Behandelter Abschnitt Mt 7,3-5
Dann legt der Herr einen besonderen Fall dar:
Was aber siehst du den Splitter, der in dem Auge deines Bruders ist, aber den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? (7,3).
Das heißt, wo diese Neigung zum Richten ist, da ist ein anderes, noch schwereres Übel – ein gewohnheitsmäßig nicht gerichtetes Übel im Geist, das den Menschen unruhig macht und den Wunsch hat, auch anderen zu beweisen, dass sie Unrecht haben.
Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Erlaube, ich will den Splitter aus deinem Auge herausziehen; und siehe, der Balken ist in deinem Auge? (7,4).
Der Splitter war freilich nur ein kleines Ding, aber es wurde viel daraus gemacht, und der Balken, ein riesiges Ding, wurde übergangen. Der Herr zeigt hier auf eindringlichste Weise die Gefahr eines misstrauischen Richtergeistes auf. Und Er zeigt, dass der Weg, richtig zu handeln, wenn wir das Wohl seines Volkes und seine Befreiung vom Bösen wünschen, darin besteht, mit dem Selbstgericht zu beginnen. Wenn wir wirklich wünschen, den Splitter aus dem Auge unseres Bruders zu ziehen, wie soll das geschehen? Beginnen wir mit den schwerwiegenden Fehlern, die wir so wenig kennen, korrigiert und eingestanden, in uns selbst: Das wäre Christi würdig. Wie geht Er damit um? Sagt Er über den Splitter im Auge unseres Bruders: Bringt ihn vor die Richter? Keineswegs; du musst dich selbst prüfen. Jemand muss dort beginnen. Wenn ich das Böse richte, das mein Gewissen weiß, oder das, wenn mein Gewissen es jetzt nicht weiß, es in Gottes Gegenwart lernen kann – wenn ich damit anfange, werde ich klarsehen, was andere betrifft. Ich werde ein Herz haben, das geeignet ist, in ihre Umstände einzutreten, ein Auge, das von dem gereinigt ist, was das Herz unfähig macht, mit Gott über andere mitzuempfinden.
Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge heraus, und dann wirst du klarsehen, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen (7,5).
Das mag im Prinzip bei einem Gläubigen zu finden sein. Wenn der Herr sagt: „Du Heuchler“, spielt Er auf das Übel in seiner vollen Form an; aber auch in uns selbst kennen wir es einigermaßen, und was kann der Einfalt und göttlichen Aufrichtigkeit mehr entgegengesetzt sein? Heuchelei ist das verabscheuungswürdigste Übel, das unter dem Namen Christi zu finden ist – etwas, unter dem sich sogar das natürliche Gewissen windet und das es ablehnt. „Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge heraus, und dann wirst du klarsehen, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.“
Immer wieder finden wir, dass, wenn der Balken weg ist, der Splitter nicht zu sehen ist, da er bereits verschwunden ist. Und wo das Herz auf den Herrn gerichtet ist, sollte es uns da nicht leidtun, wenn wir uns in Bezug auf unseren Bruder irren? Sollte ich mich nicht freuen, die Gnade des Herrn in meinem Bruder zu finden, wenn ich im Selbstgericht entdecke, dass ich mich nur geirrt habe? Das mag für den einen schmerzlich sein, aber die Liebe Christi im Herzen des Gläubigen ist erfreut, wenn er weiß, dass ihm diese weitere Entehrung erspart bleibt.
Dies ist also der erste große Grundsatz, den unser Herr hier anordnet. Die Gewohnheit, andere zu verurteilen, ist ernsthaft zu vermeiden; und das auch deshalb, weil sie Bitterkeit über den bringt, der ihr nachgibt, und Menschen unfähig macht, mit anderen richtig umzugehen; denn wir sind ein Teil des Leibes, wie der Apostel Paulus zeigt, um einander zu helfen; und wir sind alle Glieder eines anderen.