Doch im nächsten Vers drängt er sie dazu, die Last des anderen zu tragen. Es gibt Schwierigkeiten, Prüfungen, Sorgen; es gibt Dinge in Form von Gebrechen; es gibt Umstände unterschiedlichster schmerzhafter Natur, die die Kinder Gottes niederdrücken. Wenn wir unsere Wertschätzung gegenüber unseren Mitgeschwistern zeigen wollen, fehlt es nicht an Gelegenheiten.
Einer trage des anderen Lasten, und so erfüllt das Gesetz des Christus (6,2).
Beugt euch und nehmt das auf, worunter euer Bruder stöhnt. Die Zehn Gebote mögen es nicht verlangen, aber so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Das ist das Gesetz für uns Christen. Es geht nicht um das Gesetz Moses; denn obwohl es das Gesetz Gottes war und immer das Maß sein muss, mit dem Gott mit dem natürlichen Menschen umgeht, handelt Er hier mit denen, die im Geist leben; und das Gesetz vom Sinai wurde nie dem geistlichen Menschen gegeben, sondern einem fleischlichen Volk, sogar Israel. Das Gesetz befasst sich mit dem natürlichen Menschen, und daher mit dem, was in ihm böse ist. Wer kann dem neuen Menschen sagen: „Du sollst nicht töten“, „du sollst nicht stehlen“? Wird der neue Mensch jemals lüstern sein oder Ehebruch begehen? Allein dieser Gedanke ist schon ein Beweis dafür, dass die ganze Theorie falsch ist. Das Gesetz der Zehn Gebote war überhaupt nicht an den neuen Menschen gerichtet. Der neue Mensch kann es gebrauchen, aber das ist etwas ganz anderes, als wenn er es als Sprache seiner eigenen Verantwortung vor Gott bedenkt. Wenn wir Gläubige sind, wirken wir nicht, um zu leben, sondern wir leben, um den Willen unseres Herrn zu tun, ohne einen solchen Gedanken wie den Tod oder den Fluch.
Ihr, die ihr für eine gesetzliche Regel streitet, was, frage ich, ist dieses „Gesetz Christi“? Christus war immer mit den anderen beschäftigt. Er hat nie in einer einzigen Handlung seines Lebens seinen eigenen Willen getan. Genau das ist es, heilig in der Liebe zu sein, wie Christus war: Gehorsam und Wahrhaftigkeit in der Liebe war das, was sein ganzes Dasein auf der Erde charakterisierte. Angenommen, wir würden irgendeine und jede Pflicht tun, nur weil wir sie für richtig hielten, dann wäre sie immer falsch. Als Christ hätte ich in dem, was Gott am nächsten ist, versagt, und zwar aus dem einfachen Grund, dass das bloße Tun der Pflicht, weil es Pflicht ist, einen Menschen nicht in die Haltung des Gehorsams versetzt, sondern nur stolze Selbstgefälligkeit und Huldigung des innersten Götzen des Herzens sein kann. Zu tun, was ich für richtig halte, ist daher nicht besser, als eine eindeutige Rebellion gegen Gott. Ich habe kein Recht, meinen eigenen Weg zu wählen. Ich bin gehorsam, wenn ich mich als sein Geschöpf bezeichne; und noch mehr, wenn ich sein Kind bin und mich als solches bezeichne. Die Frage ist also: Was ist der Wille meines Vaters? Wie schön hat unser Herr das gezeigt, noch bevor Er den öffentlichen Teil seines Dienstes antrat! Er hatte immer, und zwar im höchsten Sinn, das Bewusstsein seiner eigenen Beziehung. „Wisst ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (Lk 2,49). Und so war es in jedem Fall. Betrachten wir Ihn danach in seinem Dienst. Sogar in einer Angelegenheit, die sich so stark an seine Zuneigung als Mensch richtete, als Lazarus im Sterben lag, bleibt Er zwei Tage an dem Ort, wo Er war, nachdem Er gehört hatte, dass er krank war. Warum? Er handelt nicht nur aus bloßem Recht, auch nicht aus bloßer Liebe zu der Person, die Er liebte; Er muss den Befehl des Vaters kennen, bevor Er geht.
