Behandelter Abschnitt Lk 5,27-39
Wir haben die Gnade gesehen, die sowohl reinigt als auch vergibt. Der Mensch braucht beides. Gott ist „treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit“ (1Joh 1,9.) Aber nun wird man feststellen, dass nicht nur die Gnade die Kraft Gottes kennzeichnet, sondern auch die Richtung, in der sie wirkt. Die Reinigung und die Vergebung mögen nur innerhalb jüdischer Bezirke stattgefunden haben. Es ist wahr, dass das letztere von beiden – das Vergeben – an die Person des Sohnes des Menschen gebunden ist („dass der Sohn des Menschen Gewalt hat, auf der Erde, Sünden zu vergeben“), und dass der Titel „Sohn des Menschen“ seine Verwerfung als Messias voraussetzt. Damit ist also endlich der Weg frei für sein Wirken in Gnade unter den Menschen als solchen – nicht nur in Israel.
All das kommt in der neuen Begebenheit noch viel deutlicher zum Vorschein. „Und danach ging er hinaus und sah einen Zöllner, mit Namen Levi, am Zollhaus sitzen und sprach zu ihm: Folge mir nach!“ (V. 27). Die Juden hatten eine besondere Abscheu vor Zöllnern. Sie waren ihre eigenen Landsleute; und doch machten sie sich zum Werkzeug ihrer heidnischen Herren beim Eintreiben der Steuern. Ihre Position gab immer wieder Anlass zur missbräuchlichen Ausübung ihrer Autorität, zur Unterdrückung der Juden und zur Erpressung von Geld unter falschem Vorwand oder in unzulässiger Höhe. Daher waren die Zöllner als eine Klasse besonders in Ungnade gefallen.
Aber wenn die Gnade handelt, ruft sie sowohl die Bösen als auch die, die die Menschen für gut halten würden. Sie richtet sich an die Ungerechten nicht weniger als an die Gerechten (soweit die Menschen das sehen konnten). Der Herr ruft den Zöllner Levi (der von ihm selbst Matthäus, dem inspirierten Schreiber des ersten Evangeliums, genannt wird). Er wurde sozusagen auf frischer Tat bei der Einnahme der Steuern angetroffen. Wir hören nichts von einem vorangegangenen Prozess. Es mag einen gegeben haben: Aber es wird nichts enthüllt. Alles, was wir wissen, ist, dass Levi inmitten dieser für einen Israeliten natürlich abscheulichen Arbeit in die Nachfolge Jesu gerufen wurde. Das war ein sehr bedeutsames Zeichen der Gnade, das sogar in den Augen des auserwählten Volkes höchst anstößig war. Wenn Gott in Gnade handelte, geschah es notwendigerweise aus Ihm selbst heraus und für Ihn selbst, völlig über dem Geschöpf; es gab keinen Grund im Menschen, warum ihm eine solche Gunst erwiesen werden sollte. Wenn es irgendeinen Grund im Menschen gäbe, würde es ganz und gar aufhören, die Gnade Gottes zu sein.
Gnade bedeutet die göttliche Gunst, absolut ohne Grund, außer in Gott selbst, zu einem nichtsnutzigen, elenden und verlorenen Geschöpf; und in dem Augenblick, wo man zu dem kommt, der völlig ruiniert ist, welchen Unterschied macht es da, was die Art des Ruins sein mag, oder was die Mittel dazu sind? Wenn die Menschen bedürftig und ruiniert sind, ist das genug für die Gnade Gottes in Christus, der solche ruft, damit sie gerettet werden und Ihm nachfolgen.
