Behandelter Abschnitt Mt 4,1-3
Es gibt zwei Dinge, die wir feststellen können, bevor unser Herr vom Teufel versucht wird. Erstens wird Er ausdrücklich als der Sohn Gottes anerkannt. Zweitens ist Er als Mensch vom Heiligen Geist gesalbt. Etwas Ähnliches gilt nun auch für den Gläubigen ‒ natürlich in abgeschwächter Form. Auch der Gläubige wird als ein Sohn Gottes anerkannt, auch ihm ist der Geist Gottes gegeben, bevor er das eigentliche Ziel der Versuchungen des Feindes wird. Dies ist ein wichtiger Unterschied, den wir im Auge behalten sollten. Genau genommen ist die Beziehung, die der Sünder zum Feind hat, nicht das Ziel, das erprobt wird. Er ist ein Gefangener; er wird vom Teufel nach dessen Willen geführt. Das ist etwas ganz anderes als eine Verführung; denn sie setzt voraus, dass der Mensch völlig unter der Macht Satans steht. Wir werden versucht, wenn wir außerhalb der Macht des Feindes sind und weil wir Söhne Gottes sind.
Wir sehen also, dass alle Menschen auf die eine oder andere Weise mit Satan zu tun haben. Die Masse der Menschheit sind seine Sklaven. Aber solche, die durch die Macht Gottes befreit sind und durch die Gnade Gottes Kinder sind, werden die Ziele seines Angriffs auf dem Weg der Versuchung. Es ist nicht so sehr seine Macht, die sie zu fürchten haben, denn wenn ein Mensch Jesus angenommen hat, ist Satans Macht wirklich null und nichtig. Sie ist für den Gläubigen völlig gebrochen. Deshalb werden wir vielmehr vor seinen Listen gewarnt (Eph 6,11; vgl. 2Kor 2,11). In gewissen Fällen mag man unter seinen feurigen Pfeilen leiden. Doch auch das ist nicht seine Macht, die durch das Werk Christi für den Gläubigen gebrochen ist: Der Gläubige braucht nur zu widerstehen, und der Teufel wird von ihm fliehen (Jak 4,7). Wenn Satan wirklich Macht hätte, ist es klar, dass er nicht fliehen würde, doch er hat keine. Er hat sie verloren, was den Menschen betrifft, der Christus angenommen hat. Aber während für den Glauben die Macht Satans eine Sache ist, die durch das Kreuz Jesu zerstört wurde, sind seine List und Tücke allerdings eine sehr ernste Tatsache. Wir sollten nicht unwissend über seine Listen sein. Nun hat es Gott in seiner Gnade wohlgefallen, uns seine Art des Umgangs mit unserem großen Herrn vorzustellen. Dass dies zu unserem Gebrauch bestimmt ist und das große Muster und der Grundsatz der Versuchungen Satans zu jeder Zeit ist, geht aus vielen offensichtlichen und wichtigen Überlegungen hervor.
Außerdem wissen wir aus dem Lukasevangelium, dass es im Fall unseres Herrn eine sehr lang andauernde Versuchung seitens Satans gegeben hatte, von der wir keine Einzelheiten kennen. Es wird uns nur berichtet, dass Jesus vierzig Tage lang vom Teufel versucht wurde. Aber die großen Versuchungen, die es dem Heiligen gefiel für uns aufzuzeichnen, sind die, die am Ende der vierzig Tage stattfanden. Dürfen wir nicht daraus schließen, dass es in der Versuchung unseres Herrn zwei Arten gab? Erstens die, die nicht für den Menschen üblich waren, sondern was unserem Herrn eigen war? Denn wir sind nicht solchen Umständen unterworfen wie vierzig Tage lang in die Wüste geführt zu werden. Doch zweitens sind wir solchen Versuchungen ausgesetzt, die wir hier am Schluss finden. Der Herr scheint einen Schleier über die ersten zu werfen und legt sorgfältig offen, wie im Grundsatz jedes Kind Gottes zu irgendeiner Zeit versucht werden kann.
