So sehen wir, wie gut diese Prophezeiung zu dem Evangelium passt, das wir betrachten. Denn wir haben hier jemanden, der der Jahwe-Messias ist, ein göttlicher König – kein bloßer Mensch, aber von der Nation und von den Führern verachtet, der sich in Gnade denen zu erkennen gibt, die am meisten verachtet waren, in den Außenbezirken, wenn man zu den Heiden hinausgeht. Was Könige vergeblich gesucht hatten, was Propheten zu sehen begehrten, das sahen ihre Augen. Der Herr beginnt, sich einen Überrest in Israel ‒ im Galiläa der Heiden ‒ abzusondern. Damit wird das Ziel des Matthäus von Anfang an aufrechterhalten und bestätigt. Aber es gibt noch mehr als dies.
Von da an begann Jesus zu predigen und zu sagen: Tut Buße, denn das Reich der Himmel ist nahegekommen (4,17).
Jetzt ist es klar, dass damit seine öffentliche Verkündigung beginnt. Die Unterhaltung mit Nikodemus war völlig anders. Warum haben wir nichts wie die samaritische Frau bei Matthäus? Wie passt sie zum Johannesevangelium? Bei Matthäus geht es um die Erfüllung der Prophezeiungen über den Messias. Hier zeigt Gott, dass es seinerseits kein Versagen des Zeugnisses gibt, bis das Werk des Täufers abgeschlossen ist. Das erwartet Jesus bei Matthäus.
In Johannes wartet Er auf all das nicht. Er gibt dort das erhabenste Zeugnis über das Reich Gottes und die Notwendigkeit eines Lebens, das der Mensch von Natur aus nicht hat, das allein Gott geben kann. Auch finden wir dort die Notwendigkeit des Kreuzes als Ausdruck des Gerichts Gottes über die Sünde in Gnade für die Sünder, ja, für die Welt. So besteht die Lehre in Johannes 3 aus diesen beiden Teilen: (1) ein von Gott gegebenes Leben, das vollkommen heilig ist und (2) das Sterben Jesu zur Sühnung für Sünden des alten Lebens, das niemals in die Gegenwart Gottes eintreten konnte. Denn obwohl die Gläubigen das neue Leben haben müssen, kann dieses doch nicht die Sünde auslöschen. Der Tod ist ebenso nötig wie das Leben, und der Erlöser bietet beides. Er ist die Quelle des Lebens als der Sohn Gottes, und Er stirbt als der Sohn des Menschen. Und das ist es, was Er am Anfang des Johannesevangeliums eindrucksvoll erklärt.
Bei Matthäus wartet Jesus, wie gesagt, bis das Zeugnis des Johannes des Täufers beendet ist, und dann tritt er in sein öffentliches Wirken ein. Diese Dinge sind vollkommen harmonisch. Hätte es geheißen, dass unser Herr Nikodemus das Reich der Himmel gepredigt hätte, so hätte es vielleicht nach einem Widerspruch ausgesehen; aber das tat Er nicht. Er betonte die Notwendigkeit einer neuen Geburt für jeden, damit er das Reich Gottes sehen kann. Aber bei Matthäus schaut Er auf das, was die Erde betrifft – das Reich der Himmel entsprechend der Prophezeiung Daniels. Hier wartet Er, bis sein irdischer Vorläufer seine Aufgabe vollendet hat. Der Dienst des Johannes wird von Elias fortgesetzt. Der Vorläufer muss sein Werk abgeschlossen haben, bevor der Herr sein eigenes beginnt. Deshalb lässt Matthäus alle Hinweise auf irgendetwas Öffentliches über Christus weg, bevor Johannes ins Gefängnis geworfen wird. Er stellt den Juden das Reich der Himmel als das vor, was ihre Propheten angekündigt hatten.
Lasst uns sehen, wie das Wirken unseres Herrn im Lukasevangelium beginnt. Kapitel 4 wird für diesen Zweck ausreichen. Der Herr kehrt in der Kraft des Geistes nach Galiläa zurück: „... und die Kunde über ihn ging aus durch die ganze Gegend. Und er lehrte in ihren Synagogen, geehrt von allen. Und er kam nach Nazareth, wo er auferzogen worden war“ (Lk 4,14‒16).
Dies ist eine frühere Begebenheit. Er ist da noch nicht in Kapernaum. Matthäus lässt das alles weg. Das ist umso auffälliger, weil Lukas nicht zu denen gehörte, die persönlich mit unserem Herrn zusammen waren, was Matthäus wohl war. Doch wenn wir nicht glauben, dass es Gott ist, der die Hand jedes Schreibers geführt und sein eigenes Siegel daraufgesetzt hat, sind wir nicht in der Lage, die Schrift zu verstehen. Dann fügen wir unsere eigenen Gedanken hinzu, statt uns dem Geist Gottes zu unterwerfen. Was wir wollen, ist, uns Gott anzuvertrauen, der sein eigenes gesegnetes und unendliches Licht auf uns scheinen lässt.
Warum gibt uns Gott diese Begebenheit in Nazareth bei Lukas und nirgendwo sonst? Geht es um den Messias? Nein; das ist nicht der Gegenstand bei Lukas. Es ist auch nicht sein Dienst in der Reihenfolge, in der er stattgefunden hat: Das findet man bei Markus. Doch sowohl Lukas als auch Matthäus ändern die Reihenfolge der Ereignisse, um den moralischen Gegenstand jedes Evangeliums hervorzuheben. Lukas erwähnt die Begebenheit in der Synagoge, Matthäus tut das nicht. Wenn jemand das Lukasevangelium mit geistlicher Einsicht gelesen hat, was ist der einheitliche Eindruck, der dem Verständnis vermittelt wird? Da ist der Mann, der gepriesen ist, gesalbt vom Heiligen Geist, der umhergeht und Gutes tut. Das ist genau die Art und Weise, in der Petrus das Leben Jesu in der Apostelgeschichte zusammenfasst, als er über Ihn zu Kornelius predigte: „Jesus, den von Nazareth, wie Gott ihn mit Heiligem Geist und mit Kraft gesalbt hat, der umherging, wohltuend und alle heilend, die von dem Teufel überwältigt waren; denn Gott war mit ihm“ (10,38). Und dann berichtet er von seinem wunderbaren Werk in seinem Tod und seiner Auferstehung und dessen Früchten für den Gläubigen.
Wenn wir das Lukasevangelium aufschlagen, was ist dann die erste Begebenheit des Dienstes unseres Herrn, die dort aufgezeichnet ist? In Nazareth, dem am meisten verachteten Dorf in Galiläa, dem Ort, an dem unser Herr sicher war, dass Er verachtet wurde – in seinem eigenen Land, wo er all die Tage seines privaten Lebens in gesegnetem Gehorsam gegenüber den Menschen und der Abhängigkeit von Gott gelebt hatte – an diesem Ort betrat er am Sabbat die Synagoge und stand auf, um aus dem Propheten Jesaja vorzulesen, wo geschrieben steht: „,Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen; er hat mich gesandt, Gefangenen Befreiung auszurufen und Blinden das Augenlicht, Zerschlagene in Freiheit hinzusenden, auszurufen das angenehme Jahr des Herrn.‘ Und als er das Buch zugerollt hatte, gab er es dem Diener zurück und setzte sich“ (Lk 4,18‒20).
Er hörte mitten im Satz auf. Warum das? Aus einem höchst wertvollen Grund. Er war als Verkünder der Gnade gekommen, als Diener der göttlichen Gütigkeit für arme und elende Menschen. In der Prophezeiung Jesajas mischte sich das Gericht mit der Barmherzigkeit. Das Matthäusevangelium weist auf das Gericht über die Juden und die Barmherzigkeit für das verachtete Galiläa hin. Aber hier geht es um weitaus wichtigere Dinge. Im Lukasevangelium steht kein Wort über das Gericht. Nichts anderes erscheint, als nur die Fülle der Gnade, die in Christus war. Er war mit aller Macht und Willigkeit gekommen, um zu segnen: Der Geist des Herrn war deshalb auf Ihm. Er war gesandt, das angenehme Jahr des Herrn zu verkündigen – genau an der Stelle rollte Er dann das Buch zu. Die nächsten Worte, die „den Tag der Rache unseres Gottes“ ankündigten, fügte er nicht hinzu. Er hörte bezeichnenderweise dort auf, bevor ein Wort über diesen Tag gesagt wird.
