Behandelter Abschnitt Joh 4,7-10
Da kommt eine Frau aus Samaria, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken! (Denn seine Jünger waren weggegangen in die Stadt, um Speise zu kaufen.) Die samaritische Frau spricht nun zu ihm: Wie bittest du, der du ein Jude bist, von mir zu trinken, die ich eine samaritische Frau bin? (Denn die Juden verkehren nicht mit den Samaritern.)
Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du die Gabe Gottes kenntest und wüsstest, wer es ist, der zu dir spricht: Gib mir zu trinken, so hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben (4,7–10).
Er, der das Herz erschaffen hat, kennt den Weg zu seinen Zuneigungen genau. Und welche Gnade kann Er nicht zeigen, der gekommen ist, um eine neue und göttliche Natur zu geben, sowie Gott in der Liebe zu offenbaren, wo es nichts als Sünde, das eigene Ich und Unruhe gab? Gott bittet in der Niedrigkeit des Menschen die samaritanische Frau um einen Gefallen, um einen Schluck Wasser; aber es war, um ihr das Herz für ihre Bedürfnisse zu öffnen und ihr das ewige Leben in der Kraft des Heiligen Geistes, die Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus zu geben. „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße dessen, der frohe Botschaft bringt, der Frieden verkündigt, der Botschaft des Guten bringt, der Rettung verkündigt, der zu Zion spricht: Dein Gott herrscht als König!“ (Jes 52,7). So hat es der Geist der Weissagung durch Jesaja vor langer Zeit gesagt; und so wird es sich nach und nach in seiner Fülle entfalten, wie es auch jetzt schon im Prinzip ist. Aber welch ein Anblick für Gott und auch für den Glauben ist es, wenn der Sohn Gottes, der durch den eifersüchtigen Hass und die Verachtung der Menschen, seines eigenen Volkes, das Ihn nicht aufnahm, vertrieben wurde, sich mit einer unglücklichen Samariterin beschäftigt, die ihr Leben auf der Suche nach dem Glück, das sie nie fand, verbraucht hatte! Überrascht fragt sie, wie ein Jude von jemand wie sie etwas erbitten konnte: Was hatte sie empfunden? Hatte sie damals begriffen, wer Er war, und dass Er genau wusste, was sie war? Und wie beruhigend war es für sie, als sie nachher auf den Weg zurückblickte, auf dem Gott sie an jenem Tag in gnädiger Weisheit geführt hatte, damit sie Ihn für immer erkennen würde!
Er sprach zu ihr allein. Und Er begann in ihrer Seele sein Werk für den Himmel, für die Ewigkeit, für Gott. Er wirkte kein Wunder äußerer Art vor ihren Augen, kein äußeres Zeichen ist nötig. Der Sohn Gottes spricht in der göttlichen Liebe, wenn auch (wie wir sehen werden) erst dann, wenn das Gewissen erreicht und erwacht ist. Das Gesetz ist gut, wenn man es gesetzmäßig gebraucht, wobei man weiß, dass es nicht auf den Gerechten angewendet wird, sondern auf den Gesetzlosen und Ungehorsamen, auf den Ungläubigen und Sünder, kurz auf alles, was der gesunden Lehre entgegengesetzt ist.
Doch Christus ist das Beste von allem als die Offenbarung Gottes in der Gnade, die alles gibt, was nötig ist, die das hervorbringt (nicht sucht), was sein sollte, nicht um auf die absolut notwendige Lektion dessen, was wir sind, zu verzichten, sondern um uns zu befähigen, sie zu ertragen, jetzt, da wir wissen, wie wahrhaftig Gott selbst sich in vollkommener Liebe um uns kümmert, trotz allem, was wir sind.
Das ist die wahre Gnade Gottes. Kein Irrtum ist vollständiger und gefährlicher als die Vorstellung, dass die Gnade die Sünde übersieht. War es ein leichter Umgang mit unseren Sünden, als Christus sie an seinem eigenen Leib auf dem Holz trug? Hat das Gesetz jemals einen solchen Schlag gegen einen Sünder geführt, wie Gott, als Er seinen eigenen Sohn in der Gestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleisch verurteilte und so „keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind“ brachte? (Röm 8,1-3). Nein, es war ausdrücklich das, was das Gesetz nicht tun konnte. Das Gesetz konnte den Sünder mit seinen Sünden verdammen; aber Gott hat so in Christus nicht nur die Sünden, sondern die Wurzel des Bösen – die Sünde im Fleisch – verurteilt, und das in einem Opfer für die Sünde, so dass diejenigen, die sonst nichts als Verdammnis verdient hatten, innerlich und äußerlich, in der Vergangenheit und in der Gegenwart, in der Natur wie in den Wegen, jetzt durch die Gnade „keine Verdammnis“ haben. Alles, was verdammt werden konnte, ist verdammt worden; und sie sind in Christus, und sie wandeln nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist. Dies ist nun das Gesetz der Freiheit.
