Behandelter Abschnitt Lk 10,25-28
Der gewaltige Wechsel vom Gesetz zur Gnade wurde in der nun folgenden Begebenheit bemerkenswert dargelegt; und zwar umso mehr, als das Gesetz nun direkt eingeführt wurde, um zu zeigen, was der Mensch unter den Gesetz war, und dass es nichts gibt, was das Gesetz wirklich erfüllt, sondern nur die Gnade. Solche, die nur das Gesetz vor Augen haben, erfüllen es nie; sie reden nur davon und würden ihr Selbstgericht durch Verachtung anderer verdecken, wenn sie könnten. Solche, die unter der Gnade stehen, sind die Einzigen, die es erfüllen (Röm 8,3.4); aber sie tun noch viel mehr. Sie verstehen, was der Gnade angemessen ist, während in ihnen die Gerechtigkeit des Gesetzes erfüllt wird. „Und siehe, ein gewisser Gesetzgelehrter stand auf, versuchte ihn und sprach: Lehrer, was muss ich tun, um ewiges Leben zu erben?“ (V. 25). Er fragte nicht: Was soll ich tun, um gerettet zu werden? Das Gesetz nimmt weder das Verderben eines Sünders an, noch bietet es die Erlösung. Es kann sich nur an die Fähigkeit des Menschen wenden, wenn er sie denn hat. Das Gesetz richtet sich an diejenigen, die annehmen, dass der Mensch tun kann, was Gott verlangt; und folglich ist es von Seiten Gottes ein Gebot dessen, was Ihm gebührt, was Er nicht anders verlangen kann, wenn sie eine solche Grundlage vor Ihm einnehmen. Das Maß der Pflicht, auf das Gott den Menschen hinweist, der sich für fähig hält, es zu tun, ist das Gesetz.
Der Gesetzgelehrte fragt Ihn also als Lehrer, was er tun soll, „um ewiges Leben zu erben.“ Der arme Kerkermeister mit dem gebrochenen Herzen in Philippi stellte eine ganz andere Frage, eine, die eher zu einem Sünder passt, nämlich was er tun soll, um gerettet zu werden. Der Gesetzgelehrte war nicht aufrichtig; er war ein reiner Theoretiker. Es war ein Thema für eine Debatte oder ein Argumentieren. Es gab keine wirkliche Sorge um seine Seele, kein Empfinden für seinen eigenen Zustand oder dafür, was Gott ist. „Er aber sprach zu ihm: Was steht in dem Gesetz geschrieben? Wie liest du?“ (V. 26), denn als er diese Grundlage einnahm, etwas zu tun, um das ewige Leben zu erben, hatte er sich wirklich dem Gesetz verschrieben. So antwortet der Herr in seiner Weisheit dem Narren nach seiner Torheit. Ein Narr denkt, er könne das Gesetz halten und dass dies der Weg sei, das ewige Leben zu erben. Der Herr sagt deshalb: „Was steht im Gesetz geschrieben? Wie liest du?“, weil Er ihn von der völligen Vergeblichkeit aller Bemühungen auf diesem Gebiet überführen will. „Er aber antwortete und sprach: ,Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten wie dich selbst‘“ (V. 27). Das heißt, der ganze Mensch muss den Herrn, unseren Gott, lieben, innerlich wie äußerlich.
Das war eine ausgezeichnete Aussage zur Pflicht: Nichts konnte besser sein; aber wie hatte er es getan? Und welche Hoffnung gab es für ihn auf einer solchen Grundlage? Wenn er die Grundlage einnahm, etwas zu tun, um das ewige Leben zu erben, dann muss dies der Weg sein. Er irrte im Ausgangspunkt seiner Seele, er irrte in dem, was er über dieses große Anliegen dachte, denn er irrte sich in Bezug auf Gott; und in der Tat, wer sich in Bezug auf sich selbst irrt, muss sich auch in Bezug auf Gott irren. Der große fundamentale Unterschied einer von Gott gelehrten Seele ist der, dass sie im Bewusstsein ihrer eigenen Sündhaftigkeit auf Gott und auf seine Art und Weise blickt, daraus erlöst zu werden; während ein bloß natürlicher Mensch im Allgemeinen hofft, selbst etwas für Gott tun zu können, um Ihn unter eine Art Verpflichtung zu stellen, ewiges Leben zu geben. Das menschliche Denken leugnet immer die Gnade Gottes, da es seine eigene Sündhaftigkeit und Gnadenbedürftigkeit leugnet.
Aber die Antwort war in dieser Hinsicht in Ordnung, und der Herr sagt zu ihm: „Du hast recht geantwortet; tu dies, und du wirst leben“ (V. 28). Aber er war tot. Nun, das Gesetz behandelt den Menschen nie als tot, und deshalb gab es in alttestamentlichen Zeiten nie so etwas wie einen moralischen Tod. Wir finden nie einen Hinweis darauf, dass dies im Gesetz oder sogar bei den Propheten bekannt war. Aber in den Evangelien und Briefen wird der Mensch als tot behandelt und als jemand, der ewiges Leben braucht, das nur der Sohn Gottes geben kann. Und Er gibt es nicht durch Gesetz, sondern durch Gnade – zwei völlig entgegengesetzte Prinzipien. Deshalb ist es durch den Glauben, damit es durch Gnade sei: während sich das Gesetz an die menschliche Fähigkeit richtet, auf die der Mensch stolz ist. Er hält sich für fähig, den Willen Gottes zu tun und damit zu leben. Der Herr antwortete ihm: „tu dies, und du wirst leben“, aber da lag er falsch. Er konnte es nicht tun, und deshalb konnte er nicht leben. Er war tot, obwohl er es selbst nicht wusste, moralisch tot, während er lebte.