Was den eigentlichen Auftrag betrifft, mit dem Jesus vom Himmel kam, so war Er nicht gekommen, um Rache zu üben. Das war allein das, wozu ihn der Mensch durch die Verweigerung der Gnade nach und nach zwingen würde. Nein, Er kam, um die göttliche Liebe zu zeigen, die in einem vollkommenen, unaufhörlichen Strom aus seinem Herzen fließt. Das war es, was unser Herr hier eröffnete. Wohin passt eine solche Begebenheit wie diese? Genau an die Stelle, wo sie vorkommt: nur im Lukasevangelium. Du kannst sie nicht in Matthäus oder gar in Johannes einfügen. Sie hat einen Charakter, der zu diesem Evangelium gehört und zu keinem anderen. Einige der Umstände des Dienstes unseres Herrn werden in allen Evangelien erwähnt, aber nicht in diesem: Weil er im Strom des Lukasevangeliums fließt, findet man ihn nur dort.
Dies wird helfen, die charakteristischen und göttlich angeordneten Unterschiede der Evangelien zu verdeutlichen. Harmonisieren ist der Versuch, Dinge, die nicht gleich sind, in eine Form zu pressen. So haben wir, wenn ich ein paar Worte zu dem Bericht in Lukas hinzufügen darf, mehr zur Unterstützung. Als sie an seinen Lippen hingen, um die Worte der Gnade zu hören, wie der Heilige Geist sie charakterisiert, richteten sich alle Augen auf ihn. „Er fing aber an, zu ihnen zu sagen: Heute ist diese Schrift vor euren Ohren erfüllt...und sie sprachen: Ist dieser nicht der Sohn Josephs?“ (Lk 4,21.22).Das war der Unglaube ihres Herzens. Er war verachtet und verlassen von den Menschen; nicht nur von den stolzen Männern in Jerusalem, sondern sogar in Nazareth. Das ist das Thema des Lukas, der den tieferen Gedanken noch zeigt – dass es nicht nur die Menschen waren, die aus dem Gesetz erbaut werden konnten, sondern dass das Herz der Menschen gegen Ihn war, wo immer Er war. Sei es nun in Nazareth, wo Er die Worte größter Gnade aussprach, die je auf den Lippen eines Menschen waren, so folgte doch Verachtung. „Und Er sprach zu ihnen: Ihr werdet allerdings dieses Sprichwort zu mir sagen: Arzt, heile dich selbst; alles, was wir gehört haben, dass es in Kapernaum geschehen sei, tu auch hier in deiner Vaterstadt“ (Lk 4,23).
Wir lernen hier offensichtlich, dass der Herr viele Dinge anderswo getan hatte, auch Dinge, die vorher stattgefunden hatten. Doch der Geist Gottes berichtet dies erst hier ausführlich. Der Herr stellt dementsprechend etwas anderes vor, auf das ich hinweisen muss. Er nimmt Beispiele aus der jüdischen Geschichte, um den Unglauben der Juden und die Güte Gottes gegenüber den Heiden zu illustrieren: „In Wahrheit sage ich euch: Viele Witwen waren in den Tagen Elias in Israel, als der Himmel drei Jahre und sechs Monate verschlossen war ... und zu keiner von ihnen wurde Elias gesandt als nur nach Sarepta“ (Lk 4,25.26).
Er zeigt also, dass Gott sich bei Unglauben Israels an die Heiden wendet, das sollten sie hören. Das ist der große Punkt im Lukasevangelium – nicht nur die Darstellung der Fülle der Gnade, die in Jesus war, sondern dass Gott sich zu den Heiden wendet und sich über sie erbarmt. Die erste aufgezeichnete Rede unseres Herrn im Lukasevangelium bringt die eigentliche Absicht des Evangeliums zutage. Daher, als der Herr diese Worte sprach, heißt es: „Und alle in der Synagoge wurden von Wut erfüllt, als sie dies hörten. Und sie standen auf und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn bis an den Rand des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, um ihn hinabzustürzen. Er aber ging durch ihre Mitte hindurch und ging weg. Und er kam nach Kapernaum hinab“ (V. 28‒31).