Behandelter Abschnitt Jes 11,1-4
Im Gegensatz zur Zerstörung des hohen und hochmütigen Assyrers durch den Schlag des Herrn haben wir in diesem Kapitel eine bemerkenswerte und vollständige Beschreibung des Messias: erstens in moralischer Hinsicht, und zweitens in Bezug auf sein Königreich, seinen Charakter und seine Begleiterscheinungen. Er ist nicht mehr wie der Assyrer „die Rute seines Zorns“, der Stab, in dessen Hand mein Zorn ist, sondern ein Reis aus dem Stumpf Isais, aber zugleich die Wurzel Isais, Er ist der, der unfehlbar sowohl Israel als auch die Nationen an jenem Tag des Königreichs segnen wird, obwohl Er die Erhabenen zu Fall bringen und die Erde mit der Rute seines Mundes schlagen und mit dem Hauch seiner Lippen den Bösen oder Gesetzlosen töten wird, um jenes wundersame Ende zu erreichen.
Die gesamte Linie der Kapitel wird mit einem passenden Loblied (Jes 12) auf den Lippen Israels geschlossen, das nun tatsächlich und für immer von dem Herrn, ihrem Heiligen in ihrer Mitte, gesegnet ist.
Und ein Reis wird hervorgehen aus dem Stumpf Isais, und ein Schössling aus seinen Wurzeln wird Frucht bringen. Und auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Kraft, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn; und sein Wohlgefallen wird sein an der Furcht des Herrn. Und er wird nicht richten nach dem Sehen seiner Augen und nicht Recht sprechen nach dem Hören seiner Ohren; und er wird die Geringen richten in Gerechtigkeit und den Sanftmütigen des Landes Recht sprechen in Geradheit. Und er wird die Erde schlagen mit der Rute seines Mundes, und mit dem Hauch seiner Lippen den Gottlosen töten (11,1–4).
Nach einer Erfüllung dieser Prophezeiung bei Hiskia oder Josia zu suchen und zu darüber streiten, wäre müßig und zeigt nur die Notlage, in die die rationalistischen Feinde der Offenbarung geraten sind. Kein noch so frommer oder glorreicher König, der auf Ahas folgte, nein, auch nicht David oder Salomo in der Vergangenheit, kam auch nur annähernd an die Bedingungen der Vorhersage heran, weder persönlich noch in den Umständen ihrer Regierungszeit. Ruhte der „Geist des Herrn“ auf dem besseren der beiden, als er sagte: „Nun werde ich eines Tages durch die Hand Sauls umkommen; mir ist nichts besser, als dass ich schnell in das Land der Philister entkomme“ (1Sam 27,1)? War es „der Geist der Weisheit und des Verstandes“, als er sich für wahnsinnig ausgab und an den Türen des Tores kritzelte und seinen Speichel auf seinen Bart fallen ließ? War es „der Geist des Rates und der Kraft“, als David sein leichtgläubiges Heer in Gat mit seinen erfundenen Raubzügen gegen den Süden Judas amüsierte, während er in Wahrheit die Gesuriter, Amalekiter und so weiter überfiel, ohne einen Menschen zu übrigzulassen, der davon berichten könnte? War es der „Geist der Erkenntnis“, der mit Absalom handelte? Geschah die Zählung Israels in „der Furcht des Herrn“? War die Sache mit Urija ein Beweis dafür, dass „Gerechtigkeit … der Gurt seiner Lenden“ oder „Treue der Gurt seiner Hüfte“ war?
Wann wurde die Erde mit der Rute des Mundes irgendeines Königs geschlagen? Oder wessen Lippen hauchten je zum Verderben der Gottlosen? Und wer hat jenen wundersamen Wandel gesehen, der in den Versen 6–9 geschildert wird, der über die wilden Tiere und die Furchtsamsten hinweggeht; und dass die Herrschaft des Menschen endlich von allen, unterwürfig und harmonisch, sogar in der Person eines Säuglings, anerkannt wird? Genauso unmöglich ist es, zu sagen, dass der letzte Teil des Kapitels in irgendeinem Zeitalter Israels mit irgendetwas erfüllt wurde, das seinen Vorhersagen ähnelt. Die Vorstellung, dass Serubbabel ihn erfüllte, ist absurd. Es gab nicht eine einzige Ähnlichkeit in jener Zeit der kleinen Dinge.
Wird andererseits behauptet, dass ein so leuchtendes Bild des großen Königs und seines Königreichs geistlich in der Versammlung und in den Segnungen des Evangeliums verwirklicht wird? Ohne so tief herabzusteigen wie die groben Anmaßungen des päpstlichen Ehrgeizes, findet die geistliche oder eher mystische Interpretation, die der weltlich gesinnten Christenheit passt, ihren Ausdruck bei Theodoret oder noch früher. Dieser Schreiber sieht die apostolische Lehre die Erde in den Himmel verwandeln, und das Bild in den Versen 6–8 vollendet sich darin, dass Könige, Präfekten, Generäle, Soldaten, Handwerker, Diener und Bettler gemeinsam an derselben heiligen Rede teilhaben und dieselben Reden hören! Paulus mit den Philosophen in Athen veranschaulicht nach ihm das entwöhnte Kind, das seine Hand zur Höhle der Viper ausstreckt; wie die Verheißung an Petrus (Mt 16,18) auf die vorausgesagte Abwesenheit jeglicher zerstörerischen Sache antwortet! Den heiligen Berg des Herrn erklärt er als die Erhabenheit, Stärke und Unveränderlichkeit seiner göttlichen Lehre. Theodoret erklärt mit Recht die Torheit, eine solche Prophezeiung auf Serubbabel anzuwenden, der nur Statthalter einiger Juden und keineswegs der Nationen war; aber er bietet eine Alternative an, die in der Apostelgeschichte oder besonders in den Paulusbriefen kaum vorzuziehen ist.
Eine solche Auslegung ist nicht nur faktisch falsch, sondern auch prinzipiell verletzend und verderblich. Sie verwechselt die Versammlung mit Israel; sie senkt den Charakter unseres Segens in Christus vom Himmel auf die Erde herab; sie schwächt das Wort Gottes, indem sie eine Unschärfe einführt, die für das Vorhandensein solcher Anwendungen notwendig ist; sie untergräbt die Barmherzigkeit und die Treue Gottes, weil sie annimmt, dass die reichsten und bedingungslosesten seiner Verheißungen an Israel trotzdem von ihnen genommen und in den ganz anderen Kanal von uns selbst umgeleitet werden. Wenn Gott so gegenüber Israel sprechen und handeln konnte, wo ist dann die Garantie für den Christen oder die Versammlung? Der Apostel kann aus den Propheten zitieren und tut es auch, und zwar aus diesem Kapitel unseres Propheten (Röm 15,12), um den im Evangelium so reich illustrierten Grundsatz zu rechtfertigen, dass Gott die Nationen segnet und dass sie Gott für seine Barmherzigkeit verherrlichen. Aber derselbe Apostel behauptet, dass es jetzt die Offenbarung eines Geheimnisses gibt, das von den Zeitaltern und den Generationen her verborgen war, das Geheimnis Christi und der Versammlung, in dem es weder Jude noch Heide gibt, im vollsten Gegensatz zu dem großen Tag, an dem Israel und die Nationen als solche und an ihren jeweiligen Orten unter der Herrschaft des Messias gesegnet sein werden, die offen gesehen wird.
In dieser Prophezeiung sehen wir jedoch, wie im Alten Testament allgemein, den ausgeprägten Segen Israels auf der Erde, obwohl es eine strahlende Hoffnung für die Nationen gibt, sowie das Gericht über alle Feinde, ob Juden oder Heiden. All dies setzt einen Zustand voraus, der sich wesentlich von Gottes Wegen mit seiner Versammlung unterscheidet, in dem Israel aufhört, der Verwalter seines Zeugnisses und seiner Verheißung zu sein. Denn wie die natürlichen jüdischen Zweige vom Ölbaum ausgebrochen wurden und der wilde Ölbaum der Nationen eingepfropft wurde, so werden wegen des Nicht-Bleibens in Gottes Güte die nichtjüdischen ausgebrochen und die natürlichen Zweige wieder eingepfropft werden; „und so wird ganz Israel errettet werden, wie geschrieben steht: ,Aus Zion wird der Erretter kommen, er wird die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden; und dies ist für sie der Bund von mir, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde‘“ (Röm 11,26.27). In der Zwischenzeit ist Israel zum Teil verblendet, bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist. Dann werden sie ihren verworfenen Messias jubelnd empfangen, und der universale Segen der Erde wird seiner Vernichtung ihrer Feinde als der einleitenden Handlung seines Reiches folgen. Davon (nicht vom Evangelium, dem gegenüber die Juden unseretwegen Feinde sind) sprechen die Kapitel; und so gesehen fließt alles harmonisch weiter, sowohl im Ganzen als auch in der kleinsten Einzelheit.
