Behandelter Abschnitt Lk 19,1-10
Der Bericht über Zachäus ist einer derer, die Lukas eigen sind; und wir können leicht sehen, wie eindrucksvoll er das moralische Ziel des Geistes in diesem Evangelium fördert. Auch der Zusammenhang kann sofort nach demselben Prinzip erklärt werden, wenn man wie ich annimmt, dass sich die Tatsachen ereigneten, während der Herr durch Jericho zog, während der Blinde Bartimäus das Augenlicht erst auf dem Weg nach draußen erhielt. Aber es schien dem Heiligen Geist hier, wie oft in ähnlicher Weise an anderer Stelle, gut zu sein, den Bericht von Zachäus mit dem folgenden Gleichnis in eine solche Stellung zu bringen, dass sie den allgemeinen Charakter nicht nur seines ersten, sondern auch seines zweiten Kommens veranschaulicht und dadurch so manchen falschen Gedanken korrigiert, in den die Menschen, ja die Jünger, damals und seitdem abzurutschen neigten. „Und er kam hinein und zog durch Jericho. Und siehe, da war ein Mann, mit Namen Zachäus, und dieser war ein Oberzöllner, und er war reich. Und er suchte Jesus zu sehen, wer er wäre; und er vermochte es nicht wegen der Volksmenge, denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. Und als er an den Ort kam, sah Jesus auf und erblickte ihn und sprach zu ihm: Zachäus, steige eilends herab, denn heute muss ich in deinem Haus bleiben“ (V. 1–5).
Der Herr hatte bereits in Gleichnissen die göttliche Gnade grundsätzlich für den verlorenen Sünder vorgestellt, vor allem im verlorenen Sohn. Jetzt haben wir die tatsächliche Geschichte eines Zöllners, eines Oberzöllners und eines reichen Mannes, dem die Gnade noch am selben Tag das Heil schickte. Aber hier ist es gut zu unterscheiden, was oft übersehen wird. Einige behaupten, dass Zachäus ein Mann ohne Gottesfurcht und nicht bekehrt war; andere vergleichen ihn mit Simeon im Tempel. Wir sollten nicht vergessen, dass das Heil mehr ist als die neue Geburt, dass es damals nur durch den Messias verkündet werden konnte und dass es jetzt kraft der Erlösung durch den Glauben an seinen Namen weit und breit verkündet wird. Es ist der primäre christliche Segen, den ein Mensch braucht und in einem gestorbenen und auferstandenen Christus empfängt; aber er sollte niemals mit jener Erweckung verwechselt werden, die die Belebung durch den Geist begleitet. Wie das richtige Verständnis dessen viele Schwierigkeiten ausräumt, die durch die in der Christenheit vorherrschende Verwirrung von den Tagen der „Väter“ bis in unsere Zeit hinein entstanden sind, so wird es auch hier als hilfreich empfunden werden.
Der Herr rechtfertigte die Gnade Gottes gegenüber jemandem, der sich in der denkbar schlechtesten Stellung befand, nämlich der Verachtung des stolzen Pharisäers. Er, der sich gegen die vielen Hindernisse auf dem Weg wehrte, der nicht zögerte, allen Dünkel der Würde abzulegen und allem Spott zu trotzen, um Jesus zu sehen, hörte mit Erstaunen die Stimme des guten Hirten, der seine Schafe mit Namen rief und sich selbst einlud, in seinem Haus zu bleiben. Gewiss war Er kein anderer als der Messias, der so alles sagen konnte und so den Wunsch eines Herzens erfüllen würde, das auf eine solche Ehre nicht zu hoffen wagte. Welch ein Wunder und doch kein Wunder! – Er, der alles wusste, kannte Zachäus; Er, der die samaritische Frau, deren Leben Er kannte, um einen Trank bat, bat selbst um einen Besuch im Haus des Oberzöllners. Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes eingeht; so dass sie, die es hörten, sagten: „Wer kann dann gerettet werden?“ Nun beweist Er, was Er dann antwortete, dass das, was bei Menschen unmöglich ist, bei Gott möglich ist; denn gewiss ging Er in das Haus, nicht um etwas zu empfangen, sondern um etwas zu geben.
Aber nichts ist dem Menschen so unverständlich wie die Gnade Gottes. „Und als sie das sahen, murrten sie alle und sagten: Er ist eingekehrt, um sich bei einem sündigen Mann aufzuhalten“ (V. 7). Wie gesegnet, dass Er das so tun konnte und wollte! Wie hoffnungslos die Leere für uns, wenn es nicht so wäre! Es entspricht seiner Liebe, so mit denen umzugehen, die nicht den geringsten Anspruch haben. „Zachäus aber trat hinzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und wenn ich von jemand etwas durch falsche Anklage genommen habe, erstatte ich es vierfach. Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Haus Heil widerfahren, da ja auch er ein Sohn Abrahams ist; denn der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist“ (V. 8–10). Es ist nicht so, dass der Herr den Bericht des Oberzöllners über seine Gefühle und sein Verhalten in Verruf gebracht hätte. So war sein Charakter, so waren seine Gewohnheiten, zweifellos in einer leidvollen Stellung, mit einem empfindlichen, wenn nicht skrupellosen Gewissen. Aber warum dies vor dem, der bereits bewiesen hatte, dass alles seinem Herzen bekannt war, das nicht falsch urteilen konnte? Warum sogar von dem reden, was der Geist in Gegenwart der heilsbringenden Gnade Gottes bewirkt hatte? Der Herr leugnete trotz des Berufes des Oberzöllners nicht, dass auch er ein Sohn Abrahams war; aber wenn Er selbst der Messias war und sich gerade jetzt so zum letzten Mal auf der Erde präsentierte, beginnend in Jericho, war Er der Sohn des Menschen in Gnade und Erniedrigung auf dem Weg zum Tod, ja, zum Tod des Kreuzes; der Sohn des Menschen, der gekommen war, zu retten, was verloren ist. Was war sonst noch der Rede wert? An diesem Tag war die Rettung in sein Haus gekommen.