Behandelter Abschnitt Lk 6,37-49
Da Lukas für die Heiden schreibt, ruft er sie einfach auf, barmherzig zu sein, wie ihr Vater barmherzig war. Das wäre selbst für solche offensichtlich, die nicht die geringste Bekanntschaft mit dem Alten Testament haben und daher nicht in der Lage sind, die zarten Anspielungen auf seinen Inhalt hier oder dort zu würdigen. Jeder Gläubige könnte die Kraft einer solchen Ermahnung wie „richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet werden“ verstehen. Die Tendenz zur Zensur, die Unterstellung böser Motive und die Gefahr der sicheren Vergeltung werden uns hier vor Augen geführt. „Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt werden“. Andererseits, sagt unser Meister: „Lasst los, und ihr werdet losgelassen werden“ (V. 37).
Es ist der Geist der Gnade in der Erfahrung von Unrecht. „Gebt, und euch wird gegeben werden“ (V. 37). Es ist der Geist der Großzügigkeit; und wer kannte je einen Geber, der nichts zu geben oder zu empfangen hatte? „Ein gutes, gedrücktes, gerütteltes und überlaufendes Maß wird man in euren Schoß geben“ (V. 38). Die Menschen sind sehr weit davon entfernt, so zu geben; und der Herr lässt es völlig offen. Es mag von Menschen oder von Gläubigen sein: Sicherlich handelt Gott so. Wer auch immer gibt, wird sein Konto sicher in der weit überragenden Güte Gottes finden. „Denn mit demselben Maß, mit dem ihr messt, wird euch wieder zugemessen werden“ (V. 38) – welches Mittel Er auch immer anwendet und zu welchem Zeitpunkt die Belohnung erfolgt.
Der erste Grundsatz, den der Herr hier aufstellt, ist die Notwendigkeit, dass ein Mensch selbst sehen muss, um andere richtig zu führen. Dies ist in der Christenheit ständig aus den Augen verloren worden. Es war nicht in gleicher Weise notwendig für das Priestertum in Israel, obwohl es Aufgaben eines Priesters gab, die Unterscheidungsvermögen erforderten, um zwischen rein und unrein zu urteilen. Dennoch lag ihre Funktion in rein äußeren Dingen, die keine geistliche Kraft erforderten. Aber im Christentum ist es nicht so, obwohl es moralische Prinzipien gibt – erste Prinzipien des täglichen Lebens –, die unveränderlich sind. Aber als Ganzes setzt das Christentum eine neue Natur und den Geist Gottes voraus. Und wer diese Natur und die Kraft des Geistes nicht hat, ist unfähig, anderen recht zu helfen.
Nun, der Dienst verlangt dies, sogar im Evangelium. Es gibt verschiedene Zustände; und wenn ein Mensch nicht sowohl durch seinen persönlichen Glauben als auch durch das Wort Gottes befähigt ist, wird er die Schrift falsch anwenden. Aber noch deutlicher ist es bei der praktischen Unterweisung und Führung von Gläubigen. Derjenige, der berufen ist, ihnen weiterzuhelfen, muss notwendigerweise von Gott gelehrt sein, nicht nur im Verstand, sondern in Herz und Gewissen, gut und gründlich mit der Schrift bekannt sein, um das Wort der Wahrheit recht zu teilen. Der Blinde kann also nicht den Blinden führen. Es ist auch nicht christlich, dass die Sehenden die Blinden führen. Das wahre Prinzip unserer Berufung ist, dass der Sehende den Sehenden leiten soll – das genaue Gegenteil davon, dass der Blinde den Blinden leitet.
Obwohl jeder Gläubige sehen soll, kann es doch sein, dass er nicht klarsieht. Er hat die Fähigkeit, aber vielleicht ist er noch nicht darin geübt worden, sie zu benutzen. Aber wenn die Wahrheit klar vorgestellt wurde, ist er in der Lage, sie ohne weiteres zu sehen, und zwar so klar wie der, der sie gelehrt hat. So steht das, was er empfängt (unabhängig von den verwendeten Mitteln), auf dem Wort Gottes und nicht auf der Autorität der Kirche oder des Lehrers. Wenn der Lehrer nicht mehr da ist oder in die Irre geht, sieht er dennoch die Wahrheit für sich selbst im Licht Gottes.
So bleibt es wahr, dass die Sehenden, die Gott dazu befähigt hat, andere zu leiten, die Sehenden lehren, die Licht genug von Gott haben, um zu folgen, und die wissen, dass sie nicht einem Menschen, sondern Gott folgen, indem sie verständig denen folgen, die von Gott gelehrt sind, und die sie nach seinem Wort leiten, dem, was sich durch den Heiligen Geist dem Gewissen empfiehlt. Der Dienst ist daher so weit davon entfernt, mit dem Christentum unvereinbar zu sein, dass er für dieses charakteristisch ist. Streng genommen war es kein charakteristisches Merkmal des Judentums. Sie hatten Priester, die ihre religiösen Angelegenheiten für sie erledigten. Christen aber haben ein Amt, um sie zu leiten und aufzumuntern und sie durch Gottes Gnade zu stärken, um das zu tun, was zum ganzen Leib gehört, von dem die Diener nur ein Teil sind. „Kann etwa ein Blinder einen Blinden leiten? Werden nicht beide in eine Grube Graben fallen?“ (V. 39). Genau das ist es, was die Christenheit, indem sie das Christentum mit dem Judentum verwechselt, schnell zu Fall bringt. Einige stellen sich auf die Seite der Untreue, andere auf die des Aberglaubens. Aber beide fallen in den Grube, auf der einen oder der anderen Seite.
