Behandelter Abschnitt Jes 34,1-6
Der Geist Gottes hat in Kapitel 34 die irdischen Extreme des schonungslosen Gerichts und der ungetrübten Barmherzigkeit zusammengebracht; diese Dinge in zwei Völkern, die sich natürlich ähneln, doch umso mehr ihre Verschiedenheit und das göttlichen Handeln mit jedem von Anfang bis Ende offenbaren. Diese Nationen, so gerichtet und so gesegnet, entstammten demselben Stamm, demselben Vater, derselben Mutter, und verzweigten sich in Zwillingsbrüder, Esau auf der einen und Jakob auf der anderen Seite. Das Land Edom ist der Mittelpunkt des einen Bildes, wie des anderen der Berg Zion. Der stolze Ältere muss dem Jüngeren dienen. Von ihrer Geburt an und davor, so können wir sagen, in der vorangehenden Offenbarung, gab es viel, das das Denken dieser Söhne Isaaks und Rebekkas beeindruckte, viel, an das ihre Nachkommenschaft sich klammern würden bis zu seinem Kommen, der nicht nur die Vergangenheit gerecht richten, sondern auch in Zukunft mit den Zeichen und der Substanz seiner eigenen herrlichen Gegenwart beeindrucken wird.
Doch die frühe Geschichte schien weder der Prophezeiung noch ihrer Erfüllung zu entsprechen. Die Fürsten „Teman, Omar, Kenas“ (1Mo 36) und ihre Nachfolger blühten im Land Edom auf, während die Kinder Israels Fremde in einem Land waren, das ihnen nicht gehörte, und das sich bald als ein Schmelzofen des Elends in bitterer Knechtschaft erwies. Doch so ist es immer: „Aber das Geistige war nicht zuerst, sondern das Natürliche, danach das Geistige“ (1Kor 15,46). Wenn das Volk Gottes auf das hofft, was es nicht sieht, muss es mit Ausharren darauf warten. Er, der souverän ist, lässt zu, dass das Fleisch seinen Charakter bis zum Äußersten zeigt, es sei denn, dass besondere Barmherzigkeit eingreift, um es wegen anderer weiser und gnädiger Absichten aufzuhalten und zurückzuhalten. Aber seine Barmherzigkeit ist es, die sich aus seinem eigenen Wohlgefallen heraus zeigt und die den unbeugsamen Hochmut Edoms, der selbst in seiner tiefsten Not nie mit einem zerbrochenen Geist auf Gott schaute, zum Wahnsinn trieb.
Auf der anderen Seite war es für die Kinder Israel keine kleine moralische Prüfung, dass trotz der Verheißungen Gottes an sie ‒ die Nachkommen Esaus lange Zeit in friedlichem Genuss als Herren ihres Bodens leben sollten, während Jakob und seine Nachkommen Duldungshäftlinge waren, die bald Sklaven – und zwar für eine lange Zeit – im Land Hams sein sollten. Die Hälfte der Zeit, die die Verheißung von ihrem triumphalen Auszug trennte, sah sie als bloße Familiengruppe; und wenn sie danach schnell zu einem Volk heranwuchsen, dann aber unter Umständen zunehmender Unterdrückung und Erniedrigung. Das war keine kleine Glaubensprüfung, ob sie nun auf dieser oder auf jener Seite des Bildes standen. Esau hatte sich schon lange in Macht, Frieden und Überfluss eingerichtet, während Israel zwischen den Töpfen Ägyptens lag und das verfluchte Geschlecht Kanaans in ihrem Land herrschte. Und die Bibel enthält in denselben Büchern die Verheißung und die Prüfung, die frühe Erscheinungen für den Glauben darstellten, und stellt alles ruhig als das Wort dessen vor, der das Ende vom Anfang her sieht, der deshalb keine Entschuldigungen braucht, wenig Erklärungen vorbringt, sondern das Vertrauen seiner Kinder beansprucht, die den kennen, dem sie geglaubt haben, und überzeugt sind, dass Er fähig ist, das Pfand, das sie Ihm anvertraut haben, auf diesen Tag zu bewahren. Die Schrift zwingt seinem Volk die Wahrheit Gottes nicht auf demonstrative Weise auf; im Gegenteil, es wird eine große Einfachheit des Glaubens verlangt, dass wir sie ohne Zögern annehmen und Gott vertrauen, trotz der Erscheinungen für die Gegenwart und der Verzögerungen für die Zukunft.
