Der Apostel begibt sich nun auf ein breiteres Gebiet und gebietet den Gläubigen jede Art christlicher Pflicht, nicht nur im äußeren Verhalten, sondern vielleicht noch mehr in Bezug auf den Ton, das Temperament und den Geist, in dem der Herr alles von ihnen getan haben möchte. Barmherzigkeit üben oder Mitleid haben dient natürlich als ein Bindeglied des Übergangs und bereitet den Weg für die allgemeinere Ermahnung zu Liebe, Demut und geduldiger Gnade.
Die Liebe sei ungeheuchelt. Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten (12,9a).
Die Liebe ist von Gott. Deshalb ist es von größter Wichtigkeit, dass sie immer echt und unbestechlich ist; denn je höher ihr Ursprung, ihr Wesen und ihr Charakter ist, desto gefährlicher ist es, wenn das Falsche ihren Platz und ihren Namen an sich reißt und andere und sich selbst unter einem schönen, aber falschen Schein in die Irre führt. Es ist nicht dasselbe wie die herzliche Bruderliebe in Vers 10; und die Realität der Unterscheidung erscheint wieder in 2. Petrus 1,7. Andererseits ist sie weit davon entfernt, jene Freundlichkeit zu allen Menschen zu sein, deren Vollkommenheit wir in dem Heiland-Gott kennen, wie sie in Christus, dem Herrn, bezeugt ist. Die Liebe ist das Wirken der göttlichen Natur in Güte und daher untrennbar mit dieser Natur verbunden, wie sie in den Kindern Gottes zum Ausdruck kommt. Dennoch entbindet dies nicht von der Notwendigkeit des Selbstgerichts, damit sie aufrichtig und unbefleckt ist und selbstlos das Wohl der anderen nach dem Willen Gottes sucht. Das Vermischen mit eigenen Hoffnungen, Ängsten oder Zielen verfälscht es.
Daher finden wir im selben Vers die damit verbundene Aufforderung: „Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten“ (V. 9b). Es ist ein Wort, das besonders in unseren Tagen umso notwendiger ist, weil wir in den Zeiten Laodizeas, das heißt kränklicher Gefühle leben, in denen die tolerante Liebe im Überfluss vorhanden ist, deren Wesen ein Geist der Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen ist, insbesondere dem Bösen gegen Christus. Und die Gefahr wie auch die Sünde ist umso extremer, weil es die „letzte Stunde“ ist und schon lange war die Stunde da, vor der Johannes so feierlich warnt, in der nicht das Christentum vorherrscht, sondern viele Antichristen, wenn auch noch nicht der Antichrist (1Joh 2). Wo aber die Liebe echt ist, da ist und muss die Abscheu vor dem Bösen sein, nicht weniger entschieden als die enge Anhänglichkeit an das Gute. Wenn Letzteres anzieht, beleidigt Ersteres und wird in der Welt, wie sie ist, oft schlecht aufgenommen. Aber der Christ muss die Triebe der neuen Natur pflegen und sich dem Wort Gottes unterwerfen, der Ihn herausgerufen hat, um hier auf der Erde ein Zeuge Christi zu sein, wo ihm das Böse auf Schritt und Tritt begegnet. Die Freundlichkeit, die Schwierigkeiten ausweichen und Sünden entschuldigen würde, erweist sich so als Mangel an Salz des Bundes Gottes und wird sich bald als Honig erweisen und in Sauerteig enden, statt das Mehl und Öl zu sein, das Gott in solchen Gaben sucht.