Andererseits: „Ein Jünger steht nicht über dem Lehrer.“ Unser Teil ist Christus. Christus war verachtet, und wir sind es auch. Christus wurde verfolgt, und so muss sich der Jünger damit begnügen, verfolgt zu werden. Er hat Christi Anteil: wenn oben, so auch auf der Erde: „jeder aber, der vollendet ist, wird sein wie sein Lehrer“ (V. 40).
Dann gibt es noch eine andere Gefahr, und zwar die der Tadelsucht. Die Gewohnheit, immer Fehler bei anderen zu sehen, ist äußerst zu missbilligen und zu meiden. „Was aber siehst du den Splitter, der in dem Auge deines Bruders ist?“ Was ist die wahre Wurzel davon? Wo man die Gewohnheit hat, Fehler bei anderen zu sehen, übersieht man unweigerlich die eigenen. „Was aber siehst du den Splitter, der in dem Auge deines Bruders ist, den Balken aber, der in deinem eigenen Auge ist, nimmst du nicht wahr? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, erlaube, ich will den Splitter herausziehen, der in deinem Auge ist?“ (V. 41.42).
In diesem Zustand können wir anderen nicht helfen: Wir müssen zuerst mit unserem eigenen Übel fertig werden. Die Liebe würde die Not des anderen stillen: Das Selbst ist blind und beschäftigt, vergisst seine eigenen Fehler, kann aber eifrig sein, andere zu seinem eigenen Ruhm zu korrigieren – „während du selbst den Balken in deinem Auge nicht siehst?“ Unsere eigene Schuld, nicht beurteilt, hindert uns immer daran, einem anderen wirkliche Hilfe zu leisten. Wo wir uns hingegen selbst gerichtet haben, können wir nicht nur klarer sehen, sondern auch demütiger und liebevoller an die Arbeit gehen. Das ist es, was einen Menschen geistlich macht. Nichts anderes als Selbstgericht kann es jemals tun, verbunden mit dem Empfinden der großen Gnade und Heiligkeit des Herrn, die die Krone des Selbstgerichts ist, durch die Kraft des Geistes.
Doch es ist nur der Sinn für die Gnade des Erlösers und die Achtung vor seiner Heiligkeit, die das Selbstgericht hervorbringt; wie andererseits die Ausübung des Selbstgerichts unseren Sinn für diese Gnade steigert und uns in ihr hell hält, anstatt uns auf das Niveau der umgebenden Umstände und den Zustand herabzulassen, auf den uns das Erlauben des Fleisches immer reduzieren würde.
Der Herr spricht sehr streng von solchen – „Du Heuchler!“, und ich glaube, dass Tadelsucht in der Regel direkt zur Heuchelei neigt. Sie führt dazu, dass Menschen den Schein eines geistlichen Verhaltens annehmen, das sie nicht besitzen; und ist das wahrhaftig? Einen Menschen, der sich ständig über andere auslässt, kann man als mehr oder weniger heuchlerisch bezeichnen, wenn er eine Heiligkeit vorgibt, die sicherlich über sein Maß hinausgeht. Das ist das Urteil des Herrn; und du kannst sicher sein, dass das Wort, das er gesprochen hat, am letzten Tag so entscheiden wird. Die Menschen vergessen, dass es keine billigere und für gedankenlose Gemüter imponierendere Art gibt, Geistlichkeit vorzutäuschen, als diese Bereitschaft, von den Fehlern anderer zu sprechen; aber es gibt kaum etwas, das der Herr Jesus strenger zurückweist und verurteilt. „Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du klar sehen, um den Splitter herauszuziehen, der in dem Auge deines Bruders ist!“ (V. 42).
