Behandelter Abschnitt Apg 22,6-10
Auch der Hohepriester selbst konnte die Tatsache nicht ignorieren, sondern bezeugte sie, und alle Ältesten auch; denn sie werden daran erinnert, dass er auch Briefe an die Brüder, das heißt die Juden anderswo, erhielt und nach Damaskus reiste, um auch die, die dort waren, in Fesseln nach Jerusalem zu bringen, damit sie bestraft würden. Er, der mit dem Evangelium in die ganze Welt hinausgehen sollte, konnte von früher her in seinem gesetzlichen Eifer nicht innerhalb der Grenzen Jerusalems oder Judäas ruhen.
Der Apostel erzählt nun seine eigene wunderbare Bekehrung; und da sie an Juden gerichtet war, wird sie in einer Weise dargestellt, die geeignet ist, ihre Vorurteile zu entkräften, soweit das möglich war.
Es geschah mir aber, als ich reiste und mich Damaskus näherte, dass mich gegen Mittag plötzlich ein großes Licht aus dem Himmel umstrahlte. Und ich fiel zu Boden und hörte eine Stimme, die zu mir sprach: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Ich aber antwortete: Wer bist du, Herr? Und er sprach zu mir: Ich bin Jesus, der Nazaräer, den du verfolgst. Die aber bei mir waren, sahen zwar das Licht [und wurden von Furcht erfüllt], aber die Stimme dessen, der mit mir redete, hörten sie nicht. Ich sprach aber: Was soll ich tun, Herr? Der Herr aber sprach zu mir: Steh auf und geh nach Damaskus, und dort wird dir von allem gesagt werden, was dir zu tun verordnet ist (22,6–10).
Hier wird also angedeutet, dass es „um die Mittagszeit“ war, noch genauer als es in Kapitel 9,3 gesagt wird. Das macht die Vision noch viel eindrucksvoller. Es war keine Trance, sondern eine offensichtlich Tatsache. Das Licht, das um ihn herum aus dem Himmel schien, übertraf die Sonne um die Mittagszeit, in der Gegenwart der Männer, die mit ihm reisten. Eine Täuschung war unmöglich. Soweit wir wissen, wurde er, und nur er, dadurch bekehrt. Die Stimme sprach zu dieser Zeit keinen anderen an. Und hier wird besonders gesagt, dass die anderen die Stimme dessen, der zu ihm sprach, nicht hörten. Derselbe Geschichtsschreiber, der dies als die eindeutige Aussage des Apostels wiedergibt, hatte selbst berichtet, dass seine Mitreisenden sprachlos dastanden, als sie die Stimme hörten, aber niemanden hörten. Dies sieht für einen flüchtigen Leser wie ein Widerspruch aus, aber ein Leser muss in der Tat unvorsichtig oder auf Böses bedacht sein, der nicht erkennt, dass die beiden Aussagen unter der Oberfläche ganz und gar übereinstimmen. In Kapitel 9 erfahren wir, dass seine Begleiter einen Ton hörten und sonst nichts; und in diesem Kapitel56 erfahren wir, dass er allein die Stimme dessen hörte, der zu ihm sprach. Für die anderen war sie unartikuliert; für ihn war sie nicht nur verständlich, sondern der Wendepunkt eines Lebens, das über alle anderen hinaus reich an Zeugnissen seiner Gnade war, die zu ihm sprach.