Hier gab es zweifellos noch keine solche Stellung, und folglich war sie auch für niemanden möglich. Aber der Sohn handelte und sprach hier in der Fülle der Gnade, die bald alles für den Gläubigen vollbringen und ihm alles geben würde. Dennoch lässt Er die Samariterin wissen, dass sie nichts wusste. Denn wie groß auch immer seine Güte sein mag (und sie ist unbegrenzt), die Gnade verschont die Anmaßung des Menschen nicht; und die Offenbarung, die sie von Gott und über Gott bringt, tritt nie wirklich ein, bis man sich selbst verurteilt hat. Samaria und Jerusalem sind gleichermaßen unwissend über die Gnade; und nur Christus kann das Herz durch den Geist öffnen, damit es sich beugt und sie empfängt. „Wenn du die Gabe Gottes kenntest“ – das ist die Realität und das Wesen Gottes im Evangelium.
Er ist nicht jemand, der fordert, sondern er ist ein Geber. Er befiehlt nicht mehr dem Menschen nicht, Ihn zu lieben, sondern er verkündet seine Liebe zum Menschen – ja, zum erbärmlichsten aller Sünder. Er verlangt nicht die Gerechtigkeit des Geschöpfes, sondern offenbart seine eigene. Aber der Mensch ist langsam zu glauben, und der religiöse Mensch am langsamsten zu verstehen, was nichts aus ihm selbst und alles aus Gott macht. Aber so ist das Wort der Wahrheit, das Evangelium unserer Erlösung; so ist die Freigebigkeit Gottes, die der Herr damals der Frau von Samaria sowohl offenbarte als auch verkündete.
Aber da war und ist noch mehr. Das Wissen um die Gabe Gottes, im Gegensatz zum Gesetz einerseits oder zur blanken Unwissenheit über seine tätige Liebe andererseits, ist untrennbar mit dem Glauben an die persönliche Würde des Sohnes Gottes verbunden. Deshalb fügt der Heiland, ganz demütig, wie Er war, hinzu: „und wüsstest, wer es ist, der zu dir spricht: Gib mir zu trinken.“ Denn ohne dies wird nichts richtig erkannt. Jesus ist die Wahrheit und bleibt immer die Prüfung für einen Menschen, die umso entschiedener und mit anbetendem Dank die Herrlichkeit dessen anerkennt, der, wahrer Gott, in unendlicher Liebe Mensch wurde, damit wir in Ihm das ewige Leben haben können. Denn anders, so dürfen wir kühn sagen, ist es nicht möglich. Die Wahrheit ist ausschließlich und unveränderlich; sie ist nicht nur die Offenbarung dessen, was ist, sondern dessen, was allein sein kann und sein muss, in Übereinstimmung mit der wahren Natur Gottes und dem Zustand des Menschen. Und doch handelt Gott in seiner eigenen Freiheit, denn seine Liebe ist immer frei und heilig; und die Wahrheit kann nur sein, was sie ist; denn Er ist es, der diese Liebe im Menschen zu den Menschen in all ihrer Sünde und ihrem Tod und ihrer Finsternis herabgebracht hat.
Es ist die Offenbarung Gottes an den Menschen in Ihm, der sich, obwohl Er der Sohn Gottes ist, sich so tief herabneigte, um den Bedürftigsten und Beflecktesten und Gottfernsten zu segnen und ihn um einen Trunk Wasser zu bitten, damit Er darin die Gelegenheit finde, auch so jemandem lebendiges Wasser zu geben. Auch deshalb unterlässt Er es nicht, als Konsequenz zu sagen: „Wenn du die Gabe Gottes kenntest und wüsstest, wer es ist, der zu dir spricht: Gib mir zu trinken, so hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.“ Denn die Gnade, die wahrhaftig in Christus erkannt ist, bringt das Vertrauen in die Gnade hervor und bewegt das Herz, um die größte Wohltat von Ihm zu erbitten, der niemals unter, sondern über der höchsten Stellung steht, die Ihm verliehen werden kann. Niemals kann der Glaube des Menschen dem Reichtum der Gnade Gottes gleichkommen, geschweige ihn übertreffen. „Wenn nun ihr, die ihr doch böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird der Vater, der vom Himmel ist, den Heiligen Geist denen geben, die ihn bitten!“ (Lk 11,13). Wenn einer schuldigen Samariterin vom Sohn Gottes zugesagt wird, dass sie, da sie die Gabe Gottes kennt und weiß, wer Er ist, der sie um Wasser bat, als sie müde am Brunnen stand, nur von Ihm zu bitten brauchte, um lebendiges Wasser zu empfangen, so hatte doch keiner, der so bat und empfing, auch nur annähernd ein angemessenes Verständnis für diesen unendlichen Segen – den Heiligen Geist, der dem Gläubigen gegeben wird.
Das ist das lebendige Wasser, von dem Christus hier spricht – nicht Macht in der Gabe, noch einfach ewiges Leben, sondern der vom Sohn gegebene Geist, um im Gläubigen als die Quelle der Gemeinschaft mit sich selbst und dem Vater zu wohnen.