Behandelter Abschnitt Lk 23,1-25
Als nächstes haben wir die Begebenheit vor dem römischen Statthalter. So herzlos er auch war und so wenig Gewissen er hatte, so sehr zeichnete sich der Eigensinn der Juden aus. „Und die ganze Menge von ihnen stand auf, und sie führten ihn zu Pilatus. Sie fingen aber an, ihn anzuklagen, indem sie sagten: Diesen haben wir befunden als einen, der unsere Nation verführt und wehrt, dem Kaiser Steuer zu geben, und sagt, dass er selbst Christus, ein König, sei“ (V. 1.2). So waren sie, die unter dem römischen Joch wirklich ungeduldig waren und von Zeit zu Zeit in stürmische Opposition ausbrachen, hier unter dem Vorwand der Loyalität. Aber das war eine Kleinigkeit im Vergleich zu der Blindheit des Unglaubens, womit sie ihren eigenen Messias verleugneten. Noch falscher könnte ein Vorwurf nicht sein. Er hatte sich von ihnen abgewandt, als sie Ihn zum König machen wollten. Er hatte nur kurz zuvor ausdrücklich befohlen, dass sie dem Kaiser das geben sollten, was des Kaisers ist, nicht weniger als Gott das, was Gottes ist.
Es ist zu beachten, dass, als Pilatus ihn fragte und sprach: „Bist du der König der Juden? Er antwortete und sprach: Du sagst es“ (V. 3). Der Herr erkannte die von Gott verordnete Autorität an, wie immer Er sie auch erleiden mochte. Das ist der wahre Schutz des Glaubens, mag die Autorität auch noch so ungläubig sein. Wir sind berufen, in seinen Schritten zu wandeln. Wir sind nicht von der Welt, so wie Er nicht von der Welt ist. Nach und nach werden wir mit Ihm herrschen und die Welt richten. Wir werden sogar Engel richten. Umso mehr sind wir über die Welt im Geist berufen, um in ihr der Autorität Gottes unterworfen zu sein: Nur müssen wir Gott mehr gehorchen als den Menschen und deshalb leiden, wo sein Wille und die Autorität der Welt in Gegensatz zueinander geraten. So bezeugt der Herr hier ein gutes Bekenntnis, und unterwirft sich allen Konsequenzen.
Aber es ist auffallend zu beobachten, dass das Bekenntnis des Herrn zur Wahrheit (denn in der Tat war Er der König der Juden) seiner Sache nicht vor dem römischen Statthalter schadete, sondern bei seinem eigenen Volk, das gegen die Wahrheit verblendet war. Im Gegenteil: „Pilatus aber sprach zu den Hohenpriestern und den Volksmengen: Ich finde keine Schuld an diesem Menschen. Sie aber bestanden darauf und sagten: Er wiegelt das Volk auf, indem er durch ganz Judäa hin lehrt, angefangen von Galiläa bis hierher“ (V. 4.5). Satan trieb den Unglauben Israels bis zum Äußersten. So ist es schließlich immer mit seinen Opfern. Christus, in der Fülle seiner Gnade und Wahrheit, bringt gründlich ans Licht, was im Menschen ist, weil Er Gott einbezieht. „Als aber Pilatus von Galiläa hörte, fragte er, ob der Mensch ein Galiläer sei. Und als er erfahren hatte, dass er aus dem Gebiet des Herodes sei, sandte er ihn zu Herodes, der auch selbst in diesen Tagen in Jerusalem war. Als aber Herodes Jesus sah, freute er sich sehr; denn er wünschte schon seit langer Zeit, ihn zu sehen, weil er von ihm gehört hatte, und er hoffte, irgendein Zeichen durch ihn geschehen zu sehen. Er befragte ihn aber mit vielen Worten; er aber antwortete ihm nichts“ (V. 6–9). Das Schweigen des Herrn war eine sehr ernste Verurteilung des Herodes, während es die vollste Gelegenheit für die unverschämte Frechheit seiner Anhänger wie auch der Ankläger gab. „Die Hohenpriester und die Schriftgelehrten aber standen da und klagten ihn heftig an. Als aber Herodes mit seinen Kriegsleuten ihn geringschätzig behandelt und verspottet hatte, warf er ihm ein glänzendes Gewand um und sandte ihn zu Pilatus zurück“ (V. 10.11). Der Geist Gottes versäumt es nicht, hier die moralische Besonderheit des Vorgangs zu bemerken. Es hatte eine Fehde zwischen dem Statthalter und dem König gegeben: „Herodes und Pilatus aber wurden an demselben Tag Freunde miteinander, denn vorher waren sie gegeneinander in Feindschaft“ (V. 12). So ist es gegen Christus, dass Satan seine Verbindung in der Welt herzustellen gedenkt, wie es die Gnade Gottes durch Ihn und für Ihn tut.