Die Zeit war nämlich nun vollends für einen neuen Schritt in den Wegen Gottes gekommen. Die himmlische Herrlichkeit Christi sollte von einem auserwählten Zeugen gesehen werden, den er in souveräner Gnade aus der Höhe berufen hatte, dem Verfolger aus der Mitte seiner religiös aufrührerischen Karriere. Es ist ohne Zweifel Gnade in jedem Fall, wo ein Mensch aus der Finsternis in das wunderbare Licht Gottes gebracht wird. Aber hier leuchtet die ganze Wahrheit mit der größten Brillanz. Stephanus schloss sein Zeugnis mit dem Anblick Jesu in der Herrlichkeit Gottes. Saulus beginnt sein Zeugnis für Jesus damit, dass er Ihn in der gleichen Herrlichkeit sieht. Das erinnert ein wenig an die beiden alten Propheten, von denen der eine seinen Weg damit beendete, dass er in den Himmel aufgenommen wurde, während der andere ihn mit jenem himmlischen Anblick begann, der ihm von da an einen so mächtigen Impuls gab. Im vorliegenden Fall war es nicht weniger bemerkenswert, weil Saulus in den Tod des Stephanus eingeweiht war und die Kleider der falschen Zeugen bewachte, die ihn steinigten, dessen Geist zum Herrn hinauffuhr, dessen Herrlichkeit er gerade gesehen und bezeugt hatte.
Und wenn nach dem Tod des Stephanus eine kurze Zeitspanne verging, so wurde sie dadurch ausgefüllt, dass Saulus immer noch Drohungen und Mord gegen die Jünger des Herrn ausstieß. Dennoch umstrahlte ihn nun plötzlich das Licht aus dem Himmel. Zu Boden gesunken, hörte er die Stimme zu ihm sagen: „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ (V. 7). Verbittert durch Tradition und Vorurteile, konnte er nicht anders, als erstaunt zu fragen: „Wer bist du, Herr?“ (V. 8). Kein Mensch war sich je sicherer, dass er Gott einen Dienst erwies, als er die Jünger aus der Synagoge vertrieb oder gar tötete. Er hatte ein gutes Gewissen nach dem Gesetz in dem Eifer, mit dem er die Versammlung verfolgte (Phil 3,6). Noch kannte er weder den Vater noch den Sohn. Das wahre Licht war nie in sein Inneres eingedrungen. Aber jetzt war das Licht, das um ihn umstrahlte, nur der Vorbote einer besseren, für menschliche Augen unsichtbaren Herrlichkeit, der „Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi“ (2Kor 4,6). Seine Begleiter sahen den äußeren Glanz, doch sie erblickten nicht das, was niemand sehen kann, wenn er nicht durch die Kraft Gottes aus der Finsternis in sie hineingeführt wird.
Zu seinem Erstaunen erfuhr er, dass der, der sprach und den er nur als den Herrn aller erkennen konnte, genau der Jesus war, den er verfolgte. Denn so wurde er in den Personen der Seinen erkannt: Christus und die Versammlung sind eins. Eine ungeheure Entdeckung! Und das unter Umständen, die beispiellos sind. Der einstige Feind, niedergeschlagen und fortan dem himmlischen Gesicht gehorsam, hat Christus in Herrlichkeit, Gottes Sohn, offenbart, nicht an ihm allein, sondern in ihm (siehe Gal 1,16). Er ist das Leben, und der Christ ist eins mit Ihm. Wenn es für die Jünger galt, die er verfolgte, so galt es nicht weniger für ihren Verfolger, der nun selbst ein Jünger war. „Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm“ (1Kor 6,17). Wenn wir den Herrn bei seiner Wiederkunft sehen, werden wir Ihm gleich sein, sogar dem Leib nach in dasselbe Bild verwandelt. Wenn wir jetzt verwandelt werden, sogar durch den Herrn, den Geist, werden wir dann dem Herrn und durch den Herrn gleichgestaltet werden; denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist (2Kor 3,18; 1Joh 3,3).
