Daniel, so finden wir, hatte den Erlass Koresʼ, der zwei Jahre zuvor erging und den Israeliten entsprechend der Prophezeiung die Freiheit gewährte, in ihr eigenes Land zurückzukehren, nicht in Anspruch genommen. Daniel befand sich noch in der Gefangenschaft. Aber noch mehr als das macht der Geist Gottes auf den Zustand der Seele des Propheten aufmerksam. Er vergnügte sich nicht in der Fremde, sondern trauerte und fastete; und das unter Umständen, in denen er natürlich alles zur Verfügung hatte. Er aß, wie es heißt, keine köstliche Speise:
Köstliche Speise aß ich nicht, und weder Fleisch noch Wein kam in meinen Mund; und ich salbte mich nicht, bis drei volle Wochen vorüber waren (10,3).
Nun ist es sicher nicht umsonst, dass der Geist Gottes uns Daniel nicht nur vor dem Erlass Koresʼ, sondern auch danach in einer solchen Haltung vor dem Herrn zeigt. Wir können alle verstehen, dass er, als der Augenblick herankam, in dem der kleine Überrest Babylon verlassen und in das Land seiner Väter zurückkehren sollte, seine eigene Seele vor Gott durch Fasten züchtigte und die Sünde vor seinem Auge vorüberziehen ließ, die eine so furchtbare Züchtigung des Volkes durch den Herrn verursacht hatte – obwohl er schon damals genau das Gegenteil von dem tat, was das Fleisch unter diesen Umständen gesucht hätte. Denn wenn eine große äußere Barmherzigkeit gewährt wird, dann ist das die Zeit, in der der Mensch von Natur aus dazu neigt, seinem Vergnügen eher freien Lauf zu lassen. Bei Daniel sehen wir das Gegenteil davon. Er nahm den Platz des Bekenntnisses ein, und zwar des Bekenntnisses der Sünden, nicht nur der Sünden Israels, sondern auch seiner eigenen. Alles war vor ihm. Kein anderer als ein heiliger Mann konnte ein so tiefes Sündenbewusstsein haben. Aber dieselbe Kraft des Heiligen Geistes, die wirkliche Selbsterniedrigung schenkt, befähigt einen auch, in Liebe den traurigen und elenden Zustand des Volkes Gottes zu erfassen. Solche Gedanken wie diese scheinen die Seele Daniels erfüllt zu haben, als er durch die Prophezeiung Jeremias erfuhr, dass die Befreiung Israels unmittelbar bevorstand. Es gab keine Art von Jubel über einen gefallenen Feind – kein Triumphgeschrei, weil das Volk befreit werden sollte; obwohl Kores selbst es als eine hohe Ehre ansah, dass Gott ihn zum Werkzeug für beides gemacht hatte. Wohl konnte ein Mann Gottes darüber nachdenken, was die Sünde angerichtet hatte, als der Herr nicht einmal von Israel als seinem Volk sprechen konnte, obwohl der Glaube Daniels ihn nur umso mehr dazu brachte, dafür einzutreten, dass sie es waren.
Hier war der Erlass so ergangen, wie er es erwartet hatte. Der persische Eroberer hatte den Gefangenen die Tür der Hoffnung geöffnet, Babylon zu verlassen, und die, die es wollten, waren in ihr eigenes Land zurückgekehrt. Daniel war nicht unter ihnen. Anstatt nun nichts als leuchtende Visionen von unmittelbarer Herrlichkeit zu erwarten, findet man ihn immer noch, und mehr als je zuvor, in einer Haltung der Demütigung vor Gott. Wenn der Grund für diese verlängerte Fastenzeit bekannt wird, werden wir in die Verbindung der sichtbaren mit der unsichtbaren Welt eingeführt. Der Schleier wird nicht nur von der Zukunft gehoben, denn das tut jede Prophetie; aber die Aussage der Vision, die uns hier gegeben wird, enthüllt in einem interessanten Licht, was jetzt um uns herum geschieht, aber unsichtbar. Daniel durfte es hören, damit wir es wissen und auch für uns selbst das Bewusstsein haben, dass es neben den Dingen, die man sieht, auch unsichtbare Dinge gibt, die für das Volk Gottes viel wichtiger sind, als alles, worauf der Mensch schaut.
Wenn es auf der Erde Konflikte gibt, so entspringen sie höheren Konflikten – unter den Engeln, die mit diesen bösen Wesen ringen, den Werkzeugen Satans, die ständig versuchen, die Ratschlüsse Gottes in Bezug auf die Erde zu vereiteln. Dies wird hier auf bemerkenswerte Weise deutlich. Wir wissen, dass die Engel mit den Heiligen Gottes zu tun haben; aber wir haben vielleicht nicht so deutlich erkannt, dass sie auch mit den äußeren Ereignissen dieser Welt zu tun haben. Das Licht Gottes leuchtet hier auf das Thema, so dass wir in der Lage sind zu verstehen, dass es keine Bewegung der Welt gibt, die nicht mit den Vorsehungshandlungen Gottes verbunden ist. Und die Engel sind die Werkzeuge zur Ausführung seines Willens; es wird ausdrücklich gesagt, dass sie sein Wohlgefallen tun (Ps 103,21). Auf der anderen Seite gibt es solche, die sich Gott ständig widersetzen: Es fehlt nicht an bösen Engeln. Die, die das nicht mitbekommen, verlieren sicherlich etwas, weil es uns eine viel stärkere Sicht von der Notwendigkeit gibt, dass wir Gott als unsere Stärke haben. Wäre es eine bloße Frage zwischen Mensch und Mensch, könnten wir verstehen, dass ein Mensch im Bewusstsein seiner Stärke oder seiner Weisheit oder anderer Hilfsquellen einen anderen nicht zu fürchten brauchte. Aber wenn es eine Tatsache ist, dass wir mit Mächten zu kämpfen haben, die uns in allem, was an äußerer Intelligenz und Macht vorhanden ist, bei weitem überlegen sind (denn Engel werden „Gewaltige an Kraft“ genannt; Ps 103,20), dann ist es klar, dass wir, wenn wir Überwinder sein wollen, auf die Unterstützung eines anderen angewiesen sind, der mächtiger ist als alles, was gegen uns sein kann. Der Glaube, der so mit Gott rechnet, ist eine Befreiung von der Angst vor allem, was in der Welt vor sich geht. Denn obwohl es böse Geister gibt und die Menschen nur wie Figuren sind, die von ihnen im Spiel dieses Lebens bewegt werden, so gibt es doch in Wirklichkeit eine höhere Hand und einen höheren Geist, der hinter der Szene die Züge führt und unbekannt ist für die handelnden Personen. Das gibt unseren Gedanken über alles, was hier auf der Erde geschieht, einen viel ernsteren Charakter.