Behandelter Abschnitt Apg 16,13-15
Und am Tag des Sabbats gingen wir vor das Tor hinaus an einen Fluss, wo es gebräuchlich war, das Gebet zu verrichten; und wir setzten uns nieder und redeten zu den Frauen, die zusammengekommen waren. Und eine gewisse Frau, mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, die Gott anbetete, hörte zu, deren Herz der Herr auftat, dass sie Acht gab auf das, was von Paulus geredet wurde. Als sie aber getauft worden war und ihr Haus, bat sie und sagte: Wenn ihr urteilt, dass ich dem Herrn treu bin, so kehrt in mein Haus ein und bleibt. Und sie nötigte uns (16,13–15).
Es gab wohl keine Synagoge in der Stadt, die einst die Brunnen genannt wurde, jetzt aber Philippi hieß, die den Bezirk von Thrazien an sein angestammtes Mazedonien angegliedert hatte und die Schätze dieser Welt größtenteils aus den Goldminen in der Nachbarschaft schöpfte. An jenem Flussufer vor dem Stadttor, unter den Frauen, die sich dort versammelten, erhielt wenigstens eine einen reicheren Schatz und trank so, dass sie in ihrem Innern eine Quelle hatte, die ins ewige Leben sprudelte. Der gute Arzt, der hier schreibt, war kein Maler, außer in der Grafik. Man denke sich einen Philosophen oder gar einen Rabbi, der zu den Frauen von dem spricht, was Gott ist und gibt, von der Gnade und Wahrheit, die durch Jesus Christus geworden ist! Sogar die Jünger wunderten sich einst, dass der Herr mit einer Frau redete, denn Er wies zuerst auf den Ernst eines verlorenen Menschen hin, auf den gesegneten Wert eines geretteten Menschen, sei es eines Mannes oder einer Frau. Hier findet man den auserlesensten seiner Diener, nicht allein, sondern mit einigen Gleichgesinnten, die Christus dienen und den versammelten Frauen die Geheimnisse Gottes mitteilen.
Unter diesen erregt eine unsere Aufmerksamkeit in der Erzählung, Lydia von Thyatira, eine Verkäuferin jenes Farbstoffes, für den diese Lydier zu Homers Zeiten weithin berühmt waren (Ilias. δ. 141), wie „die Färber“ durch die in den Ruinen von Thyatira gefundene Inschrift veranschaulicht werden mag. Sie war keine Götzendienerin, sondern betete Gott an und suchte deshalb die kleine Schar von Juden auf, die sich am Sabbat zum Gebet trafen, getrennt von den heidnischen Verderbnissen ringsum, an einem Flussufer, einem für die Juden bequemen und zur Reinigung genutzten Ort. Dies scheint zu entscheiden, dass es der kleine und weniger bekannte Gangas war, und nicht der Strymon, der weiter entfernt lag. Lydia hörte zu, und der Herr öffnete ihr Herz, um auf die Dinge zu achten, die Paulus sagte: Sie nahm Ihn auf, der durch Wasser und Blut kam, und glaubte an den Namen Jesu Christi.
Es ist gut, die besondere Form des Werkes der Gnade in den Menschen zu beobachten: Zwei scheinen nie genau gleich zu sein. Es ist nicht nur so, dass die Menschen sich unterscheiden, sondern dass der Geist Gottes dem Fall einen neuen Charakter gibt, während alle einst gleich verlorene Sünder waren und derselbe Christus alles und in allen ist. Jeder hat jedoch seine eigene Individualität, und Gott hält die Ehrung des schwächeren Gefäßes nicht zurück, sondern teilt seine Freude in Liebe mit, indem Er die besonderen Umstände eines solchen, wie hier vor uns, ausführlich beschreibt. Ohne Zweifel wurde ihr Gewissen geübt, sie tat Buße vor Gott. Wenn dies nicht schon vorher der Fall war, so war es jetzt so, denn es gibt keine lebenswichtige Wirkung in einem Menschen ohne jenes Selbstgericht, das unsere Sünden und unseren verdorbenen Zustand anerkennt und sich an Gottes Barmherzigkeit als einzige Quelle der rettenden Hoffnung wendet. Aber die Frohe Botschaft oder das Evangelium Gottes stellt den bereits gestorbenen und auferstandenen Christus vor, so dass den Schuldigen die Vergebung der Sünden nicht nur zugesprochen, sondern auch gepredigt wird, und jeder Gläubige sich von allen Dingen gerechtfertigt wissen kann – genau das, was das Gesetz für seinen eifrigsten Anhänger nicht bewirken konnte.
Aber hier wird uns nicht von solch heftiger Trauer und Angst berichtet wie bei den jüdischen Bekehrten am Pfingsttag, die mit ihrer Schuld konfrontiert wurden, weil sie ihren eigenen Messias verworfen hatten; auch nicht von solch großer Furcht, die alle befiel, die vom Tod des Ananias und der Sapphira durch Gericht hörten; auch nicht von der großen Gnade, die die Jünger vermehrte angesichts der Verfolgungen für solche, die den Herrn Jesus lehrten und predigten. Der Herr wirkte an Lydia, indem Er ihr Herz öffnete, damit sie der Verkündigung des Paulus Beachtung schenkte. Es war nicht nur das Gebet an diesem Tag, sondern Gottes Antwort im Zeugnis der Gnade, die in Christus jeden Mangel ausfüllt und fließt, ja, überfließt, immer mehr zu seiner Ehre.