Diese großen Prinzipien waren alle in der Vision des Apostels enthalten, obwohl das natürlich nicht bedeutet, dass sie alle in diesem Moment seinem Geist enthüllt wurden. Aber zu gegebener Zeit wusste es niemand besser als er, und auch niemand so gut; obwohl diese Wahrheiten auf diese Weise vermittelt wurden, und zwar auf die kraftvollste Weise, in jener großen Tatsache, die in ihrer Auswirkung auf die Versammlung und sogar für die Welt unberechenbar ist. Denn wer von allen Menschen hat jemals einen so unbegrenzten Auftrag erfüllt wie der Apostel? Die Zwölf empfanden und anerkannten, dass er der Apostel der Unbeschnittenen ebenso wahrhaftig war wie sie der Beschnittenen. Das schloss keineswegs aus, dass sie sich um das Wohl der Gläubigen bemühten; noch weniger hinderte es Paulus daran, sich reichlich unter den Juden zu betätigen, wie es jeder Ort bezeugte, wo es Juden gab. Aber es kennzeichnete nicht die typische Weite seiner Mission. Er mochte danach trachten, die Versammlung in völliger und himmlischer Absonderung von der Welt zu gründen; aber es war ihm wichtiger als jedem anderen, das Wort seines Meisters zu erfüllen: „Geht hin in die ganze Welt und predigt der ganzen Schöpfung das Evangelium“ (Mk 16,15).
Welch ein Apell war auch sein eigener Bericht über seine Bekehrung an die Menge der Juden, die damals zuhörten! Keiner konnte die Tatsachen leugnen; der Hohepriester konnte nicht anders, als es zu bezeugen, alle Ältesten Israels in Jerusalem hätten gern widersprochen, wenn sie es gekonnt hätten. Die Briefe, die er von seinen jüdischen Brüdern erhielt, waren nicht zu leugnen, ebenso wenig wie seine eigene erbitterte Verfolgung des christlichen Weges bis zum Tod und zum Gefängnis. Die Begleiter auf seiner Reise nach Damaskus, warum schwiegen sie? Wenn sie auch die Worte Jesu nicht hörten, so waren sie doch nicht taub für die übernatürliche Stimme, und sie sahen das Licht, das größer war als der Glanz der Sonne, sie umstrahlen.
Aber alle Wunder versagen, um das Herz zu Gott zu bekehren. Es ist die Stimme Christi, die die Toten lebendig macht, und jetzt ist die Stunde der Belebung der Seelen; denn nach und nach wird eine andere Stunde kommen, wenn die Stimme des Sohnes die, die Gutes getan haben, aus dem Grab zur Auferstehung des Lebens rufen wird, und die, die Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts; diese letzte Tat Christi schließt die Geschichte dieser Welt feierlich ab. Aber die souveräne Gnade erweckt jetzt die Menschen, die das Wort des Herrn hören; und so wie dies Saulus von Tarsus in der außerordentlichsten Weise offenbart wurde, so wurde er im höchsten Grad berufen, ein Diener der souveränen Gnade Gottes und der himmlischen Herrlichkeit Christi zu sein. „Ich sprach aber: Was soll ich tun, Herr? Der Herr aber sprach zu mir: Steh auf und geh nach Damaskus, und dort wird dir von allem gesagt werden, was dir zu tun verordnet ist“ (V. 10).
Hier war wieder ein einzigartiger Bruch mit allen apostolischen Vorgängern. Der Herr befahl keine Rückkehr nach Jerusalem. Saulus musste nach Damaskus gehen und dort, nicht durch einen früheren Apostel, noch weniger durch das Kollegium der Apostel, sondern durch einen Jünger, der in keiner hohen Stellung war, wissend, was ihm zu tun aufgetragen worden war. So regiert die Gnade: Haben wir das wirklich gelernt?
Wir haben bereits bei der Betrachtung von Kapitel 9 gesehen, was für ein wichtiges Ereignis an jenem Tag stattfand: ein deutlicher und neuer Schritt in den Wegen Gottes, um die (bereits gebildete) Versammlung durch seinen Dienst zur Offenbarung zu bringen, die dann so außerordentlich bekehrt wurde, dass die Theologen dies als einen der stehenden und auffälligsten Beweise für die Wahrheit des Christentums behandeln.
56 In Kapitel 9 steht φωνή Klang oder Stimme im Genitiv und nur im Partitiv, in Kapitel 22 ist es der Akkusativ, der den größten Bezug zum Objekt hat und nicht im Partitiv steht.↩︎