Hätten wir genauer und geistlicher in Jakobs Leben hineingeschaut, hätten wir vielleicht eine lange Züchtigung erwartet; so wie er, ihr Vater, auf seinem Kopfkissen aus Stein lag und der Herr die Vision der Herrlichkeit vor ihm ausbreitete (1Mo 28). Das hätte auf den Gedanken vorbereiten können, dass erst die Prüfung, dann der gnädige Segen kommt. So wurden später erst alle natürlichen Hoffnungen zerschlagen, und dann wurde der Name des Sieges verliehen (1Mo 32,28). So bereitet das, was wir in Jakobs früher Geschichte finden, einen auf die Wechselfälle seiner Söhne vor. Er war ein armer, zitternder Mann mit vielen Fehlern, der vor der Gegenwart seines Bruders zurückschreckte, in dem vieles erschien, was von Natur aus anziehend war. Aber Gott sah unter alledem, dass das Fleisch ein falsches und stolzes Ding ist – Feindschaft gegen Gott, der zuließ, dass das Schlimmste in ihm zum Vorschein kam, der Verächter seines Geburtsrechts, seines wahren Charakters. Die gegenwärtigen Dinge waren sein Leben; daher der profane Unglaube und die Geringschätzung der Dinge Gottes. All das und noch vieles mehr kam in Esau zum Vorschein, so wie es sich auch in seinem Geschlecht bestätigen sollte. Wenn sie auch Heiden waren, so hatten sie doch auf jeden Fall eine Blutsverwandtschaft mit dem Volk Gottes. Aber gerade ihre Verbindung mit ihnen, trotz einer Art Übergang zwischen Israel und den umliegenden Nationen, war der Anlass für neidische Feindschaft und das Verderben. Sie sollten beweisen, dass es nicht nur ein Ägypten und ein Pharao waren, die Gott erweckt hatte, um sein Gericht zu offenbaren, sondern dass Gott genau dasselbe mit den Söhnen Esaus tun würde, und dass Esaus Fleisch die bitterste Verachtung gegen Gott und sein Volk verraten würde.
Der große nördliche Feind von Kapitel 33 scheint historisch der letzte zu sein; aber moralisch ist der Bericht über Edoms Gericht für den letzten aufbewahrt, vielleicht weil er Israel von Natur aus so nahesteht. Nachdem dieser große Feind, der Assyrer, vernichtet ist, hören wir von Edoms beschlossenem Untergang. Der Leser mag auch die Andeutung in Psalm 83,7-9 vergleichen. Als Gott mit Israel segnend oder strafend umging, haben wir Edom, das Gott das Recht streitig macht, sein Volk zu segnen, und sich an seiner Schande und seinem Kummer erfreut. Gott nimmt solche Bosheit übel. Und war es nicht in seinem Volk, das das Erstgeburtsrecht verachtete? Dies erfüllte zweifellos den Zweck Gottes; aber Er bringt sein Ziel auf bewundernswerte Weise in Übereinstimmung mit seinem Wort und seinen Mitteln. Obwohl es eine Frage seiner eigenen Souveränität ist, geht dies doch Hand in Hand mit seinen gerechten Wegen.
Jakob war auserwählt und Esau verworfen; aber Gott brachte zum entscheidenden Zeitpunkt hervor, dass es auch das Siegel der Gerechtigkeit gab. Sicherlich verdiente Esau es, von Gott verstoßen zu werden, doch Jakob führt alles zu Recht auf seine Barmherzigkeit und Gnade zurück. So bestätigt die Übertretung, sein Erstgeburtsrecht zu verkaufen, was Gott bereits als eine Frage seiner eigenen Verfügung ausgegeben hatte. Esau zeigte, dass er keinen Wert auf sein Erstgeburtsrecht legte, die gegenwärtige Existenz war ihm lieber als jeder Segen Gottes.