Zur Jüngerin gemacht, ließ sich Lydia taufen, wie es ihr gebührte (Joh 4,1). So lautete der Befehl des Herrn an seine Diener. Nur die männlichen unter den Juden wurden beschnitten; die Jünger, sowohl Männer als auch Frauen, wurden getauft (Apg 8,12). Nicht nur Lydia wurde getauft, sondern auch ihr Haus: „Als sie aber getauft worden war und ihr Haus“ (V. 15). Was ist damit gemeint? Wir hören nichts von Kindern oder von einem Ehemann; vielleicht war sie eine Witwe ohne Familie oder nie verheiratet. Sie hatte einen Haushalt, und wir hören (V. 40) von den Brüdern dort, also Gläubigen, und wahrscheinlich nicht nur Männern, sondern auch Frauen. Von kleinen Kindern hören wir nichts; und der göttliche Bericht, der in anderer Hinsicht völlig und bis ins kleinste Detail bewundernswert genau ist, deutet nicht einmal etwas dergleichen an, so dass die Kühnheit der Tradition, des Verstandes, des Willens, die aus diesem Bericht einen Grund für die Annahme von Säuglingen in diesem Fall jedenfalls ableiten würde, so dreist und offensichtlich wie unberechtigt ist.
Daher sagt Meyer, der fähigste moderne Kommentator der lutherischen Kirche, ehrlich, im Gegensatz zu all seinen kirchlichen Vorurteilen:
Wenn jüdische oder heidnische Familien Christen wurden, konnten die Kinder in ihnen nur in den Fällen getauft werden, in denen sie so weit entwickelt waren, dass sie ihren Glauben an Christus bekennen konnten und ihn auch tatsächlich bekannten; denn das war die allgemeine Voraussetzung für den Empfang der Taufe (siehe auch V. 31.33; Apg 18,8). Im Gegenteil, wenn die Kinder nicht glauben konnten, nahmen sie nicht an dem Ritus teil, weil ihnen das fehlte, was die Handlung voraussetzte. Die Kindertaufe ist nicht als eine apostolische Einrichtung anzunehmen, sondern entstand allmählich in der nachapostolischen Zeit, nach frühem und lang anhaltendem Widerstand, in Verbindung mit bestimmten Ansichten der Lehre, und wurde erst nach der Zeit des Augustinus in der Kirche allgemein. Die Verteidigung der Kindertaufe übersteigt das Gebiet der Exegese und muss der Dogmatik überlassen werden.
Man könnte noch andere hochrangige Persönlichkeiten hinzufügen, die selbst Kindertäufer sind und freimütig zugeben, dass es weder hier noch später im Kapitel noch in 1. Korinther 1 den geringsten Beweis dafür gibt, dass irgendjemand getauft wurde, außer Bekennern Christi, und dass die Taufe von Kindern keine biblische Rechtfertigung hat. Aber dies nur nebenbei.
Lydias Herz, vom Herrn geöffnet, ging hinaus zu seinen Dienern. Sie „bat sie und sagte: Wenn ihr urteilt, dass ich dem Herrn treu bin, so kehrt in mein Haus ein und bleibt. Und sie nötigte uns“ (V. 15). Die Liebe Christi war da und machte sie, wenig wissend um den Wert ihrer gnädigen Aufdringlichkeit in seinen Augen, zu einer Mithelferin der Wahrheit (3Joh 8).
Eine weitere Lektion von weitreichender praktischer Bedeutung sollte offensichtlich sein: die tiefe Gleichgültigkeit nicht nur gegenüber den Menschen, sondern auch gegenüber dem Herrn in der Weigerung, „zu richten“, die dem Fleisch gefällt und die Weltkirche charakterisiert, sei sie katholisch oder protestantisch, episkopalisch, presbyterianisch oder irgendetwas anderes, das nicht auf dem bekennenden Christus Gottes und dem von Gott gegebenen Heiligen Geist beruht (Mt 16,16-18; Apg 11,17). Zweifellos plädieren Menschen dafür, dass wir nicht urteilen dürfen, oder dass wir ein Urteil der Nächstenliebe ausüben müssen: beide Verteidigungen sind gleichermaßen ignorant, pervers und böse. Sicherlich sollten wir niemals tadeln, niemals schlechte Motive unterstellen, wo böses Verhalten nicht offensichtlich ist. Aber es ist ebenso ungläubig und herzlos, für solche, die wissen, dass der Glaube an Gottes Zeugnis für Christus der Wendepunkt des Übergangs vom Tod zum Leben – dem ewigen Leben – ist, die Unterscheidung in dieser Hinsicht aufzugeben oder zu vernachlässigen. Unser ernstes Urteil, wenn wir uns vom Wort leiten lassen, ist, dass der Tod der Zustand aller ist, unser Urteil der Nächstenliebe und unsere Freude sind, dass sie nur durch und von und in Christus leben, die aus Gnade sein Wort hören; wie wir sie daraufhin in seinem Namen ermahnen, dass sie fortan nicht sich selbst leben sollen, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist.