Behandelter Abschnitt Mt 5,18-20
Weit davon entfernt, das Gesetz aufzuheben, illustrierte der Herr es im Gegenteil heller als je zuvor und gab ihm eine geistliche Anwendung, auf die der Mensch völlig unvorbereitet war, bevor Er kam. Und das ist es, was der Herr in der folgenden wunderbaren Ansprache tut. Nachdem er gesagt hat: „Denn wahrlich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist“, fügt Er hinzu:
Wer irgend nun eins dieser geringsten Gebote auflöst und die Menschen so lehrt, wird der Geringste heißen im Reich der Himmel; wer irgend aber sie tut und lehrt, dieser wird groß heißen im Reich der Himmel. Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht bei weitem übersteigt, werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen (5,18–20).
Unser Herr würde die großen moralischen Grundsätze des Gesetzes zu Geboten ausweiten, die von Ihm selbst und nicht nur von Mose stammen, und Er zeigt, dass dies die große Sache sein würde, an der die Menschen geprüft werden würden. Es würde nicht mehr nur um die zehn Worte gehen, die auf dem Sinai gesprochen wurden. Während Er ihren vollen Wert anerkannte, war Er im Begriff, den Geist Gottes auf eine Weise zu öffnen, die so viel tiefer war, als jemals zuvor gedacht worden war, dass dies von nun an die große Prüfung sein würde.
Deshalb sagt Er, wenn er sich auf den praktischen Gebrauch dieser seiner Gebote bezieht: „Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht bei weitem übersteigt, werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen“ (V. 20) – ein Ausdruck, der nicht den geringsten Bezug auf die Rechtfertigung hat, sondern auf die praktische Wertschätzung und die Lebensführung in den richtigen Beziehungen des Gläubigen zu Gott und zu den Menschen. Die Gerechtigkeit, von der hier die Rede ist, ist ganz praktischer Art. Das mag viele Menschen vielleicht schockieren. Sie mögen etwas verwirrt sein, wenn sie verstehen, wie praktische Gerechtigkeit zum Mittel für den Eintritt in das Reich der Himmel gemacht wird. Aber, ich wiederhole mich, die Bergpredigt zeigt uns niemals, wie ein Sünder gerettet werden soll. Wenn es die kleinste Anspielung auf praktische Gerechtigkeit gäbe, wenn es um die Rechtfertigung eines Sünders geht, gäbe es Grund, zu erschrecken; aber es kann überhaupt keinen geben für den Heiligen, der Gottes Willen versteht und sich Ihm unterwirft. Gott besteht auf der Frömmigkeit seines Volkes. Ohne Heiligkeit wird kein Mensch den Herrn sehen (Heb 12,14). Es steht außer Frage, dass der Herr in Johannes 15 zeigt, dass die unfruchtbaren Reben abgeschnitten werden müssen, und dass sie genauso wie die verdorrten Reben des natürlichen Weinstocks ins Feuer geworfen werden, um verbrannt zu werden, so haben unfruchtbare Bekenner des Namens Christi kein besseres Teil zu erwarten.
Das Fruchttragen ist die Prüfung des Lebens. Diese Dinge werden in der ganzen Schrift in den deutlichsten Worten gesagt. In Johannes 5,28.29 heißt es: „Wundert euch darüber nicht, denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören und hervorkommen werden: die das Gute getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber das Böse verübt haben, zur Auferstehung des Gerichts.“ Es gibt kein Verschweigen der ernsten Wahrheit, dass Gott das Gute und Heilige und Gerechte in seinem eigenen Volk haben will und muss. Sie sind überhaupt nicht das Volk Gottes, die nicht als Täter dessen charakterisiert werden, was in seinen Augen annehmbar ist. Wenn dies einem Sünder als Mittel zur Versöhnung mit Gott oder zur Auslöschung der Sünden vor Ihm angeboten würde, wäre es die Verleugnung Christi und seiner Erlösung. Haltet aber nur daran fest, dass alle Mittel, zu Gott gebracht zu werden, in Christus gefunden werden. Der einzige Weg, durch den ein Sünder mit dem Segen Christi in Verbindung kommt, ist der Glaube, ohne die Werke des Gesetzes. Halte nur daran fest, und es gibt nicht die geringste Ungereimtheit noch Schwierigkeit, zu verstehen, dass derselbe Gott, der einer Seele gibt, an Christus zu glauben, in dieser Seele durch den Heiligen Geist wirkt, um das zu bewirken, was praktisch Ihm selbst entspricht. Zu welchem Zweck gibt Gott ihm das Leben Christi und den Heiligen Geist, wenn nur die Vergebung der Sünden nötig wäre? Aber damit gibt sich Gott nicht zufrieden. Er verleiht einer Seele das Leben Christi und gibt ihr den Heiligen Geist, damit Er in ihr wohne. Weil der Geist nicht die Quelle der Schwachheit oder der Furcht ist, „sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“ (2Tim 1,7), sorgt Gott für geeignete Wege und für die Anwendung geistlicher Weisheit und Urteilskraft beim Durchschreiten der gegenwärtigen schwierigen Gegebenheiten.
