Behandelter Abschnitt Lk 7,18-35
Bis zum Ende von Kapitel 6 befindet sich der Herr noch innerhalb der Grenzen Israels, obwohl es zweifellos Grundsätze der Gnade gibt, die viel mehr das Hinausgehen der göttlichen Barmherzigkeit zu jedem Menschen andeuten. Doch bis zum Ende dieses Kapitels geht der Herr nicht wirklich über die gottesfürchtigen Juden hinaus, die jetzt mit Ihm verbunden sind, und auch in dem Auftrag, den die Apostel hatten. Wenn Er sammelt, sendet Er von sich aus, um zu sich zu versammeln: und ihre moralischen Eigenschaften, die sie von der Nation unterschieden, werden mit großer Betonung und direkter persönlicher Anwendung bis zum Ende dieses Kapitels dargelegt. Dann sehen wir den Glauben eines Heiden, der die göttliche Überlegenheit Christi über alle Dinge anerkennt, ob es nun um Krankheit geht oder eine örtliche Distanz hier auf der Erde. Nichts könnte zu groß für Ihn sein.
Am nächsten Tag beweist Jesus seine Macht über den Tod. Wahrhaftiger Mensch, steht Er doch sozusagen über der Natur und dem, was die Sünde als Gottes Gericht über das Volk gebracht hatte. Offensichtlich haben wir also in alldem etwas, was über Israel als das damalige Volk hinausgeht, und zwar ausdrücklich im Fall Knechtes des heidnischen Hauptmanns.
Dies führt daher zu tieferen Dinge. Die Jünger des Johannes berichteten all diese Dinge ihrem Meister, der zwei seiner Jünger rief und sie zu Jesus schickte, mit der Frage: „Bist du der Kommende, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ (V. 19). Der Herr heilte in derselben Stunde, in der sie ihr Anliegen vortrugen, „viele von Krankheiten und Plagen und bösen Geistern, und vielen Blinden schenkte er das Augenlicht“ (V. 20). „Und er antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und verkündet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen umher, Aussätzige werden gereinigt, und Taube hören, Tote werden auferweckt, Armen wird gute Botschaft verkündigt; und glückselig ist, wer irgend nicht an mir Anstoß nimmt“ (V. 22.23). Es war eine feierliche Antwort, und sie hätte für Johannes eine sehr eindrucksvolle Zurechtweisung sein müssen. Hier war jemand, der nicht seine eigene Ehre suchte, und doch konnte Er nicht anders, als auf das zu hinzuweisen, was Gott tat, denn Gott war mit Ihm. Er ging umher „wohltuend und alle heilend, die von dem Teufel überwältigt waren; denn Gott war mit ihm“ (Apg 10,38). Gott wollte dadurch ein Zeugnis haben.
Aber war es nicht traurig und demütigend, dass derjenige, der besonders dafür erweckt wurde, für Jesus Zeugnis abzulegen, von Ihm Zeugnis verlangen sollte? Und Jesus gibt im Überfluss seiner Gnade nicht nur Zeugnis für das, was Gott durch Ihn selbst tat, sondern auch für Johannes. So rühmt sich kein Fleisch in seiner Gegenwart. „Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn“ (1Kor 1,31). Johannes selbst versagte völlig in dem Ziel, zu dem er gesandt worden war, zumindest in dieser Krise. Niemand kann völlige Ablehnung ertragen als der Geist Christi; nichts anderes kann sie ungetrübt und unbefleckt überstehen. Christus ist nicht nur der große Handelnde, sondern auch der größte Leidende; und das hatte Johannes nicht erwartet. Er hatte gewusst, was Treue des Zeugnisses in einer bösen Welt bedeutet; aber das Zeugnis des Messias, dass Er leiden sollte, und daher auch er als sein Herold im Gefängnis Anteil daran haben sollte, scheint zu viel für seinen Glauben oder den seiner Jünger gewesen zu sein. Er brauchte zumindest eine Bestätigung; er brauchte einen positiven Beweis, dass Jesus der abgekündigte Messias war, für sich selbst oder für andere. Wir haben die Antwort gesehen, die unser Herr ihm gab.
Beachte hier, dass es im gewöhnlichen Dienst Jesu keinen bemerkenswerteren Punkt gab als seine Fürsorge für die Armen. Den Armen wurde das Evangelium gepredigt. Seine Sorge um sie war das genaue Gegenteil von allem, was zuvor unter den Menschen zu finden war. Wenn andere sich um die Armen kümmerten, war das nur ein Beweis für das Wirken seines Geistes in ihnen und nichts Besonderes; bei Jesus war es, wenn möglich, die Öffnung seines Herzens für sie mit größerer Innigkeit als für alle anderen, die leuchtenden Hoffnungen, die das Evangelium verkündet, die Darstellung dessen, was ewig ist, für die Augen der Gläubigen inmitten der gegenwärtigen Not unter denen, die am ehesten von ihr überwältigt werden könnten. „Und glückselig ist, wer irgend nicht Anstoß an mir nimmt“ (V. 23). Hier finden wir eine Zurechtweisung, die sicherlich auf die sanfteste Weise formuliert war; dennoch sollte es zweifellos auf das Gewissen einwirken. Johannes scheint ins Wanken geraten zu sein; aber gesegnet war derjenige, der nicht an Jesus Anstoß nahm. Es gab nichts, was jeden natürlichen Gedanken eines Juden so zermürbte, wie die Verwerfung und Schande, die den Messias oder diejenigen, die von ihm Zeugnis gaben, begleitete. Die Menschen waren darauf völlig unvorbereitet. Sie hatten lange und anstrengende Jahre auf den Messias gewartet, damit Er die Erlösung brächte. Nun, da Er gekommen war, war es zu viel für ihren Glauben, dass das Böse scheinbar ungestraft auf seine Diener und sogar auf Ihn selbst fallen sollte – dass sie und auch Er von den Menschen verachtet werden sollten. Sie nahmen an Ihm Anstoß.
Das Christentum, so möchte ich sagen, hat der Darstellung all dessen bedeutenden Raum gegeben. In der Tat, es ist die Herrlichkeit und der Segen des Christen. Er stolpert nicht über die Verwerfung Christi. Er sieht das Kreuz im Licht des Himmels, nicht der Erde; er kennt seine Bedeutung für die ewigen Dinge. Die gegenwärtigen Dinge sind nicht die Frage. Gott hat die unsichtbaren Dinge hineingebracht, und der Christ ist schon jetzt damit vertraut. Deshalb freut er sich über das Kreuz Christi und rühmt sich dessen, was den Umsturz aller natürlichen Gedanken der Menschen und das Gericht der Welt ist, was aber in Wirklichkeit durch die Gnade Gottes das Gericht über die Sünde und die Rechtfertigung seiner eigenen moralischen Herrlichkeit ist. Deshalb triumphiert der Christ in Ihm. Außerdem ist es das, was der unendlichen Gnade des Herrn Jesus Anlass gab, und an all diesen Dingen erfreut er sich. Er hat also den völligen Segen; er wird durch das Kreuz gestärkt und nimmt keinen Anstoß daran.
Als die Boten des Johannes weggehen, kann der Herr zur Rechtfertigung seines Dieners sprechen. Denn, nicht im Zusammenhang mit dem Kommenden betrachtet, sondern entsprechend dem, was gewesen war und was nun war, wer wurde unter den Menschen gefunden, der solcher Ehre würdig war? Er war kein Rohr, das vom Wind hin und her bewegt wurde; das konnten sie jeden Tag in der Wüste sehen. Er war auch kein Mann, der in weiche Gewänder gekleidet war: Solche müssen sie an den Höfen der Könige suchen, dort sind Männer zu finden, die prächtig gekleidet sind und in Üppigkeit leben. Es gibt keine moralische Erhabenheit in all diesen Dingen. Ein Prophet also war er, und viel mehr als ein Prophet. Das ist das Zeugnis Jesu: „Dieser ist es, von dem geschrieben steht: „Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, der deinen Weg vor dir bereiten wird“ (V. 27; Mal 3,1). Er war der unmittelbare Vorläufer des Messias. Gott legte eine besondere Ehre auf ihn. Es gab viele Propheten; doch es gab nur einen Johannes, nur einen, der der Bote vor seinem Angesicht sein konnte. Deshalb fügt unser Herr hinzu: „Unter den von Frauen Geborenen ist kein größerer Prophet als Johannes der Täufer“ (V. 28).
