Behandelter Abschnitt Lk 17,20-21
Das Reich Gottes war die nationale Hoffnung Israels. Es war vor den Augen aller, die nach dem Guten Gottes Ausschau hielten. Es war mit der Gegenwart des Messias verbunden. Das ist die Art und Weise, wie das Königreich im Alten Testament vorgestellt wird. Auch das Neue Testament setzt dies keineswegs beiseite, sondern bestätigt die Erwartung: nur zeigt es das Reich in einer anderen Gestalt, bevor es in Macht eingeführt wird, wenn der Herr in Herrlichkeit wiederkommt.
Davon aber wussten die Pharisäer nichts. Sie verlangten von Ihm Antwort, wann das Reich Gottes kommen solle, und dachten dabei nur an das, was offenbar werden würde, wenn die Juden von all ihren Wanderungen zurückgebracht und in ihrer vollen Nationalität in das Land unter dem Messias und dem neuen Bund wiederhergestellt werden würden. Der Herr zeigt, wie im ganzen Lukasevangelium, etwas mehr und Tieferes, etwas, das den Glauben verlangt, bevor das Königreich in Kraft gesetzt wird. Deshalb antwortet er ihnen: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte“ (V. 20). Das war das, was jetzt zu wissen moralisch wichtig war. Das Reich würde sicher so kommen, wie sie es zu seiner Zeit erwarteten, und das lässt uns der Herr danach deutlich erkennen. Aber zuerst besteht Er, wie es Gott am meisten entsprach, auf dem, was sie nicht wussten, und was sie am meisten betraf, das zu wissen: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte“ (vgl. Mt 24,23) oder äußere Erscheinung. „Noch wird man sagen: Sieh hier!, oder: Dort! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“ (V. 21).
Darüber waren sie völlig unwissend, und diese Unwissenheit ist verhängnisvoll: Denn sie kannten den König Gottes nicht, als Er die wahre Macht des Reiches im Sieg über Satan und über alle Folgen der Unterwerfung des Menschen unter die Schwachheit in dieser Welt offenbarte – als Er es positiv in Gerechtigkeit und Frieden und Freude im Heiligen Geist, dem abhängigen und gehorsamen Menschen, offenbarte, sondern in der unfehlbaren Kraft Gottes, die durch Ihn wirkte. Für all dies waren sie blind; sie schätzten es nicht, weil sie Gott nicht schätzten. Sie begehrten als Nation das, was sie erheben und ihre Feinde stürzen würde; sie begehrten nicht das, was Gott erhöht und den Menschen erniedrigt.
Der Herr begegnet also in dieser seiner Antwort zunächst dem moralischen Bedürfnis der Pharisäer und zeigt, dass es jetzt, von der Zeit seiner Verwerfung bis zu seiner Wiederkunft in Herrlichkeit, im wichtigsten Sinn nicht um ein Siehe hier und siehe dort geht, sondern um den Glauben, die Herrlichkeit seiner Person zu besitzen und zu erkennen, dass die Kraft, die wirkt, von Gott ist: „das Reich Gottes ist mitten unter euch“. Es war in ihrer Mitte, und sie sahen es nicht, weil sie Ihn nicht sahen. Sie dachten wenig an Jesus. Das ist das Verderben für jeden Menschen, der das Zeugnis hört, aber ablehnt.
Man wird feststellen, dass es das Reich Gottes ist, nicht das Reich der Himmel. Es wird nie gesagt, während Jesus hier war, dass das Reich der Himmel gekommen war; aber Matthäus bestätigt diesen Bericht bei Lukas, wenn das nötig wäre, und stellt den Herrn so dar, dass er sagt: „Wenn ich aber durch den Geist Gottes die Dämonen austreibe, so ist also das Reich Gottes zu euch gekommen“ (Mt 12,28). Der Charakter der Kraft verkündete das Reich Gottes. Er war der Sieger über Satan und trieb seine Diener aus: Kein anderer als der Nachkomme der Frau, der Sohn Davids, konnte das tun. Das war Ihm vorbehalten (Mt 28,18). Andere konnten es, als Gottes Diener, aber Er, als der Geliebte, an dem seine Seele Wohlgefallen fand. Die, die den Teufel austrieben, waren durch Gottes gnädigen Gebrauch von ihnen, ihre Richter. Der Satan ist nicht gegen den Satan: sonst würde sein Reich zerfallen. Aber der Messias war damals da, der König des Reiches Gottes, und doch erkannten die Juden Ihn nicht. Sie verwarfen Ihn, und Er nimmt seine eigene Verwerfung an, wird aber im Himmel erhöht.
Damit beginnt das Reich der Himmel, die Herrschaft des Himmels über die Erde, die jetzt nur dem Glauben wirklich bekannt ist. Es ist die Verantwortung der Getauften, entsprechend zu wandeln. So entsteht in der Tat das, was man gemeinhin die Christenheit nennt, das große Feld, auf dem nicht nur Weizen, sondern auch Unkraut wächst (Mt 13). Es wird natürlich auch das Reich Gottes genannt, wie immer bei Lukas. Matthäus allein spricht vom Reich der Himmel, aber er spricht nie vom Reich der Himmel, außer als gepredigt oder verheißen, bis der Herr die Erde verließ.
Kurzum, das Reich Gottes war da, als Christus da war, der Sieger über Satan, der in jeder Richtung moralisch die Kraft des Geistes anzeigte. Aber das Reich der Himmel war nicht da, bis Er vom Himmel aus seine Herrschaft über die Erde einführte. Wenn Er in Herrlichkeit wiederkommt, wird es immer noch das Reich der Himmel sein: Die Herrschaft der Himmel wird niemals verlorengehen, schon gar nicht, wenn das Reich in Macht und Herrlichkeit kommt.