So verlässt Levi alles für Jesus: „Und er verließ alles, stand auf und folgte ihm nach“ (V. 28). Aber mehr als das: Sein Herz, erfreut durch solch unverdiente und unvorhergesehene Gnade, wendet sich an andere. „Und Levi machte ihm ein großes Mahl in seinem Haus; und da war eine große Menge Zöllner und anderer, die mit ihnen zu Tisch lagen“ (V. 29). Dies war eine weitere Ausführung derselben großen Wahrheit. Gott zeigte sich in Jesus auf eine Art und Weise, die für den Menschen völlig unerwartet war. Es fällt uns schwer, uns das Licht vorzustellen, in dem die Juden die Zöllner betrachteten. Aber hier war eine große Schar von ihnen, und von denen, die mit ihnen verbunden waren; und, wunderbar zu sagen, Jesus, der Heilige Gottes, setzt sich zu diesen Zöllnern und Sündern, Er machte nun die Gnade Gottes bekannt. Der Mensch versteht das nie, er weiß es nie zu schätzen. Im Gegenteil, er wirft der Gnade (zumindest eingeschlossen) vor, der Sünde gegenüber gleichgültig zu sein. Die Wahrheit ist, dass die Selbstgerechtigkeit die Sünde verdeckt und immer so bösartig wie heuchlerisch ist, indem sie ihr eigenes Übel anderen zuschreibt, besonders der Gnade. Es gibt nichts, was so heilig ist wie die Gnade, nichts, was die Sünde als so sehr böse unterstellt. Dennoch gibt es eine Kraft in der Gnade, die ganz gegen die Gepflogenheiten der Menschen ruft und erhebt. Sie setzt totale Schuld und Verderben voraus, wenn sie kommt, um zu erlösen; und wenn sie kommt, um zu erlösen, warum sollte sie dann nicht unter den Bedürftigsten und Schlimmsten wirken? Wäre es menschlich, wäre die Anstrengung vergeblich. Aber sie ist die Offenbarung Gottes selbst, und deshalb ist sie wirksam durch die Gabe und im Kreuz Christi.
Der Mensch aber widerspricht. „Und die Pharisäer und ihre Schriftgelehrten murrten gegen seine Jünger und sprachen: Warum esst und trinkt ihr mit den Zöllnern und Sündern?“ (V. 30). Sie hatten nicht die Ehrlichkeit, sich bei Jesus zu beschweren, sondern ließen ihren Unmut an seinen Jüngern aus. Aber der Herr antwortet für sein Volk. „Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Nicht die Gesunden brauchen einen Arzt, sondern die Kranke“ (V. 31) – eine einfache, aber höchst befriedigende und eindrucksvolle Antwort. Die Gnade befähigt auch einen Menschen, einen Gläubigen, immer die ganze Wahrheit zu sagen; sie ist das Einzige, die das tut. Wie viel mehr hat Er, der voller Gnade war, in der Kraft der Wahrheit gesprochen! Zugegeben, sie waren krank; sie waren genau die richtigen Personen für den Arzt. Es wird nicht einmal gesagt, dass sie sich ihrer Krankheit bewusst waren. Immerhin kennt Gott die Not, und Er sucht die Bedürftigen, und Jesus war Gott selbst als Mensch in Gnade dargestellt. Er sagte: „ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern die Sünder zur Buße“ (V. 32).10
Dann kommt eine weitere Wahrheit von überragender Bedeutung hinzu. Als Antwort auf die Frage: „Warum fasten die Jünger des Johannes häufig und verrichten Gebete, ebenso auch die der Pharisäer; die deinen aber essen und trinken?“, hören sie: „Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr könnt doch nicht die Gefährten des Bräutigams fasten lassen, während der Bräutigam bei ihnen ist!“ (V. 34).
Sie waren unwissend über die Herrlichkeit der Person, die anwesend war, ebenso wie über seine Gnade. Hätten sie die einzigartige Würde Jesu gekannt, hätten sie gesehen, wie unpassend es gewesen wäre, in seiner Gegenwart zu fasten. Zu gewöhnlichen Zeiten, in Anbetracht des Bösen des ersten Menschen, in der traurigen Erfahrung seiner Auflehnung gegen Gott, wäre es angemessen, zu fasten. Aber wie seltsam wäre das Fasten seines Volkes in der Gegenwart seines ersehnten Königs! Schon seine Geburt wurde von den Engeln als frohe Botschaft verkündet, und die himmlische Heerschar lobte Gott mit den Worten: „Herrlichkeit Gott in der Höhe und Friede auf der Erde, an den Menschen ein Wohlgefallen!“ (2,14).