Die letzte Stunde naht: „Als aber Pilatus die Hohenpriester und die Obersten und das Volk zusammengerufen hatte, sprach er zu ihnen: Ihr habt diesen Menschen zu mir gebracht, als mache er das Volk abwendig; und siehe, ich habe ihn vor euch verhört und habe an diesem Menschen keine Schuld gefunden in den Dingen, derer ihr ihn anklagt; aber auch Herodes nicht, denn ich habe euch zu ihm gesandt, und siehe, nichts Todeswürdiges ist von ihm getan worden. Ich will ihn nun züchtigen und freilassen“ (V. 13–16). Das war die gepriesene Gerechtigkeit des römischen Reiches, des Menschen schlechthin. Es gab keinen Zweifel an der Unschuld Jesu. Die Anschuldigungen des Volkes hatten sich als frei erfunden erwiesen. Der verstockte Richter konnte nicht verurteilen, sondern aus Gründen der Gerechtigkeit freisprechen. Er war bereit, etwas zuzugeben, um das Volk zufriedenzustellen, aber er war bestrebt, den Gefangenen freizulassen. Ob Vers 17 nun echt ist oder nicht, aus dem, was folgt, kann es keinen Zweifel geben, dass es Brauch war, einen Gefangenen zu dieser Zeit freizulassen.
Mehrere ausgezeichnete Autoritäten lassen den Vers weg, wie die alexandrinische, die vatikanische, die Pariser Unziale (62 und 63), mit mehreren sehr alten Versionen, während andere seine Position ändern. Dennoch enthält ihn der Sinai mit der Masse der Lesarten und einigen der besten Versionen. Im Großen und Ganzen scheint das Gleichgewicht zu seinen Gunsten zu sein, da es auch hart wäre, nach einem unerklärten Brauch zu handeln. „Er musste ihnen aber unbedingt zum Fest einen Gefangenen freilassen. Sie schrien aber allesamt auf und sagten: Weg mit diesem, lass uns aber Barabbas frei! Dieser war wegen eines gewissen Aufruhrs, der in der Stadt geschehen war, und wegen eines Mordes ins Gefängnis geworfen worden“ (V. 17–19). So war die Wahl der Menschen, so wertvoll war ihre Loyalität gegenüber dem Kaiser, so sehr achteten sie das Leben eines Mitgeschöpfes, das nach seinem Bild geschaffen war. Ein Rebell und ein Mörder wurde Jesus vorgezogen! „Pilatus rief ihnen aber wieder zu, da er Jesus freilassen wollte. Sie aber schrien dagegen und sagten: Kreuzige, kreuzige ihn! Er aber sprach zum dritten Mal zu ihnen: Was hat dieser denn Böses getan? Ich habe keine Todesschuld an ihm gefunden. Ich will ihn nun züchtigen und freilassen. Sie aber bedrängten ihn mit großem Geschrei und forderten, dass er gekreuzigt würde. Und ihr und der Hohenpriester Geschrei nahm überhand. Und Pilatus urteilte, dass ihre Forderung geschehe. Er ließ aber den frei, der eines Aufruhrs und Mordes wegen ins Gefängnis geworfen worden war, den sie forderten; Jesus aber übergab er ihrem Willen“ (V. 20–25).
So wurde die ganze Welt vor Gott schuldig gesprochen, aber keiner war so tief verstrickt wie die, die es am wenigsten wurden. Die Menschen, die das Gesetz hatten, fielen unter seinen Fluch, nicht nur, weil sie seinen Anforderungen ungehorsam waren, sondern, was am schlimmsten war, weil sie entschlossen waren, ihren eigenen Messias zu verwerfen und in den Tod zu bringen, und dies, als die Nationen ihn freilassen wollten. So erwies sich die Welt, wo die Wirklichkeit durch Ihn, den allein Wirklichen, Heiligen und Wahren, hervortrat. Kein Raum mehr für Prahlerei: Es gab sie nie, in Wahrheit, aber jetzt ist sie offensichtlich und kann von dem, der das Wort Gottes richtig liest, nicht geleugnet werden.16
16 Dean Alford bemerkt, dass Lukas die Geißelung und Verspottung Jesu auslässt. Es ist gut möglich, dass er die Verspottung weggelassen hat, weil er einen ähnlichen Vorfall vor Herodes erzählt hatte; aber wie soll man das von der Geißelung sagen, wenn er eine Erzählung gesehen hat, die sie enthielt? Der Bruch zwischen den Versen 25 und 26 ist äußerst hart, und wenn Lukas Material gehabt hätte, um ihn auszufüllen, so hätte er es zweifellos getan. Wahrlich, der Unglaube ist nicht auf die Ungläubigen beschränkt und ist meiner Meinung nach bei den Gläubigen noch schlimmer, da er weniger konsequent ist. Die Argumentation ist so schwach, wie die Anmaßung unentschuldbar ist, selbst wenn die Verse 16 und 23 nicht beweisen würden, dass die Geißelung seitens Pilatus deutlich erwähnt ist. Die Inspiration gibt nicht alles wieder, was bekannt war, sondern der Heilige Geist wählt Tatsachen und Worte entsprechend dem göttlichen Plan in jedem Schreiber aus. Wir wissen ausdrücklich vom letzten der Evangelisten, dass viel mehr bekannt war, als aufgezeichnet wurde (Joh 20,30.31). Die Natur des Entwurfs bei Lukas schließt die Einzelheit der heidnischen Ungerechtigkeit aus, und erklärt durch die moralische Absicht des Geistes diese Auslassung, die so unwürdig, und ich möchte hinzufügen, unverständlicherweise, der Unwissenheit des Schreibers zugeschrieben wurde. Einen Bruch, der dem Heiligen Geist zuzuschreiben ist, „hart im Äußersten“ zu nennen, muss ich jedem frommen Leser überlassen, zu charakterisieren (B. T.).↩︎