Behandelter Abschnitt Dan 10,5-6
Neben diesen Engeln erscheint ein weiterer auf der Szene:
Und ich erhob meine Augen und sah: Und siehe, da war ein Mann, in Leinen gekleidet, und seine Lenden waren umgürtet mit Gold von Uphas; und sein Leib war wie ein Chrysolith und sein Angesicht wie das Aussehen des Blitzes und seine Augen wie Feuerfackeln und seine Arme und seine Füße wie der Anblick von leuchtendem Kupfer; und die Stimme seiner Worte war wie die Stimme einer Menge (10,5.6).
Er, von dem wir in Vers 6 eine so herrliche Beschreibung haben und den nur Daniel sieht, scheint kein bloßer Engel gewesen zu sein. Er mag in einigen Zügen engelhafter Herrlichkeit gesehen worden sein; aber ich denke, es handelt sich um den, der sowohl in der neutestamentlichen als auch in der alttestamentlichen Geschichte oft erscheint – der Herr der Herrlichkeit selbst. Er erscheint jetzt als Mensch, der tiefstes Mitempfinden mit seinem Diener auf der Erde hatte. Alle anderen waren geflohen, um sich zu verstecken, Daniel blieb: Doch es blieb keine Kraft in ihm – seine Anmut wurde in Entsetzen verwandelt. Sogar ein vielgeliebter Mann und treuer Heiliger Gottes musste erkennen, dass all seine frühere Weisheit vergeblich war; denn er war nun ein sehr alter Mann und hatte dem Herrn in besonderer Weise die Treue gehalten.
Gerade zu dieser Zeit war er der, der den wahren Zustand Israels am besten erkannte. Denn er sah wohl, dass eine lange Zeit vergehen musste, bevor der Messias kommen würde, und der offenbarende Engel hatte angekündigt, dass der Messias weggetan werden und nichts haben würde. Kein Wunder also, dass er trauerte. Andere mochten voll strahlender Hoffnung sein, dass der Messias bald erscheinen und sie als eine Nation in der Welt erhöhen würde. Daniel hingegen wurde trauernd und fastend gefunden; und nun geht die Vision vor ihm vorüber, und diese gesegnete Person offenbart sich ihm. Doch trotz all der Liebe, die auf ihm ruhte – trotz seiner vertrauten Kenntnis der Wege Gottes und der Gunst, die ihm in früheren Visionen erwiesen worden war, wurde Daniel seine eigene völlige Schwäche gründlich bewusst gemacht. All seine Stärke zerfiel vor dem Herrn der Herrlichkeit zu Staub. Und das hat für uns eine Moral von nicht geringer Bedeutung. Wie groß auch der Wert dessen sein mag, was ein Heiliger gelernt hat, die Vergangenheit allein befähigt uns nicht, die neue Lektion Gottes zu verstehen. Dazu ist Gott selbst notwendig – nicht nur das, was wir bereits gelernt haben. Ich denke, dass dies eine bedeutende und sehr praktische Wahrheit ist. Wir alle kennen die Tendenz kluger Menschen, einen Vorrat für die kommende Zeit anzulegen. Ich leugne nicht den Wert von geistlichem Wissen auf verschiedene Weise – sei es, um anderen zu helfen, oder um uns selbst eine richtige und heilige Meinung über die Umstände zu bilden, die um uns herum passieren.
Aber wo der Herr etwas hervorhebt, was man vorher nicht gelernt hat, da ist Daniel trotz allem, was er vorher wusste, völlig machtlos. Er ist in dieser letzten Vision am meisten niedergeschlagen und erkennt mehr denn je seine ganze Nichtigkeit. Er ist ganz auf Gott geworfen, um aufzustehen und in das einzutreten, was der Herr ihm mitteilen wollte. Dasselbe zeigt sich bei Johannes, der auf der Erde im Schoß des Heilands gelegen hatte und von allen Jüngern am meisten in seine Gedanken eingedrungen war. Aber wenn der Heiland in seiner Herrlichkeit vor ihm steht, um ihm seine Gedanken über die Zukunft mitzuteilen, was ist dann der Apostel Johannes? Der Herr muss seine Hand auf ihn legen und ihm sagen, dass er sich nicht fürchten soll (Off 1,17). Er muss ihn durch das ermutigen, was Er selbst war: der Lebendige, der tot war, aber lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit und die Schlüssel des Todes und des Hades hat. Deshalb sollte er mit der vollkommensten Zuversicht zuhören, denn das war es, was Christus ist. Es gab keine Macht, die nicht vor Ihm versagen musste.
Hier geht Daniel in seinem Maß darauf ein. Der Tod des Fleisches muss immer verwirklicht werden, bevor das Leben Gottes genossen werden kann. Das ist, praktisch gesehen, wichtig. Bei der Gnade, die das Heil bringt, ist es nicht so, dass zuerst der Tod gelernt werden muss und danach das Leben. Das Leben in Christus kommt zu mir, einem Sünder, und dieses Leben entlarvt den Tod, in dem ich lag. Wenn ich meinen Tod erkennen müsste, damit ich dieses Leben bekomme, so wäre es offensichtlich, dass der Mensch an seinen wahren Platz gestellt wird, damit er den Segen Gottes empfängt. Doch das wäre keine Gnade. „Was von Anfang an war ..., was wir angeschaut und unsere Hände betastet haben, betreffend das Wort des Lebens“ (1Joh 1,1). Das heißt, es ist die Person Christi selbst, die kommt und den Segen bringt. Danach lernt jemand, „dass Gott Licht ist und gar keine Finsternis in ihm ist“ (1Joh 1,5). Sie lernt, dass wir lügen und nicht die Wahrheit tun, wenn wir sagen, dass wir haben Licht oder Gemeinschaft mit dem, der Licht ist, haben und doch in der Finsternis wandeln. Das ganze praktische Lernen dessen, was Gott ist und was wir sind, folgt der Offenbarung des Lebens für uns in der Person Christi. Wenn wir von der Reihenfolge in Bezug auf einen Sünder sprechen, ist es die souveräne Gnade, die in einem anderen das Leben gibt; aber wenn es um die Reihenfolge des Fortschritts im Gläubigen geht, ist es nicht so. Der Gläubige, der das Leben schon bekommen hat, muss alles in den Tod geben, was ihm bloß in der Natur zukommt, damit das Leben offenbar und gestärkt wird. Dies ist für den Gläubigen so wichtig, wie das andere für den Sünder ist. Der Mensch in seinem natürlichen Zustand glaubt nicht, dass er tot ist, sondern er bemüht sich, Leben zu bekommen. Er will das Leben; er hat jedoch keins. Es ist ein anderer allein, der es ihm in vollkommener Gnade bringt und gibt – der nur das Böse in ihm sieht, aber mit nichts als dem Guten kommt und es in Liebe bringt. Das ist Christus. Aber bei dem Gläubigen, der in Ihm schon das Leben gefunden hat, muss das Gericht über das Böse stattfinden, damit sich das neue und göttliche Leben entwickelt und wächst. Während es also bei dem einen das Leben ist, das den Tod entlarvt und dem Menschen im Tod begegnet und ihn davon befreit, ist es bei dem anderen das praktische Sterben alles dessen, was schon von Natur aus in ihm existiert hat. Alles muss unter das Todesurteil gebracht werden, damit das Leben zu seiner Entfaltung kommt und ungehindert wachsen kann.