Das war in den Augen eines Juden ein klarer Verstoß gegen allen Anstand und Ordnung. Sich zum Essen hinzusetzen, ohne das geringste Empfinden der Verachtung für diese Zöllner und Sünder, war in der Tat seltsam in den Augen der Pharisäer. Was tat der Herr? Er zeigte zunehmend die Gnade Gottes – umso mehr brach der Unglaube bei den nur äußerlich religiösen Menschen aus; denn Menschen können Gedanken an Gott haben, die aber nicht auf sein Wort gegründet sind, und sie können aus ihrem eigenen Verstand und Herzen heraus noch so ernsthaft sein, dabei aber ohne Glauben oder Licht von Gott sein. Einerseits bewiesen diese Menschen ihren völligen Unglauben an Jesus und seine Herrlichkeit; aber andererseits fuhr Gott in der Person Jesu weiter in seiner Gnade und damit in Konfrontation zu diesen religiösen Menschen in Israel. Er beruft Matthäus, und Er isst mit diesen Zöllnern und Sündern; und als die Pharisäer gegenüber den Jüngern daran Anstoß nehmen, spricht der Herr sogleich das herrliche Wort aus dem Alten Testament:
,Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer‘; denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder (9,13).
Er rechtfertigt diesen Ruf und hält ihn aufrecht, nicht als Ausnahmefall, sondern als Prinzip.
Das war das, wozu Gott auf die Erde gekommen war: Er wollte Dinge wieder gutmachen. Es ging nicht mehr um das Gesetz, sondern um die Gnade. Das gibt Anlass zu etwas Weiterem, und ein sehr lehrreiches Wort des Herrn wird uns hier vor Augen geführt. Die Jünger wurden getadelt, weil sie nicht fasteten wie die Jünger des Johannes und die Pharisäer. Und der Herr gibt diesen Grund dafür an: „Können etwa die Gefährten des Bräutigams trauern, solange der Bräutigam bei ihnen ist?“ Das heißt, Er zeigt die Unsinnigkeit des Fastens, wenn die Quelle all ihrer Freude da war. Wie sehr hätte es ihrem Glauben an Ihn, den Messias, widersprochen, sich diesem Zeichen der Trauer und Erniedrigung zu unterwerfen, in der Gegenwart der Quelle all ihrer Freude und ihres Glücks! Aber es gab noch etwas Tieferes als das, was sie erfahren sollten. Es war nicht nur die Gegenwart dessen, den die Jünger verstanden und die anderen nicht, sondern der Herr zeigt, dass man die Vorschriften des Gesetzes nicht mit den Grundsätzen und der Kraft der göttlichen Gnade vermischen kann (ein sehr wichtiger Grundsatz, und genau der, den die Christenheit praktisch zerstört hat). Denn was hat den gegenwärtigen Zustand der Christenheit herbeigeführt? Das Christentum ist das System der Gnade in Christus, das durch den Heiligen Geist unter denen, die glauben, in Heiligkeit aufrechterhalten wird. Die Christenheit ist das große Haus des Bekenntnisses, in dem sich unreine Gefäße mit denen vermischen, die zu ehren sind, in dem Grundsätze herrschen, die nie von Christus gekommen sind und die teils aus dem Judentum, teils aus dem eigenen Verstand übernommen wurden, ohne Rücksicht auf die Bibel. Aber was der Herr zeigt, ist, dass selbst dann, wenn man das nimmt, was Gott einst unter dem Gesetz für gut hielt, jetzt nicht mehr ausreicht. Derselbe Gott, der Israel durch das Gesetz erprobt hat, hat das Evangelium gesandt. Und es ist das Evangelium, das Er auch in dieser Zeit sendet, und nicht das Gesetz.
Es ist die Gnade, mit der wir es zu tun haben. Es ist Christus, der auferstanden und im Himmel ist, mit dem ich in Beziehung stehe, und nicht mit dem Gesetz. Ich bin dem Gesetz gestorben, wenn ich ein Christ bin. Die Christenheit hat das vergessen und ist davon abgewichen. Und indem sie von den Voraussetzungen ausgehen, dass das Gesetz gut ist und das Evangelium auch, sagen sie: Wird es nicht viel besser sein, die beiden miteinander zu verbinden? Das Ergebnis ist, dass das, was unser Herr gesagt hat, nicht getan werden soll, die Menschen mit dem größten Eifer angestrebt haben. Sie haben versucht, den neuen Wein in alte Schläuche zu füllen: das heißt, die freudenbringende Gnade in die Gefäße der Rechtsgrundsätze zu füllen. Der Herr hat neuen Wein gebracht, und Er will neue Schläuche.
Die innere Tugend und Kraft des Christentums muss sich mit ihren eigenen angemessenen Formen bekleiden. Die neuen Gewänder sind die gebührende Offenbarung des Evangeliums, das sich völlig von den nach dem Gesetz gestalteten Wegen unterscheidet. Gesetzlichkeit ist das alte Gewand, und es ist eine Verachtung der Güte Gottes, das alte Gewand nur zu flicken. Es wird letztlich niemals gelingen. Der Versuch wird das Alte nur noch schlimmer machen. Das ist es, was die Christenheit getan hat. Sie hat versucht, das alte Gewand mit dem neuen Stück zu flicken – ein gewisses Maß an christlicher Moral in das alte Gewand zu bringen als eine Art Verbesserung des Judentums. Und was war das Ergebnis? Außerdem wird neuer Wein in alte Schläuche gegossen. Es gibt ein gewisses Maß der Verkündigung der Person Christi, aber es ist so sehr in Verbindung mit den alten Schläuchen! Diese Verse umfassen sowohl die äußere Entwicklung als auch die innere Kraft und zeigen, dass das Christentum eine völlig neue Sache ist, die nicht mit dem Gesetz vermischt werden kann. Wenn du einen Menschen findest, der meint, er habe eine eigene Gerechtigkeit, dann kannst du ihn durch das Gesetz zu Fall bringen. Das ist der erlaubte Gebrauch des Gesetzes. Der Mensch ist wirklich gottlos, und das Gesetz wurde früher gebraucht, um zu beweisen, dass er gottlos ist. Aber der Christ ist jemand, der gottesfürchtig ist; und das Gesetz, wie Paulus ausdrücklich betont, ist nicht für ihn bestimmt (1Tim 1,9). Wir dürfen nicht den neuen Wein in alte Schläuche füllen, noch den alten in neue. Das veranlasst den Herrn dazu, das völlig Neue im Verhalten und bei den Grundsätzen herauszustellen, die aus Ihm selbst und aus seiner Gnade fließen. Und all das stand in direktem Gegensatz zu den Gedanken und Vorurteilen der Schriftgelehrten und Pharisäer, die anschließend ihre Fragen zum Fasten vorbrachten. Nicht, dass Fasten keine christliche Pflicht wäre (wir haben das schon in Kapitel 6 betrachtet); aber dann muss es nach christlichen und nicht nach jüdischen Grundsätzen geschehen.