Behandelter Abschnitt Röm 11,11-15
Ich sage nun: Sind sie etwa gestrauchelt, damit sie fallen sollten? Das sei ferne! Sondern durch ihren Fall ist den Nationen das Heil geworden, um sie zur Eifersucht zu reizen. Wenn aber ihr Fall der Reichtum der Welt ist und ihr Verlust der Reichtum der Nationen, wie viel mehr ihre Vollzahl! Euch aber, den Nationen, sage ich: Insofern ich nun der Apostel der Nationen bin, ehre ich meinen Dienst, ob ich auf irgendeine Weise sie, die mein Fleisch sind, zur Eifersucht reizen und einige von ihnen erretten möge. Denn wenn ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt ist, was wird die Annahme anderes sein als Leben aus den Toten? (11,11–15).
So wird gerade das Abgleiten Israels von seinem Platz als Zeuge und Verwalter der Verheißung, das durch die göttliche Barmherzigkeit in eine gegenwärtige Gunst gegenüber der heidnischen Welt verwandelt wurde, zu einem Argument in den Händen der Gnade, um ihre zukünftige Wiederherstellung zu bestätigen. Der Apostel spielt auf die Worte in 5. Mose 32 an, deren Bedeutung für die Frage so offensichtlich ist, wie für den Juden ihre Autorität unbestreitbar ist. Es war nicht Paulus, sondern Mose, der erklärte, dass der Jude den Herrn zur Eifersucht reizte, dass er des Felsens, der ihn gezeugt hat, und der Herrlichkeit Gottes, der ihn geformt hat, nicht eingedenk war. Es war Moses, der bezeugte, dass der Herr sagte: „Ich will mein Angesicht vor ihnen verbergen, ich will sehen, wie ihr Ende sein wird; denn ein Geschlecht voll Verkehrtheit sind sie, Kinder, in denen keine Treue ist. Sie haben mich zur Eifersucht gereizt durch Nicht-Götter, haben mich erbittert durch ihre Nichtigkeiten; so will auch ich sie zur Eifersucht reizen durch ein Nicht-Volk, durch eine törichte Nation will ich sie erbittern“ (5Mo 32,20.21). Zweifellos handelt es sich um die sichere und ernste Drohung des Unmuts Gottes, wenn sie sich von Israel zu den Heiden wenden, so sicher, wie Israel sich vom Herrn zu falschen Göttern zuwenden pflegte. Aber die Drohung, die sich nun nach der äußersten Geduld vollzog, und die sich erst vollzog, als sie ihrem alten Götzendienst die noch schwerere Sünde hinzufügten, den Messias zu verwerfen und das Evangelium zu verschmähen, das ihnen die Vergebung dieser und aller anderen Sünden durch sein Blut anbot – die Drohung selbst enthält die nicht minder sichere Andeutung der Wiederherstellung der Gnade am Ende. Denn gewiss meint Er, der mit der Absicht handelt, sie durch die Segnung der Heiden zur Eifersucht zu reizen, nicht, sie am Ende zu verstoßen; eher das genaue Gegenteil. Man sieht an solch bewundernswerter Argumentation und solch zutiefst genauer Verwendung der alttestamentlichen Schrift, wie wahrhaftig es derselbe Geist ist, der einst durch Mose schrieb und jetzt durch Paulus wirkt.
