anderes Lasten“, dann ist das einfach im Hinblick auf die Schwierigkeiten und Prüfungen im praktischen Leben. Achtet darauf, sagt er, dass ihr einander die Lasten tragt, doch letztlich muss jeder Mensch seine eigene Last tragen. Jeder von uns muss für sich selbst mit Gott zu tun haben. Wir können keinen anderen dazu bringen, für uns einzustehen. Manche zitieren Hebräer 13,17 „denn sie wachen über eure Seelen (als solche, die Rechenschaft geben werden)“, um zu lehren, dass die Seelsorger für die Seelen anderer einstehen; aber das ist Unsinn, oder noch schlimmer. Das Prinzip ist falsch. Es gibt nicht so etwas wie eine Person, die über die Seele eines anderen Rechenschaft ablegt. Jeder muss vor Gott Rechenschaft über sich selbst ablegen. Der Sünder muss gerichtet werden; aber jeder Gläubige, wie auch der Sünder, muss vor Gott Rechenschaft über alles ablegen. Der Gläubige, sagt unser Herr, wird nicht ins Gericht kommen; das bedeutet: Wer ins Gericht kommt, wird auf die Probe gestellt, um zu sehen, ob er gerettet werden soll oder nicht. Das kann bei einem Christen niemals der Fall sein. Alles wird vor dem Herrn aufgedeckt werden – nicht nur die Sünden, die wir vielleicht getan haben, seit wir gläubig sind, sondern auch das, was wir getan haben, als wir noch nicht bekehrt waren. Wir könnten annehmen, dass dies unsagbar schrecklich sein würde. Aber denken wir daran, dass der Zustand, in dem der Gläubige vor Gott Rechenschaft ablegen wird, der ist, wenn er wie Christus sein wird – wenn er nicht ein einziges Empfinden hat, das nicht von Christus ist – kein Verlangen, außer dem, was zur Ehre Christi sein wird; jedes Empfinden der Schande wird verschwunden sein, und nur das wird bleiben, was Christus entspricht. Der Gedanke, dass Christus uns alle vollkommen, wie sich selbst, in Herrlichkeit einführen wird, ist sofort eine Antwort auf jede Sorge. Aber während dies wahr ist, ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass jetzt ein sehr aktives Gericht geschieht. Der Vater beobachtet unsere Wege und handelt mit uns; und wir sollten unsere Wege Tag für Tag prüfen. Jeder, ob Gläubiger oder Sünder, muss vor Gott Rechenschaft über sich ablegen: Seine Macht wird es in beiden Fällen vollbringen; in dem einen zu seiner völligen Verurteilung – in dem anderen, damit er lernt, wie absolut er alles der Gnade Gottes zu verdanken hat. Doch das ist eine andere Sache als das Gericht.