Jakob lag völlig falsch, als er dem hinterlistigen Plan seiner Mutter folgte, um Isaaks Wunsch zu verhindern und sich die Verheißung zu sichern. Er hätte in Frieden und Zuversicht abwarten sollen, in der Erwartung, dass Gott sein eigenes Wort erfüllen würde. Aber so schwach er auch war, so sehr er sich mehr als einmal irrte, so findet man doch eines bei Jakob – nicht bei Esau – ein Herz für Gott, einen Glauben, der die Verheißungen Gottes schätzte. Er mochte dazu neigen, in seine alte Vorgehensweise zu verfallen und seine eigenen Pläne zu schmieden, denn er war in der Tat „der Wurm Jakob“, wie die Schrift ihn nennt; aber dennoch gab es im Grunde ein Ziel, das sich an Gott und sein Wort klammerte. Als also der Kampf kam, als Gott mit seinem Knecht rang, da war eine Natur, die ausgetrocknet werden musste, damit er nicht glaubte, dass er durch irgendeine eigene Kraft die Oberhand gewann. Dennoch lag ihm an dem Segen Gottes, und das sollte nicht eher aufhören, bis er die Gewissheit hatte, ihn zu erlangen. Wenn Fleisch da war, um gerichtet zu werden, war der göttliche Glaube sicherlich sehr offensichtlich. Daher wird Jakob zum Ende hin viel heller, als das Fleisch praktisch beiseitestellt wurde.
So war es auch bei Israel. Obwohl es die Züchtigung ihrer Untreue geben wird, wird doch der Tag kommen, an dem die Nationen vollständig gerichtet und nicht ertragen werden; und wie wird es dann Edom ergehen? Als Israel in der Wüste war, hielt Esau ihren Weg auf. Die Macht Gottes hätte ihn niederschlagen können (wie er es lange vorherbestimmt hatte); aber die Zeit war noch nicht gekommen. So schlug Israel nicht auf seinen schuldigen Bruder ein, sondern kehrte um wie ein gescholtenes Kind. Ach, es war das Zeichen in seiner Geduld, dass ein noch gewaltigeres Gericht über Edom bevorstand; denn nichts ist so unheilvoll, als wenn Gott die Ungerechtigkeit der Menschen geduldig erträgt! Wenn es Widerspruch gibt, zeigt das, dass es sozusagen eine Hoffnung gibt; wenn aber alles still ertragen wird, ist es das ernste Zeichen des Gerichts, das so sicher herabfallen wird, wie es verweilt. So gesegnet es für die ist, die in der Gnade wandeln, gibt es vielleicht kein deutlicheres Zeichen des Verderbens für die Welt als die Heiligen, die durch sie hindurchgehen, ohne einen Finger zu ihrer eigenen Verteidigung oder im Namen Gottes zu rühren. Ach, wir wissen, dass die Versammlung darin versagt hat, so wie Israel nach seiner Art! Aber ihr Weg durch die Wüste war ein Vorbild für die Reise des Glaubens in der Gnade, wobei die irdischen Menschen und Dinge der Schatten der himmlischen waren.
Möglicherweise gab es zur Zeit des Angriffs Nebukadnezars auf die Juden ein Vorgericht. Man könnte aus den Psalmen (siehe besonders Psalm 137: „Gedenke, Herr, den Kinder Edoms den Tag Jerusalems“) schließen, dass es einen Zusammenhang mit Edom gibt; das heißt, es könnte eine teilweise Vollendung in den Tagen Nebukadnezars gegeben haben. Denn obwohl die Edomiter ihm bei seinem Aufmarsch gegen Jerusalem halfen, die Juden wirkungsvoller zu vernichten, wurden sie selbst von den Eroberern nicht verschont. In Psalm 83 finden wir Edom mit den Assyrern verbunden, den großen Feind der zehn Stämme, wie wir gesehen haben; mit Babylon den Eroberer der beiden Stämme. „Gott, schweige nicht; verstumme nicht und sei nicht still, o Gott! ... Gegen dein Volk entwerfen sie listige Pläne ... Kommt und lasst uns sie vertilgen“ (Ps 83,2.4.5). All das bestätigt, was wir bereits bemerkt haben. In der Vereinigung gegen Israel sind „die Zelte Edoms“ ein Bild. Es ist die erste Macht, die erwähnt wird, natürlich nicht als die mächtigste, sondern als diejenige, die die anderen zum Verderben Israels aufhetzt. Da sie Nachbarn waren, kannten sie das Volk und das Land besser und waren daher umso gefährlicher, abgesehen von der moralischen Bedeutung des Falles. Da sind auch die Philister, Tyrus und die verschiedenen Völker, die in der Nähe der Meeresküste lebten, sowie rund um Edom und die angrenzenden Gebiete. Dann finden wir die große Macht Assurs erwähnt, die sich ihnen angeschlossen hat. So ordnet der Geist Gottes Edom den endgültigen Widersachern Israels zu, wie Er es schon durch Mose und Josua mit ihren frühesten Widersachern getan hatte.