Wir werden sehen, dass diese drei Versuchungen, die von Matthäus und Lukas in einer anderen Reihenfolge dargestellt werden, uns einen bewundernswerten Einblick in die Wege Satans geben, wenn er die Kinder Gottes auf diese Weise angreift. Aber es ist überaus schön zu sehen, dass Satan, bevor ihm überhaupt erlaubt wird, zu versuchen, die Größe der Anerkennung des Sohnes seitens des Vaters völlig zur Geltung gebracht wird. Und in der Tat ist es etwas Ähnliches, was jeden für den Hass Satans unausstehlich macht. Der Feind ist sich sehr wohl bewusst: Wenn Gott jemanden zur Umkehr und zum Leben führt, der bis dahin tot war in Übertretungen und Sünden, dass er sofort mit seinen Versuchungen kommt. Sie müssen natürlich nicht in der gleichen Reihenfolge kommen, wie die unseres Herrn, doch sie scheinen mehr oder weniger einen ähnlichen Charakter zu haben, wie die hier offenbarten Versuchungen.
Es ist klar, dass die erste Versuchung aus den tatsächlichen Umständen unseres Herrn erwuchs. Er war die ganze Zeit in der Wüste ohne Nahrung, und am Ende der vierzig Tage war er ausgehungert. Als Mose auf dem Berg eine gleich lange Zeit ohne Nahrung war, war er bei Gott und wurde auf wunderbare Weise erhalten. Aber das Besondere hier ist, dass Er diese Zeit mit dem Feind verbrachte. Bei niemandem war das so und wird auch nie wieder so sein. Die ganze Zeit in der Gegenwart Satans zu sein und dabei von Gott abhängig zu sein, war die größte moralische Ehre, wenn auch die härteste Prüfung, die je ein Mensch erlebt hat. Währenddessen wird der Herr als Sohn des Menschen und auch als Sohn Gottes gesehen.
Der einleitende Hinweis zeigt uns, dass die Versuchung die ganze Zeitandauerte, in der unser Herr in der Wüste war.
Dann wurde Jesus vom Geist in die Wüste hinaufgeführt, um vom Teufel versucht zu werden; und als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn schließlich. Und der Versucher trat zu ihm hin und sprach: Wenn du Gottes Sohn bist, so sprich, dass diese Steine zu Broten werden (4,1‒3).
Was auch immer das Ziel des Satans war, dies ist ein wesentlicher Teil seiner Taktik – er bewirkt Zweifel, Zweifel an unserer eigenen Beziehung zu Gott. „Wenn du Gottes Sohn bist“. Nun, suche im Wort Gottes, wenn du magst, niemals wirst du finden, dass sein Geist einen Menschen zum Zweifel führt. Nichts widerspricht seiner Weise mehr, als Misstrauen gegenüber Gott zu bewirken. Das zeigt die außerordentliche Raffinesse Satans, dass er sogar die Kinder Gottes selbst zu seinen Werkzeugen gemacht hat, indem er nicht nur Zweifel in ihnen selbst bewirkt, sondern auch hilft, sie in anderen zu wecken, oft unter dem falschen Vorwand, dass es ein Zeichen von Demut sei und dem Wunsch niedrig zu sein, Gott nicht zu vertrauen! Doch der Glaube sagt: „Wir vertrauen immer.“
Nicht, dass wir vor der Selbstprüfung zurückschrecken sollten: Wir finden dies ausdrücklich in der Schrift. So werden die Gläubigen in 1. Korinther 11 offensichtlich ermahnt, sich selbst zu prüfen, aber nicht mit der Absicht, Zweifel zu bewirken. Im Gegenteil: „Jeder prüfe sich selbst, und so esse er“ (V. 28); denn die Frage bezog sich auf das Abendmahl des Herrn. Doch angenommen, er findet etwas bei sich, was falsch ist, soll er nicht essen? Er sollte gewiss auf seinen Erretter schauen und die Gnade in Anspruch nehmen, die niemals versagt. Anzunehmen, dass es keine Hilfe gibt, würde Christus entehren und seine Wahrheit und Liebe leugnen. „Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht“ (2Kor 12,9). Das ist das Wort des Herrn.