Gewiss sollten also seine Jünger in Übereinstimmung mit der Gegenwart einer so herrlichen Person handeln, mit einer solchen Quelle der Freude für Himmel und Erde. Wäre ein Fasten mit den Umständen in Einklang zu bringen? Der Herr antwortet deshalb: „Ihr könnt doch nicht die Gefährten des Bräutigams fasten lassen, während der Bräutigam bei ihnen ist!“ (V. 34). Fröhlichkeit des Herzens passt sowohl zur Gnade als auch zur Herrlichkeit des Herrn: „Es werden aber Tage kommen, und zwar, wenn der Bräutigam von ihnen weggenommen sein wird, dann, in jenen Tagen, werden sie fasten“ (V. 35). Der Herr hatte das volle Bewusstsein von dem, was bevorstand – von der fatalen, selbstmörderischen Opposition des Menschen gegen Gott, die sich vor allem gegen Ihn offenbarte. Seine Verwerfung würde bald kommen, und Not des Herzens für die Jünger, „dann, in jeden Tagen werden sie fasten.“
Aber Er gibt mehr Licht als das. Er weist auf die Unmöglichkeit hin, die Prinzipien der Gnade mit dem alten System in Einklang zu bringen. Dies legt Er durch zwei Gleichnisse dar. Das erste ist das Kleidungsstück: „Niemand reißt einen Flicken von einem neuen Kleidungsstück ab und setzt ihn auf ein altes Kleidungsstück; sonst wird er nicht nur das neue zerreißen, sondern der neue Flicken wird auch nicht zu dem alten passen“ (V. 36). Es kann keine Harmonie zwischen dem Alten und dem Neuen geben: Gesetz und Gnade werden sich niemals vermischen.
Aber als Nächstes beschreibt Er es unter dem Bild des neuen Weines: „Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; sonst wird der neue Wein die Schläuche zerreißen, und er selbst wird verschüttet werden, und die Schläuche werden verderben; sondern neuen Wein füllt man in neue Schläuche, und beide bleiben zusammen erhalten“ (V. 37.38). Er zeigt, dass in dem Neuen eine Kraft steckt, die das Alte zerstört. So wie der neue Wein die alten Schläuche zerreißen würde und damit der Wein verlorenginge und die Schläuche verderben würden, so würde es dem ergehen, was Christus im Evangelium einführt. Wo der Versuch gemacht wird, die Gnade mit den geringsten Teilen des Gesetzes zu verbinden, behält das Alte nicht mehr seinen wahren Nutzen, und das Neue vergeht völlig. „Neuen Wein füllt man in neue Schläuche“. Das Christentum hat nicht nur ein ihm eigenes inneres Prinzip, das aus der Offenbarung Gottes in Christus hervorfließt, sondern es beansprucht und schafft auch Formen, die seinem eigenen Wesen entsprechen. Es ist nicht nur ein System von Verordnungen und Vorschriften. Es hat lebendige Kraft, und diese Kraft schafft sich neue Träger. Aber der Mensch mag das nicht.
Daher fügt der Herr am Schluss dieses Kapitels die diesem Evangelium eigene allgemeine Maxime hinzu: „Und niemand will, wenn er alten getrunken hat, neuen, denn er spricht: Der alte ist besser“ (V. 39). Das Rechtssystem des Gesetzes ist der gefallenen Natur des Menschen weitaus angemessener; es gibt ihm Bedeutung, und es fordert seinen Gehorsam und fällt mit seiner Vernunft zusammen. Sogar ein natürliches Gewissen erkennt die Richtigkeit des Gesetzes an; doch die Gnade ist übernatürlich. Obwohl der Glaube sieht, wie vollkommen die Gnade sowohl zu Gott als auch zu dem neuen Menschen passt, und wie sie die einzige Hoffnung für einen sündigen Menschen ist, der zu Gott umkehrt, steht sie dennoch völlig über dem Verstand des Menschen, und sie wird ständig von denen verdächtigt, die ihren Wert und ihre Macht nicht kennen. Die Natur des Menschen klammert sich an ihre alten Gewohnheiten und Vorurteile und misstraut dem Eingreifen der Gnade.
10 Es ist aufschlussreich zu beobachten, dass die besten Autoritäten in der Parallelstelle bei Matthäus und Markus „zur Buße“ auslassen. Wie weit ist es von der Wahrheit entfernt, dass Buße eine jüdische Sache ist! Lukas, entsprechend dem tiefen moralischen Entwurf seines Evangeliums, hat diese Worte.↩︎