Abgesehen von jeder besonderen Anspielung stimmt der Zustand der Dinge, ob jetzt oder in der Zukunft, sowohl mit den Tatsachen des Christentums als auch mit den allgemeinen Aussichten für die Welt nach den Propheten vollkommen überein. Denn gerade dann, wenn die Juden ihren ganzen Platz und ihre Nation verlieren, nicht weniger als ihren unverwechselbaren Rang als bezeugendes und anbetendes Volk in ihrem Land, sehen wir, wie die Heiden allmählich ihren Götzen abschwören und der wahre Gott und sein Wort unvergleichlich besser bekannt werden als sogar in Israel von alters her. Die offenbarte Wahrheit, die ihren Mittelpunkt und ihre Darstellung in Christus hat, erklärt allein die Verfinsterung auf der einen Seite und den Besitz eines helleren Lichtes auf der anderen Seite. Haben die Juden nicht das wahre Licht verworfen, das jetzt auf die Nationen scheint, die so lange im Götzendienst verblendet waren? Nochmals: Wer kann, während er die Barmherzigkeit Gottes anerkennt, die sich auf so wundersame Weise abgewandt hat, um die Heiden mit dem Evangelium zu besuchen, während der Unglaube und die folglich dunkle und elende Nichtigkeit der Juden anhielt, den reichen und vollen Strom alttestamentlicher Schriften übersehen, der die Freude und den Segen der ganzen Erde nur dann schildert, wenn Gott sein Angesicht auf Israel scheinen lässt? „Gott wird uns segnen“ (sagt der inspirierte jüdische Psalmist); „und alle Enden der Erde werden ihn fürchten“ (Ps 67,8).
Es ist ein Recht zu predigen, ein Vorrecht zu erwarten, dass Menschen gesegnet werden; aber es ist vergeblich, weil unbiblisch, die Universalität des Segens und der erlösenden Kraft über die ganze Welt zu erwarten, bis das Licht Zions gekommen ist und die Herrlichkeit des Herrn über ihr aufgegangen ist. Dann und nicht eher werden die Heiden zu ihrem Licht kommen und die Könige zum Glanz ihres Aufgangs; dann werden die Nation und das Königreich, die Zion nicht dienen wollen, zugrundegehen – ein Zustand, der in offenkundigem Gegensatz zu der Gnade steht, die jetzt unterschiedslos zu Juden und Heiden ausgeht und gläubige Menschen durch den Geist zur himmlischen und ewigen Herrlichkeit sammelt, anstatt eine Darstellung der gerechten Regierung des Jahwe-Messias in Israel und über der ganzen Erde zu sein.
Daher ist es offensichtlich, mit welcher deutlichen Wahrheit der Apostel behaupten konnte, dass die Errettung der Heiden durch den Fehler oder die Übertretung der Juden nur dazu dient, sie zur Eifersucht zu reizen, anstatt ein Zeichen dafür zu sein, dass sie für immer als Volk von Gott verlassen sind. Nein, weiter könnte er in Übereinstimmung mit den Propheten folgern: „Wenn aber ihr Fall der Reichtum der Welt ist und ihr Verlust der Reichtum der Nationen, wie viel mehr ihre Vollzahl!“ (V. 12). Der Apostel legt hier Rechenschaft ab, oder, wenn man so will, entschuldigt sich dafür, dass er die Heiden miteinbezieht, wenn er das Schicksal Israels beschreibt. Er sprach zu den Gläubigen in Rom, „euch aber, den Nationen“. Und weiter: „Insofern ich nun der Apostel der Nationen bin, ehre ich meinen Dienst“: Wie oder warum sollte er die göttliche Barmherzigkeit gegenüber solchen vergessen, die Gottes Wegen mit Israel entsprechen, die ihn jetzt beschäftigten? Zumal er damit jenes Reizen zur Eifersucht zu fördern suchte, für die er die Vollmacht dessen hatte, der allein gut ist und von dessen Barmherzigkeit gegenüber Israel er nicht weniger überzeugt war als von seinem gerechten Unwillen über ihre Sünden: „ob ich auf irgendeine Weise sie, die mein Fleisch sind, zur Eifersucht reizen und einige von ihnen erretten möge. Denn wenn ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt ist, was wird die Annahme anderes sein als Leben aus den Toten?“ (V. 14.15). &&&