Während sie mit unwissenden Augen zu der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer aufblickten, erklärt unser Herr, dass diese Art von Gerechtigkeit nicht ausreicht. Die Gerechtigkeit, die jeden Tag zum Tempel hinaufgeht, die sich auf lange Gebete, eine Menge Almosen und breite Gebetsriemen rühmt, wird vor Gott nicht bestehen. Es muss etwas weitaus Tieferes geben, das mehr dem heiligen, liebenden Wesen Gottes entspricht. Denn bei all dem äußeren Anschein von Religion könnte es immer, wie es im Allgemeinen in der Tat der Fall war, kein Bewusstsein der Sünde und der Gnade Gottes geben. Das beweist, wie wichtig es ist, zuerst in unseren Gedanken in Bezug auf Gott richtig zu sein; und das können wir nur sein, wenn wir das Zeugnis Gottes über seinen Sohn annehmen. Im Fall der Pharisäer haben wir es mit sündigen Menschen zu tun, die ihre Sünde leugnen und den wahren Charakter Gottes als Gott der Gnade völlig verdunkeln und verleugnen. Diese Lehren unseres Herrn wurden von den äußerlichen Religiösen abgelehnt, und ihre Rechtschaffenheit war so, wie man sie von Menschen erwarten kann, die sich selbst und Gott nicht kennen. Es verschaffte ihnen Ansehen, aber da endete auch alles. Sie suchten ihren Lohn jetzt, und sie hatten ihn. Aber unser Herr sagt zu den Jüngern: „Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht bei weitem übersteigt, werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen“ (Mt 5,20).
Erlauben Sie mir hier die Frage, wie Gott dies in Bezug auf eine Seele, die jetzt glaubt, vollbringt? Es gibt ein großes Geheimnis, das in der Bergpredigt nicht zum Vorschein kommt. Zuallererst trägt der Sünder eine Last der Ungerechtigkeit. Wie wird damit umgegangen und der Sünder für das Reich der Himmel tauglich gemacht und dort hineingeführt? Durch den Glauben wird er wiedergeboren; er erwirbt eine neue Natur, ein Leben, das ebenso aus der Gnade Gottes fließt wie das Tragen seiner Sünden durch Christus am Kreuz. Das ist die Grundlage der praktischen Gerechtigkeit.
Der wahre Anfang aller moralischen Güte in einem Sünder – wie es gesagt wurde und wie es immer wiederholt werden sollte – ist das Empfinden und das Bekenntnis seines Fehlens, ja seiner Boshaftigkeit. Niemals ist die Beziehung eines Menschen mit Gott in Ordnung, bis er sich selbst als völlig falsch aufgibt. Wenn er so weit heruntergekommen ist, stützt er sich auf Gott, und Gott offenbart dem armen Sünder Christus als seine Gabe. Er ist moralisch zusammengebrochen, empfindet und gesteht, dass er verloren ist, es sei denn, dass Gott sich ihm offenbart. Dann nimmt er Christus an, und was ist dann? „Wer glaubt, hat ewiges Leben“ (Joh 6,47).
Was ist die Natur dieses Lebens? Es ist in seinem Charakter vollkommen gerecht und heilig. Der Mensch ist dann sofort passend für das Reich Gottes. „Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (Joh 3,3). Aber wenn er von neuem geboren ist, geht er hinein. „Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist“ (Joh 3,6). Die Schriftgelehrten und Pharisäer versuchten, das Fleisch durch das Fleisch zu verbessern. Sie glaubten nicht, dass sie in den Augen Gottes tot waren. Genauso ist es mit den Menschen auch heute. Der Gläubige fängt jedoch damit an, dass er ein toter Mensch ist, dass er ein neues Leben braucht, und dass das neue Leben, das er in Christus empfängt, zum Reich der Himmel passt. An dieser neuen Natur handelt Gott und wirkt durch den Geist diese praktische Gerechtigkeit, so dass es in jeder Hinsicht wahr bleibt: „Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht bei weitem übersteigt, werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen“ (Mt 5,20).
Aber der Herr erklärt hier nicht, wie das geschehen kann. Er erklärt nur, dass das, was dem Wesen Gottes entsprach, nicht in der menschlichen jüdischen Gerechtigkeit zu finden war, und dass es zum Reich passen muss.