Behandelter Abschnitt Lk 6,1-5
Der Evangelist ist inspiriert, diese Berichte über zwei Sabbate hier einzuführen. Sehr wahrscheinlich fanden sie auch zu diesem Zeitpunkt statt. Wenn dem so ist, dann deshalb, weil der moralische Gegenstand des Geistes bei Lukas hier mit der historischen Reihenfolge zusammenfiel. Das können wir aus einem Vergleich mit der Reihenfolge bei Markus schließen, der sich in der Regel an die Abfolge der Ereignisse hält. Bei Matthäus hingegen sind diese Tatsachen einer viel späteren Stelle seines Evangeliums vorbehalten (Mt 12). Bevor er von diesen beiden Sabbat-Tagen spricht, führt er einen großen Umfang von Reden und Wundern ein. Und der Grund dafür ist offensichtlich. Matthäus weicht hier, wie so oft, von der Reihenfolge der Ereignisse ab, um das langanhaltende und reichhaltige Zeugnis für die Messiasschaft Jesu zu zeigen, bevor er sich dieser Vorfälle am Sabbat bedient, die sogar die Juden selbst als eine Beeinträchtigung ihrer Sabbatpraxis empfanden und den Bund des Gesetzes bedrohten.
Hesekiel spricht vom Sabbat als einem Zeichen zwischen dem Herrn und Israel (Hes 20,12.20). Und nun stand dies im Begriff, zu verschwinden. Daher sind diese Handlungen am Sabbat äußerst bedeutsam. Sie kommen in Matthäus vor, in dem Kapitel, in dem unser Herr die unverzeihliche Sünde jener Generation ankündigt, wie auch am Schluss, wo er seine natürlichen Bindungen verleugnet und von der Bildung einer neuen und geistlichen Beziehung spricht, die darauf beruht, den Willen seines Vaters im Himmel zu tun. Gleich im nächsten Kapitel zeigt Er das Reich der Himmel und dessen Verlauf, das wegen des völligen Abfalls Israels und des daraus folgenden Bruchs dieser Haushaltung eingeführt werden sollte.
Bei Markus und Lukas ist dies nicht der unmittelbare Gegenstand. Sie werden, wie es scheint, so wiedergegeben, wie sie sich ereigneten, und Markus hatte das zu berichten. Dennoch ist es offensichtlich, dass ihre Erwähnung hier in bemerkenswerter Weise in das Konzept des Lukas passt. Er beachtet, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, das Wirken der göttlichen Gnade, die nicht die Gerechten, sondern die Sünder zur Umkehr ruft. Auch die neuen Dinge Christi, des zweiten Menschen, werden sich nicht mit den alten Dingen vermischen. Doch der Mensch bevorzugt unverhohlen das Alte, weil es seinen Gewohnheiten und seiner Selbstgefälligkeit entspricht. Die Gnade erhebt Gott und muss an erster Stelle stehen.
In diesem Kapitel heißt es: „Es geschah aber am [zweit-ersten] Sabbat“, also nicht am zweiten Sabbat nach dem ersten, sondern am zweit-ersten Sabbat. Das ist eine sehr eigenartige Formulierung, die die Ausleger und Kritiker sehr verwirrt hat. Er findet sich an keiner anderen Stelle und bei keinem anderen Autor als hier. Das Einzige, was ihn wirklich erklärt, scheint ein Hinweis auf jüdische Bräuche und ihre Feste zu sein.