Dies aber, es sei bemerkt, hebt umso mehr den überlegenen Segen derer hervor, die in dem neuen Zustand der Dinge sein sollten, wenn die Weissagung oder unerfüllte Verheißung nicht mehr sein sollte, sondern die Grundlage des Reiches auf das Werk Christi gelegt werden sollte. Diese neue Ordnung war im Entstehen, zuerst im Glauben, dann in der Macht; und Lukas gibt dem, was dem Glauben offenbart wurde, große Kraft, weil es durch das Wort Gottes und die Kraft des Heiligen Geistes bekanntgemacht ist. Es ist noch nicht die sichtbare Offenbarung des Reiches, aber nichtsdestoweniger das Reich Gottes, das durch einen verworfenen Sohn des Menschen entstehen sollte. Die Erlösung mag die Grundlage für bessere und noch herrlichere Dinge sein, aber sie ist die Grundlage für das Reich Gottes: Und in diesem Reich war der Geringste größer als der Größte zuvor – größer sogar als Johannes. Der Geringste in jenem Reich würde sich auf die bereits vollbrachte Erlösung stützen; der Geringste würde wissen, was es heißt, zu Gott gebracht zu werden, die Sünde zu bekennen und das Gewissen zu reinigen. Johannes der Täufer konnte nur auf diese Dinge als zukünftig hinschauen. Der Christ weiß, dass sie tatsächlich gekommen sind, und durch den Glauben sein eigenes Teil ist. Er wartet nicht auf darauf; er hat sie. So ist der Kleinste im Reich Gottes größer als Johannes. „Und das ganze Volk, das zuhörte, und die Zöllner rechtfertigten Gott dadurch, dass sie mit der Taufe des Johannes getauft wurden; die Pharisäer aber und die Gesetzgelehrten machten in Bezug auf sich selbst den Ratschluss Gottes wirkungslos, weil sie sich nicht von ihm taufen ließen“ (V. 29.30). Soweit hatten sie recht. Es war ein Zeugnis für das, was kommen würde: Es war ein Bekenntnis ihrer eigenen Sünde. Soweit rechtfertigten sie Gott. Aber die Klugen und Weisen, die Religiösen, Gelehrten und Großen, die Pharisäer und Schriftgelehrten, verwarfen Ihn und „machten in Bezug auf sich selbst den Ratschluss Gottes wirkungslos“, weil sie sogar das vorbereitende Werk Johannes des Täufers ablehnten. Nachdem sie das geringere Zeugnis abgelehnt hatten, kamen sie nie zu den größeren Dingen – der Wirklichkeit Gottes. Nachdem sie das abgelehnt hatten, was ihr eigenes Gewissen als wahr hätte erweisen müssen, waren sie nicht bereit, die Gabe seiner Gnade zu empfangen.
Christus kann nur im Gewissen zur Errettung empfangen werden. Gefühl und Verstand allein reichen nicht aus. Das Gewissen muss getroffen werden. Diejenigen, deren schlafendes Gewissen in Bezug auf ihre Sünden von Gott erweckt worden war, waren nur zu froh, Christus zu empfangen. Diejenigen, deren Gewissen schlief oder nur für einen Moment geweckt wurde, wurden nie gereinigt zu Gott gebracht. Wenn Christus durch den Glauben empfangen wird, wirkt das Gewissen in Bezug auf Gott, der Verstand und das Herz freuen sich, wenn sie in den Segen empfangen und sich aneignen können, aber nicht anders. Wo keine Werk im Gewissen stattfindet, wird alles schnell aufgegeben. Sie sind nehmen Anstoß durch dieses oder jenes.
So waren die Menschen jenes Geschlechts wie gefangene Kinder, „die auf dem Marktplatz sitzen und einander zurufen und sagen: Wir haben euch auf der Flöte gespielt, und ihr habt nicht getanzt; wir haben Klagelieder gesungen, und ihr habt nicht geweint“ (V. 32). Wozu Gott auch immer rief, sie nahmen Anstoß. Wenn Er zur Freude aufrief, wollten sie nicht tanzen; wenn Er zur Trauer aufrief, wollten sie nicht weinen. Als Johannes der Täufer kam und weder Brot aß noch Wein trank, war das ein Ausdruck dafür, dass er keine Gemeinschaft haben wollte, weil es um Sünde ging (und wie könnte Gott jemanden schicken, der mit der Sünde Gemeinschaft hat?), sagten sie, er habe einen Dämon. „Der Sohn des Menschen ist gekommen, der isst und trinkt“ (V. 34a). Nun könnte es Gemeinschaft geben: der verworfene Christus ist die Grundlage aller wahren Gemeinschaft mit Gott. Aber sie sagten: „Siehe, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“ (V. 34b). Der Mensch, der gut von sich selbst denkt, betrachtet die Gnade Gottes als etwas, dass die Sünde gutheißt. Wenn Gott zur Gerechtigkeit ruft, ist sie dem Menschen zu streng; wenn Er zur Gnade ruft, ist sie ihm zu locker. In jeder Hinsicht mag der Mensch Gott nicht: Er schreckt vor dem Gesetz zurück und verachtet die Gnade. „Und die Weisheit ist gerechtfertigt vor allen ihren Kindern“ (V. 34). Die folgende Begebenheit ist ein eindrucksvoller Beweis dafür, und zwar in beiden Teilen: (1) das entsprechende Zeugnis, nicht nur in ihr, die eine Sünderin war, und jetzt ein Kind der Weisheit ist, sondern auch (2) in ihm, der den, der die Weisheit Gottes ist, nicht schätzen konnte.