Das ist es, was wir bedenken müssen. Wenn wir das Gesetz nehmen, das am Sinai gegeben wurde, sehen wir Gott, der das fordert, was einen Sünder verdammt. Gott hat sich dort nicht als Vater offenbart. Nehmen wir wiederum die Herrscherin unseres Landes: Sie sendet ihre Armee aus, um einen fremden Feind anzugreifen, oder spricht ein Machtwort, um mit einer rebellischen Provinz umzugehen. Wer würde behaupten, dass sie in diesen Fällen wie eine Mutter handelt? Wer würde daraus schließen, dass wir sie so in Bezug auf ihre Kinder sehen? Sie handelt als Herrscherin und mit rebellischen Untertanen. Am Sinai gab es eine Nation, Gottes rebellische Untertanen; und Er legte mit Donner und Blitz und mit einer Stimme, die schrecklicher war als beides, fest, was Er von dem schuldigen Israel nicht anders verlangen konnte. Aber wenn Gott, der damals so furchtbar gesprochen hat, heute spricht, wie geschieht es dann? Durch seinen Sohn. Es ist derselbe Gott, aber seine Stimme ist ganz anders! Gott behält immer sein Recht und seinen Anspruch, nicht nur das wiederherzustellen, was Er im Zusammenhang mit dem alten Israel gesagt hat, sondern auch das Neue einzuführen. Was bedeutet ein neuer Bund, wenn er nicht das, was vorher war, überholt?
Hier haben wir also das Gesetz Christi in scharfem Gegensatz zum Gesetz Moses, das sich mit dem rebellischen Fleisch befasste. Das Gesetz Christi richtet sich an die, die durch den Geist leben und durch den Geist wandeln sollten, die aber trotzdem noch eine böse Natur haben. Und wie sollen sie in der neuen Natur gestärkt werden, um die alte zu überwinden? Er weist sie sogleich auf Christus hin und sagt: „Einer trage des andern Lasten, und so erfüllt das Gesetz des Christus“ (V. 2). Das ist der liebevolle, selbstlose Weg, das Gesetz Christi zu erfüllen. Interessiere dich für Gläubige in Not und Bedrängnis; und selbst wenn es etwas gibt, das eindeutig böse ist, wird es dich auf Gott werfen, um etwas von Christus hervorzubringen, das geeignet ist, den Menschen, der in den Sumpf gerutscht ist, aufzurichten. Er führt zuerst den eklatanten Fall eines in Sünde gefallenen Menschen ein, und dann vergrößert er ihn. Wenn wir wissen wollen, was jetzt der Weg Christi und der Wille Gottes ist, so war es das, was Christus tat. Er kam in eine Welt voller Bösem und Widerstand gegen Gott – voller Stolz und Eitelkeit, und was tat Er? „Der umherging, wohltuend und alle heilend, die von dem Teufel überwältigt waren“ und so weiter (Apg 10,38). Auch wenn wir nicht in der Lage sind, Wunder zu tun, so ist doch das moralische Prinzip des Lebens Christi auf der Erde in allem, was im Geist wie Christus ist, genau das, was jeder Gläubige hat.
Wenn wir Christus überhaupt haben, haben wir Christus nicht nur zur Sühnung, sondern als unser Leben. Wer an den Sohn glaubt, hat das ewige Leben; und das ewige Leben ist Christus, genauso wie ich durch die Geburt in die Welt von Adam ein altes natürliches Leben bekommen habe, das das Böse liebt und das, wenn es an Stärke zunimmt, an Fähigkeit zum Eigenwillen wächst. Wenn ich an Christus glaube, wird dieses neue Leben hervorgebracht, das sich in dem Maß entwickelt, in dem der Gläubige sich von Christus ernährt und auf Ihn blickt, und in dem er über seine Worte und Wege nachdenkt.
Es gibt eine einigende Kraft, die dem Gläubigen durch den Heiligen Geist vermittelt wird. Die Worte unseres Herrn sind Geist und Leben. Nicht nur, dass sie in erster Linie Leben hervorbringen, sondern sie erhalten auch das Leben und sind das Mittel zu seiner Lebendigkeit. Und das zeigt uns der Apostel Petrus (1Pet 1). Er spricht von dem unvergänglichen Samen des Wortes Gottes, das lebendig ist und in Ewigkeit bleibt. Aber dann zeigt er, dass dasselbe Wort Gottes, das das Mittel ist, um zunächst das Leben durch die Offenbarung Christi zu vermitteln, auch dazu bestimmt ist, es zu stärken und zu erfrischen. Deshalb ermahnt er sie, dass sie wie neugeborene Kinder die unverfälschte Milch des Wortes begehren sollen. Das Wort Gottes, das zuerst dazu dient, Leben in einem Menschen zu bewirken, indem er Christus kennenlernt, ist das, was jetzt das Leben aufrechterhält, es hervorbringt, es in gesunde Übung bringt.