Es gibt einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen ihrem Aufstieg und dem allmählichen Verlauf ihrer Geschichte durch die Schrift. Am Ende finden wir deutliche Prophezeiungen, die sich auf Edom beziehen: „sie haben einen Bund gegen dich geschlossen“ (Ps 83,6). Alle ihre Bündnisse wird Gott auflösen, bevor das Gericht auf Esau herabfällt. Sie mögen sich mit Assur verbündet haben; aber diese große Macht wird sich wie die kleineren vergeblich gegen Gottes Volk richten, Groß und Klein gleichermaßen feindlich, vereint, um einen wirksameren Schlag gegen Israel zu führen, aber nur zur eigenen Vernichtung.
Gott, so können wir sehen, geht immer zum Anfang zurück, wenn Er richtet. Warum richtete Er Israel in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft? Er berücksichtigt, was sie in der Wüste getan haben. Es war wegen Moloch und Kijun (Am 5,26). Sie hatten in der Wüste gelernt, ihre Bilder anzubeten; deshalb sollten sie in die Gefangenschaft jenseits von Damaskus geführt werden. Wenn die Zeit des Gerichts kommt, geht Gott der Wurzel des Übels nach. So ist es unsere Weisheit als Christen, wenn wir versagen, zum ersten Aufbruch zurückzugehen. Wir werden nie zurechtkommen, wenn wir nur dieses oder jenes Fehlverhalten verurteilen, sondern sollten immer die Ursache suchen. Wir sammeln sonst nicht die nötige Kraft, noch wird irgendeine Sünde richtig beurteilt, wenn wir nur die offenkundigen Auswirkungen beurteilen. Wir müssen vielmehr die verborgenen Quellen des Unheils erforschen. Es reicht nicht aus, unsere Taten zu verurteilen; sich selbst zu verurteilen, ist ein ganz anderer Vorgang. Wir müssen die Quellen in uns selbst erkennen. Wenn wir uns selbst erkennen, werden wir nicht gerichtet werden. Das bedeutet nicht, ein Urteil über einen bestimmten Fehler zu fällen, sondern die wirkliche Ursache zu beurteilen und nicht nur die Anlässe. Das ist die christliche Art des Urteilens. Es ist keine Beschäftigung mit der Oberfläche, sondern mit dem, was darunter liegt, mit den kaum sichtbaren Wurzeln der Taten, die jeder sehen kann.
Mit unbestechlicher Weisheit geht Gott dann auf das zurück, was Esau vom Anfang seiner Geschichte an getan hat. Er hatte lange und geduldig gewartet, fast tausend Jahre. Nun zeigt Er seine vollkommene Kenntnis des Verlaufs und des Endes; aber wenn das Ende kommt, verfolgt Gott unweigerlich alles bis zum Anfang zurück.
Wir brauchen uns nicht bei dem ganzen dunklen Bericht aufzuhalten. Der volle Schlag des Gerichts kommt über die Edomiter am Tag des Herrn. Obwohl der Schauplatz hier in Edom liegt, geht es um alle Heiden. Darauf wird hier Bezug genommen.
Tretet herzu, ihr Nationen, um zu hören; und ihr Völkerschaften, hört zu! Es höre die Erde und ihre Fülle, der Erdkreis und alles, was ihm entsprosst! Denn der Zorn des Herrn ergeht gegen alle Nationen, und sein Grimm gegen ihr ganzes Heer. Er hat sie der Vertilgung geweiht, zur Schlachtung hingegeben. Und ihre Erschlagenen werden hingeworfen, und der Gestank ihrer Leichname steigt auf, und die Berge zerfließen von ihrem Blut. Und das ganze Heer der Himmel zerschmilzt; und die Himmel werden zusammengerollt wie ein Buch; und ihr ganzes Heer fällt herab, wie das Laub vom Weinstock abfällt und wie das Verwelkte vom Feigenbaum. Denn trunken ist im Himmel mein Schwert; siehe, auf Edom fährt es herab und auf das Volk meines Bannes zum Gericht. Das Schwert des Herrn ist voll Blut, es ist gesättigt von Fett, vom Blut der Lämmer und Böcke, vom Nierenfett der Widder; denn der Herr hat ein Schlachtopfer in Bozra und eine große Schlachtung im Land Edom (34,1–6).