Bei einer dieser Gelegenheiten (3Mo 23,10-12) wurde die erste geschnittene Getreidegarbe vor Gott gewoben. Die Jünger gingen nun durch die Kornfelder. Der Zusammenhang war also offensichtlich. Es war der früheste Sabbat, nachdem die Erstlingsfrüchte geopfert worden waren. Das trägt zum auffälligen Charakter der Unterweisung bei. Das Passahfest fand, wie wir wissen, unmittelbar vorher statt: Das Passahlamm wurde am vierzehnten Nisan zwischen den Abenden geschlachtet. Unmittelbar danach folgte der große Sabbat, und am Tag danach wurde die erste Garbe des Getreides vor dem Herrn gewoben. Das war das Bild für die Auferstehung Christi. Das Weizenkorn war in die Erde gefallen und gestorben, aber nun war es wieder auferstanden (Joh 12,24). So wie das Schlachten des Lammes das Bild für seinen Tod war, so war diese Webegarbe das Bild für seine Auferstehung. Von dem Tag an, an dem es geopfert wurde, wurden sieben Wochen vollständig gezählt (natürlich mit ihren Sabbaten), und dann kam das nächste große Fest, das Fest der Wochen. Der erste dieser Sabbate in den sieben Wochen, vom Tag der Webegarbe an gerechnet, war nicht der große Sabbat des Passahs, sondern er folgte als nächster darauf. Der Sabbat, der das Fest der ungesäuerten Brote nach dem Passahfest eröffnete, war der erste, und der darauffolgende Sabbattag war der zweit-erste. Er war der zweite in Bezug auf diesen großen Tag, den Passah-Sabbat, aber der erste der sieben, die unmittelbar darauffolgten. Es war also der erste Sabbat nach der Webegarbe; und kein „Israelit“ hätte es für rechtmäßig halten können, vom Getreide zu essen, bevor der Herr seinen Anteil erhalten hatte.
An jenem Sabbat also gingen die Jünger durch die Kornfelder und „pflückten die Ähren ab und aßen sie, wobei sie sie mit den Händen zerrieben“ (V. 1). Dies war in den östlichen Ländern rund um das Heilige Land immer erlaubt und ist es immer noch – zweifellos eine verbliebene Spur der alten traditionellen Gewohnheit der Juden. Es ist als ein Handeln der Nächstenliebe gegenüber den Hungernden erlaubt. Was für ein Zustand, in dem sich die Jünger des Herrn Jesus befinden! Was für ein Beweis für seine Schande und für ihre Not!
Aber nichts rührte die Pharisäer: Religiöse Bitterkeit macht das natürliche Herz hart. „Einige der Pharisäer aber sprachen: Warum tut ihr, was am Sabbat zu tun nicht erlaubt ist?“ (V. 2). Der Herr antwortete anstelle der Jünger: „Habt ihr nicht auch dies gelesen, was David tat, als ihn und die, die bei ihm waren, hungerte? Wie er in das Haus Gottes ging und die Schaubrote nahm und aß (und auch denen davon gab, die bei ihm waren), die niemand essen darf als nur die Priester allein?“ (V. 3.4). Der Geist Gottes erwähnt hier nur David – nicht die Priester, von denen auch Matthäus handelt, was sehr passend war. Er, der für die Juden schreibt, würde einen Beweis für die Torheit ihres Widerspruchs verwenden, der ihnen jeden Tag vor Augen stand. Aber Lukas verweist auf die moralische Ähnlichkeit in der Geschichte des großen Königs David, der nach seiner Salbung und vor seiner Thronbesteigung (was gerade die Stellung des Herrn war) in eine so große Notlage geriet, dass das heilige Brot um seinetwillen zu gewöhnlichem Brot wurde.
Gott weigerte sich sozusagen, an einem Ritual festzuhalten, bei dem der gesalbte König und seine Gefolgsleute an den nötigsten Dingen des Lebens Mangel hatten. Denn was bedeutete das? Es war die Tiefe des Bösen, das die Nation beherrschte. Wie konnte Gott das heilige Brot in einem solchen Zustand gutheißen? Wie konnte Er das Schaubrot des Volkes als Nahrung für seine Priester annehmen, wenn alle Grundlagen eindeutig nicht mehr gegeben waren? War dies nicht offensichtlich im Hunger seines Gesalbten und seiner treuen Schar? War nicht der verworfene Sohn Davids so frei wie der verworfene David?