Aufgrund seiner Gnade soll sich der Gläubige bei dem Gedanken, zum Tisch des Herrn zu gehen, selbst prüfen. Es ist nicht die Frage, ob er gehen oder fernbleiben soll: Das finden wir nicht in der Schrift. Wir finden andererseits auch nicht, dass es, weil ich ein Christ bin, nichts ausmacht, in welchem geistlichen Zustand ich mich befinde. Aber jemand soll sich selbst prüfen und so essen. Er wird sicher das finden, was zur Demütigung auffordert. Es ist wichtig für jemanden, Gott zu nahen und sein Licht auf alles, was da ist, scheinen zu lassen. Das gibt Grund, sich zu demütigen und nicht wegzubleiben. Das ist es, was der Geist Gottes als eine allgemeine Regel für das Abendmahl festlegt. Natürlich spreche ich jetzt nicht von Fällen offener Sünde, wo es erforderlich ist für die Herrlichkeit des Herrn einzutreten. Das setzt voraus, dass ein Mensch die Sünde praktiziert und sich nicht selbst prüft. Aber es geht jetzt um den allgemeinen Lebenswandel eines Kindes Gottes. Der Apostel besteht auf einer sorgfältigen Untersuchung dessen, was jemand in sich selbst findet; doch dann:„so esse er.“ „Wenn du Gottes Sohn bist.“ Unser Herr sah nicht danach aus. Es gab nichts von solch einem Charakter äußerlich, was zu sehen gewesen wäre und damit alle Fragen beantwortet hätte. Wäre es so gewesen, wäre kein Platz mehr für den Glauben gewesen. Satan benutzt die Niedrigkeit unseres Herrn in der Stellung aus, die Er als Mensch einnahm. Und in der Tat könnte nichts merkwürdiger sein, als dass Er in der Wüste gefunden wurde, und, wie wir bei Markus lesen, unter wilden Tieren (1,13). Wenn Er wirklich der Sohn Gottes war, der Schöpfer des Himmels und der Erde, was war das für ein Ort, an dem Er sich befand und zu dem der Geist Ihn führte, nachdem der Vater vom Himmel gesprochen und Ihn als seinen geliebten Sohn anerkannt hatte! Doch so war es. Und so ist es auch jetzt in einem eingeschränkten Maß in Bezug auf die Kinder Gottes. Denn wie sehr sie auch von Gott gesegnet sein mögen, oder wie sehr sie wirklich als seine Söhne anerkannt sind und seinen Geist in sich wohnend haben, so haben sie doch auch in ihrem Maß ihre Wüste.
Er sagt gleichsam: „Wie mich mein Vater in die Welt gesandt hat, so sende auch ich euch in die Welt“ (vgl. Joh 17,18; 20,21). Das ist nicht irgendein angenehmer Ort, wo es keinen Platz für Prüfungen gibt, sondern ganz im Gegenteil. Weil wir Gott und dem Himmel angehören, weil wir den Heiligen Geist haben, der uns auf den Tag der Erlösung hin versiegelt hat, müssen wir Satan begegnen, aber in der Gewissheit, dass seine Macht gebrochen ist und dass wir seinen Listen widerstehen müssen.
Satan stellt die Beziehung Christi zu Gott in Frage, so wirkte er tatsächlich. Doch der Herr erklärt ihn erst dann zum Satan, nachdem sich eine offene Rebellion gegen Gott gezeigt hat. Wenn es mehr verborgen ist, nennt Er ihn nicht Satan. Es gibt zwei Arten, wie der Feind in der Heiligen Schrift beschrieben wird. Er wird Satan und der Teufel genannt. Letzterer ist der Begriff, der seinen anklagenden Charakter und seine List andeutet; ersterer bezieht sich auf seine Macht als Widersacher.