Das ist, wie wir gesehen haben, der einheitliche Eindruck, den die Psalmen und die Propheten hinterlassen, wie jeder aufrichtige und einsichtige Jude empfinden muss. Dann erst wird „die Wiedergeburt“ stattfinden, wenn der Sohn des Menschen mit seinen verherrlichten Beisitzern auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen wird, und alle Nationen wie auch die zwölf Stämme Israels werden wissen, was es heißt, einen König zu haben, der in Gerechtigkeit regiert, und Fürsten, die im Gericht herrschen (vgl. Mt 19,28). Es ist der Fehler von Origenes, Chrysostomus und Theodoret, von Meyer, Fritzsche, Tholuck und so weiter, die Auferstehung wörtlich so zu verstehen, wie sie hier gemeint ist, obwohl ich nicht bezweifle, dass die erste Auferstehung dann stattgefunden haben wird, wie die deutlichsten Beweise der Schrift zeigen. Es gibt auch keinen gerechten Grund für die eigenartige Unentschlossenheit von Dekan Alford, der sich sowohl gegen die wahre als auch gegen die irrige Ansicht wendet. Was auch immer die göttliche Barmherzigkeit in der „Versöhnung der Welt“ (vgl. V. 15) sein mag, die wir jetzt kennen, während das Evangelium zu jedem Geschöpft Kreatur hinausgeht, eine ganz andere Glückseligkeit erwartet die ganze Erde als „Leben aus den Toten“, wenn das ganze Israel, das zurückerhalten und gerettet wurde, weit weg von ihrem alten Neid und ihrer höhnischen Verachtung, alle Länder auffordern wird, dem Herrn freudig zu singen und mit triumphalem Gesang vor seine Gegenwart zu treten. Wenn sein Haus ein Haus des Gebets für alle Nationen genannt wird (Jes 56,7), dann wird auch sein Name an jenem Tag groß sein unter den Nationen, und an jedem Ort wird Weihrauch verbrannt und ein reines Opfer für seinen Namen dargebracht werden. Wie weit geht das über das Gegenwärtige hinaus, und wie anders, wenn auch das Gegenwärtige ein Vorzeichen und Unterpfand sein mag! Wird es nicht für alle auf der Erde „Leben aus den Toten“ sein?
Es scheint mir, dass Calvin weit davon entfernt ist, eine einfache, klare oder feste Sicht des Arguments zu haben, obwohl ich seine im Allgemeinen ernsten und frommen Ansichten keineswegs in Abrede stelle. Aber er sagt, dass die beim Verständnis dieser Diskussion sehr behindert werden, die nicht beachten, dass der Apostel manchmal von der ganzen Nation der Juden, manchmal von einzelnen Personen spricht. In Wahrheit geht es ausschließlich um die Nation als Gottes Zeuge auf der Erde und als Erbe der Linie der Verheißung von Abraham. Über Einzelne gab es keinen Zweifel. Aber Paulus benutzt, wie wir gesehen haben, wunderbar den Glauben von sich selbst und anderen als Beweis dafür, dass es sogar während der Verstockung durch Gericht einen Überrest gemäß der Auserwählung der Gnade gibt, und dass die Berufung der Heiden in der Zwischenzeit nur ein Anlass zur Eifersucht ist, anstatt zu bedeuten, dass Gott sein Volk verstoßen hat, und dass sie nie mehr als Israel aufgenommen werden können. Und hier kann ich nicht umhin, die Anmaßung und auch die Unwissenheit zu beklagen, mit der sogar ein so gottesfürchtiger Mensch wie der Genfer Gelehrte spricht, besonders bei Vers 12. Man hätte dem Apostel demütig zuhören und ihn nicht korrigieren sollen. Muss ich hinzufügen, dass die Unhöflichkeit der Rede ausschließlich dem Kritiker gehört, und dass die Inspiration durchaus genau ist, nicht der allzu selbstbewusste Kommentator? Eine menschliche Antithese, von der Calvin zu sagen wagte, dass sie angemessener gewesen wäre, ist in Kraft, Schönheit und Wahrheit weit hinter dem zurück, was der Geist gegeben hat. Ein Aufstehen oder Erheben Israels vermittelt keine solche Bedeutung von notwendiger Glückseligkeit wie ihre „Annahme“ nach ihrem Straucheln, Verlust und ihrer Verwerfung. Sogar wenn wir das nicht sehen und nicht beweisen könnten, ist jeder Gläubige verpflichtet, sich über einen solchen Mangel an Respekt vor der Schrift zu ärgern.