Dann zeigt Er, wie klar es eine Frage der Natur ist. „Denn es gibt keinen guten Baum, der faule Frucht bringt, noch andererseits einen faulen Baum, der gute Frucht bringt“ (V. 43; vgl. Mt 7,17-20.). Man kann die Natur nicht verändern, „denn jeder Baum wird an seiner eigenen Frucht erkannt; denn von Dornen sammelt man keine Feigen, noch liest man von einem Dornbusch eine Traube“ (V. 44). Der Herr zeigte noch nicht das Wirken von zwei Naturen und die Art und Weise, in der die Früchte der neuen Schöpfung durch das Zulassen der alten behindert werden könnten. Er weist lediglich auf die Tatsache hin, dass es zwei Naturen gibt, nicht aber auf ihr Nebeneinander in ein und derselben Person, wie es auch im wahren Gläubigen der Fall ist. „Jeder Baum wird an seiner eigenen Frucht erkannt.“ Das ist eine Eigenheit des Lukas – ich meine, dass er es so stark formuliert. Matthäus sagt: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ Lukas macht es noch umfassender und nachdrücklicher. „Jeder Baum wird an seiner eigenen Fruchten erkannt.“ „Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz des Herzens das Gute hervor, und der böse bringt aus dem bösen das Böse hervor; denn aus der Fülle des Herzens redet sein Mund“ (V. 45). Dies ist ein weiterer Zusatz von Lukas an dieser Stelle. Unsere Worte haben vor Gott ein großes Gewicht, wie Matthäus in Kapitel 12,37 seines Evangeliums in einem ganz anderen Zusammenhang zeigt: „denn aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verurteilt werden.“
Er hatte vor allem den großen Wechsel der Haushaltungen im Blick, wenn die Juden abgeschnitten werden sollten, nicht nur, weil sie gegen den Sohn des Menschen geredet hatten, sondern weil sie den Heiligen Geist gelästert hatten – die nicht zu vergebende Sünde, in die auch die Juden fielen. Sie verwarfen nicht nur den gedemütigten Herrn Jesus, den Sohn des Menschen, sondern sie lehnten das Zeugnis des Heiligen Geistes über Ihn ab, als Er verherrlicht wurde. Sie verwarfen jeden Beweis, den Gott ihnen gab, und jeder Fortschritt auf den Wegen Gottes war ihnen zutiefst zuwider. Die Folge war, dass sie nach ihrem eigenen Bösen in heftige Ablehnung von Gottes Gutem ausbrachen. „Aus der Fülle des Herzens redet sein Mund.“ Ihr Mund hat geredet, und sie werden am Tag des Gerichts darüber Rechenschaft ablegen, so wie es die Menschen allgemein tun werden über jedes unnütze Wort. Die Juden haben also ihren Platz für die Zeit verloren, und Gott hat etwas Neues begonnen.
Aber Lukas stellt die Sache viel mehr als ein moralisches Prinzip dar. Es gilt für jeden Menschen, dass aus der Fülle des Herzens sein Mund redet: Und dies ist ein wichtiger Prüfstein für den Zustand unseres Herzens. Unsere Lippen verraten den Zustand unseres Herzens, unserer Zuneigung. Dann gibt es noch eine andere Sache. Wenn wir Christus im Wort als Herrn anerkennen, wie kommt es dann, dass wir nicht tun, was Er sagt? Allein die Aussage, dass Er der Herr ist, schließt die Verpflichtung in sich, dass wir uns Ihm unterwerfen. „Was nennt ihr mich aber: „Herr, Herr!“, und tut nicht, was ich sage? Jeder, der zu mir kommt und meine Worte hört und sie tut – ich will euch zeigen, wem er gleich ist: Er ist einem Menschen gleich, der ein Haus baute, der grub und in die Tiefe ging und den Grund auf den Felsen legte“ (V. 46–48; vgl. Mt 7,24-27). Nichts konnte dieses Haus erschüttern. „Als aber eine Flut kam, schlug der Strom an jenes Haus.“ Aber vergeblich: Als die Flut kam, konnte es nicht erschüttert werden; „denn es war auf den Felsen gegründet.“ Die Beherzigung der Worte Christi ist es, die jede Erschütterung des Gegners übersteht. Wer seinen Glauben auf diese Weise in seinem Gehorsam beweist, wird niemals erschüttert oder beschämt werden. „Wer aber gehört und nicht getan hat“ – und das ist genau das, was das Christentum und das Judentum damals und heute auszeichnet –, „ist einem Menschen gleich, der ein Haus auf die Erde baute, ohne Grundlage, an das der Strom schlug, und sogleich fiel es zusammen, und der Sturz jenes Hauses war groß“ (V. 49). So wird es sein. Der schwerste Schlag bei der Wiederkunft des Herrn in Herrlichkeit wird nicht auf die Heiden fallen, die nie gehört haben, sondern auf die Getauften, die das Evangelium gehört und nicht befolgt haben.
Moralisieren für andere oder bloßes unfruchtbares Hören auch der Worte Christi, ist nur ein Hinzufügen zur eigenen Verurteilung. Nichts kann den wahren Gehorsam des Herzens ersetzen. Christus war sowohl der gehorsame als auch der abhängige Mensch, der leuchtende sittliche Gegensatz zum ersten Menschen; und solche müssen sein und sind die, die sein sind. In jeder Hinsicht setzt die Rede eine Nachbildung seines Charakters in seinen Jüngern voraus und besteht darauf. Es ist nicht nur die Verheißung, die in Christus gekommen und erfüllt ist, sondern die Offenbarung Gottes in Ihm, und diese bildet nun die Jünger, die so moralisch und tatsächlich von der Nation unterschieden sind.