Wir müssen warten, auch wenn wir vermuten, dass die Macht des Bösen am Werk ist, bevor wir das absolut aussprechen. Denn wenn es eine solche Tatsache gibt, dass der Teufel versucht, dann stellt auch Gott einen Gläubigen auf die Probe, und das kann sehr schmerzhaft sein. Außerdem handelt auch Gott selbst nicht, bis eine Sache offensichtlich ist. Er zeigt eine wunderbare Geduld, ganz im Gegensatz zur Eile des Menschen. Er kommt herab, um zu sehen, ob das Böse so groß ist, wie im Fall von Adam (1Mo 3), ja, von Sodom und Gomorra (1Mo 18,20.21). Aber es bleibt immer wahr ‒ was auch immer Gott bei anderen Gelegenheiten tut ‒ so schnell Er auch den Schrei der Seinen in Not hört, so ist Er doch äußerst langsam im Richten. Und es gibt nichts, was die Erkenntnis Christi praktisch und die entsprechende Wirkung bei uns mehr kennzeichnet, als wenn dasselbe auch für uns gilt. Hastige Eile beim Richten ist die Weise des Menschen in Beziehung zu seinem Mangel an Gnade. Geduld ist nicht eine Frage der Erkenntnis, sondern der Liebe, die man anderen erweist, unwillig, ein Urteil zu fällen, bis alle Hoffnung dahin ist. Es mag Eile geboten sein. Das Aufbäumen des Fleisches, das so bedrohlich aussah, könnte sich schließlich als nur oberflächlich und nicht tiefergehend herausstellen.
So sehen wir hier Geduld auch im Umgang unseres Herrn mit dem Widersacher. Erst wenn er gründlich offenbart, was er ist – erst wenn er die Anbetung fordert, die allein Gott gebührt –, sagt unser Herr: „Geh hinweg, Satan.“ Der Widersacher flieht dann augenblicklich. Aber der Herr lässt ihn sich erst einmal gründlich selbst entdecken. Das ist göttliche Weisheit. Denn obwohl der Herr die ganze Zeit wusste, dass er Satan ist, was wäre das für ein Beispiel für uns? Der Herr ist hier der gepriesene Mensch in der Gegenwart Satans und zeigt uns, wie wir uns in den Versuchungen, die auf uns als Heilige Gottes zukommen, zu verhalten haben.
Ich will noch ein Wort in Bezug auf die Versuchung sagen. In dem Sinn, wie wir sie hier haben, ist sie vollständig von außen. Unser Herr wusste nie, was es heißt, von innen versucht zu werden. Er wurde in allem versucht wie wir (Heb 4,15). Aber der Heilige Geist schränkt dies ein, indem er hinzufügt: „ausgenommen die Sünde“.5 Es war nicht nur so, dass Er der Sünde nicht nachgab, sondern Er hatte nie den Grundsatz der Sünde – niemals die geringste Bewegung eines Gedankens oder Wunsches, der gegen Gott gerichtet war. Er kannte keine Sünde. Darin unterscheiden wir uns sehr von Ihm. Wir haben manchmal Grund zu tiefer Demütigung, weil wir nicht nur mit dem Teufel draußen zu tun haben, sondern auch eine böse Natur in uns haben – das ist es, was die Schrift das Fleisch nennt (das ist das Selbst, die Quelle des Ungehorsams und der Feindschaft gegen Gott).
Das ist die Quelle der lieblosen, eigenwilligen, gottlosen Begierden in uns, die natürlich niemals den Willen Gottes sucht, außer in einem Geist der Furcht. Sie sagt: Was wird aus uns, wenn wir das nicht tun? Wir suchen den Willen Gottes niemals als etwas, das wir lieben, das tun wir erst, wenn wir aus Gott geboren sind. Auch nachher ist derselbe böse Grundsatz noch da. Doch dann haben wir ein neues Leben, das uns von Gott eingepflanzt ist, das sich an seinem Willen erfreut.
5 Die exakte Übersetzung des griechischen Ausdrucks lautet: „Der in allen Dingen der Sünde gleichversucht war“ (Anm. des engl. Herausgebers).↩︎