Es gibt einen weiteren entscheidenden Beweis, und zwar von demselben Apostel Paulus in 2. Thessalonicher 2,8, dass sich das Kapitel auf ein zukünftiges Zeitalter bezieht, im Gegensatz zum gegenwärtigen, wo der verworfene Christus in Gott verborgen und in der Höhe verherrlicht ist. Es ist unbestritten, dass unser Vers 4 hier autoritativ dahingehend interpretiert wird, dass der Herr Jesus den Gesetzlosen mit dem Hauch seines Mundes vernichtet und ihn durch die Erscheinung seiner Gegenwart oder seines Kommens verzehrt. Ein völlig neues Zeitalter triumphierender Macht in gerechter Regierung wird durch die Erscheinung des Herrn eingeleitet und aufrechterhalten werden und sich so wesentlich von diesem Tag der Gnade unterscheiden, an dem Satan regiert und die, die Christus angehören, leiden, aber durch den Glauben überwinden. Wir warten auf sein Kommen als das Ende unserer Fremdlingschaft hier auf der Erde. Sie erwarten sein Erscheinen als Erlösung vor der drohenden Zerstörung und als den Beginn des ihnen zugewiesenen Platzes der Ehre und des Segens unter seiner Herrschaft und aller Völker in ihrem Maß. „Und ein Reis wird hervorgehen aus dem Stumpf Isais, und ein Schössling aus seinen Wurzeln wird Frucht bringen“ (V. 1). Man kann nicht anders als mit anderen denken, dass die Anspielung auf den Stamm Isais bedeutsam ist. Anderswo wird der Messias als Davids Sohn angesehen oder als David selbst bezeichnet. Hier ist er ein Reis aus dem Stumpf Isais, und ein Schössling aus seinen Wurzeln für Israel, und die Wurzel Isais für die Völker und die Nationen. Es scheint die Absicht zu sein, die Aufmerksamkeit auf den demütigenden Zustand zu lenken, in den das königliche Geschlecht bei der Geburt des Christus gesunken sein würde. Aus diesem Geschlecht, das in Israel keine Rolle spielte, wurde David für den Thron gesalbt. Der Prophet bezeichnet den Aufstieg eines Größeren als David, nicht aus dem Ruhm, der dem Haus verliehen worden war, sondern in einer Art und Weise, die leicht auf die Dunkelheit schließen lässt. Aus diesem Stamm, der von alters her gering war, entspringt die Hoffnung Israels, auf dem der Geist ohne Maß ruhte; oder, wie Petrus predigte, Gott salbte Jesus von Nazareth mit dem Heiligen Geist und mit Kraft (Apg 10,38). In Offenbarung 5 wird Er als die Wurzel Davids bezeichnet; in Kapitel 22 als seine Wurzel und das Geschlecht Davids. „Und auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Kraft, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.“ Hier sehen wir Jesus jedoch nicht in der Tätigkeit der Gnade inmitten der Sorgen der Menschen und der Bedrückungen durch den Teufel, sondern im Hinblick auf seine Regierung. Durch und durch dem Herrn unterworfen, regiert Er nicht nach dem Schein, sondern gerecht in seiner Furcht. Das ist die Wirkung der Kraft, der auf Ihm ruhte. „Und sein Wohlgefallen wird sein an der Furcht des Herrn. Und er wird nicht richten nach dem Sehen seiner Augen und nicht Recht sprechen nach dem Hören seiner Ohren; und er wird die Geringen richten in Gerechtigkeit und den Sanftmütigen des Landes Recht sprechen in Geradheit“ (V. 3.4a). Der Heilige Geist schildert die moralische Eignung des Messias für seine irdische Herrschaft; ausdrücklich seine irdische Herrschaft, denn so ist es offensichtlich durchgehend für jeden Leser, der frei von menschlicher Tradition oder Vorurteil ist. Der Herr Jesus wird dann das tun, was Er bei seinem ersten Kommen nicht tun wollte. Er wird in Gerechtigkeit richten und die Unterdrückung abschaffen und die Gerechtigkeit in Frieden gedeihen lassen. Das war in keiner Weise sein Werk beim ersten Mal; und der Christ ist, als Versammlung, nicht berufen, die Erde zu richten oder hier auf der Erde zu regieren, sondern mit Ihm zu leiden und darauf zu warten, verherrlicht zu werden und mit Ihm zu herrschen, wenn Er wiederkommt. Wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen.
Auch dies wird durch den bereits erwähnten letzten Teil von Vers 4 bestätigt. Wir brauchen hier keinen menschlichen Kommentar, denn wir haben bereits göttliches Licht in 2. Thessalonicher 2,8. Der inspirierte Apostel wendet es auf die zukünftige Vernichtung des Gesetzlosen, des Menschen der Sünde, durch den Herrn an, die Folge des Abfalls der Christenheit. Es ist zweifellos dieselbe Person, die der geliebte Jünger Johannes in 1. Johannes 2,22 beschreibt: „Wer ist der Lügner, wenn nicht der, der leugnet, dass Jesus der Christus ist? Dieser ist der Antichrist, der den Vater und den Sohn leugnet.“ Dieses letzte Zeugnis hilft, alles miteinander zu verbinden. 2. Thessalonicher 2 sieht ihn besonders als das noch zu offenbarende Ergebnis des Geheimnisses der Gesetzlosigkeit, das schon damals unsichtbar wirkte. Jesaja zeigt nicht nur den großen äußeren Feind, den Assyrer, der in Kapitel 10 gerichtet wird, sondern in Kapitel 11,4 den inneren Feind, „den Gottlosen“, den die Abtrünnigen als ihren Messias annehmen werden, der durch den in Herrlichkeit erscheinenden wahren Messias vernichtet wird. Er ist „der Gesetzlose“ bei Paulus: das ist die Form seiner Missetat. Wiederum beschreibt ihn 1. Johannes 2 erstens als Leugner der messianischen Herrlichkeit Jesu; zweitens in seinem vollen Charakter des Antichrists (nicht nur des Lügners) als Leugner des Vaters und des Sohnes, also der personalen Herrlichkeit Christi, wie sie im Christentum offenbart wird (1Joh 2,23).