Behandelter Abschnitt Apg 22,17-30
In Gefahr unter den Juden
Noch immer stand Paulus voller Zuversicht auf der Treppe der Burg, indem er in seiner Rede fortfuhr. Mit Freimütigkeit sprach er von jener Entzückung, die er, als er von Damaskus wieder nach Jerusalem zurückgekehrt war, im dortigen Tempel hatte, während er betete. Er bezeugte den Herrn gesehen zu haben (Vers 18), als Er zu ihm sagte: „Eile und gehe schnell aus Jerusalem hinaus, denn sie werden dein Zeugnis über mich nicht annehmen“; und wiederum: „Gehe, denn ich werde dich weit weg zu den Nationen senden“.
Mit verlangendem Herzen, dass auch seine Brüder den Herrn Jesum erkennen möchten, hatte er ihnen seine Erfahrungen vor Damaskus erzählt. Bei Stephanus und den Heiden angelangt, unterbrachen ihn aber die Juden stürmisch.
Wo hatte Paulus die Vision? Im Tempel. An der Stätte, da Gott schon vielen andern, und zuletzt dem Zacharias erschienen war (Lk 1). Im Tempel, dem Heiligtume Israels, in welchem neben dem Vorhof für Israel auch ein Vorhof für die Heiden war. Also musste der gleiche Gott auch der Gott der Nationen sein ‑, ebenfalls besorgt um sie. Außerdem sollte der Tempel eine Gebetsstätte für alle Völker sein. Aber Israel war so rassenstolz, dass es nichts von der Bekehrung der Nationen hören wollte. Die Juden selber glaubten nicht an Jesum, und hinderten die, so an ihn glauben wollten.
Wann hatte Paulus die Vision? Während er im Gebet Gott sein Vorhaben unterbreitete, nämlich den Juden das erlebte Heil zu verkündigen. Paulus war davon überzeugt, dass gerade er der geeignete Mann für diesen Dienst sei, weil sie ihn als früheren Verfolger kannten. Zu diesem seinem wohlgemeinten Plan sagte Gott ein deutliches „Nein“. Diese Antwort muss Gott manchmal geben. So sagte einst Abraham zum Herrn: „Möchte doch Ismael vor Dir leben“ (1. Mose 17,18). Gott hatte aber weit Besseres für Abraham, nämlich Isaak. Ebenso irrte sich auch Mose (Apg 7,25). Paulus rechnete ebenso wie die andern mit seinem eigenen Verstand und glaubte sich für den Dienst an Israel berufen; der Herr versicherte ihm aber: sie würden sein Zeugnis nicht annehmen (Vers 21.).
Unannehmbar! In demselben Augenblick, da Paulus den göttlichen Auftrag aussprach: „Ich will dich zu den Nationen senden“ war die Ruhe dahin. Lysias, der Oberste, war von dem plötzlichen Tumult überrascht. Das Ausschütteln der Kleider der Juden war der allen verständliche Ausdruck ihres Abscheus und der Verachtung, während das Staubaufwerfen ihre Wut dokumentierte. Schließlich entriss der Oberste den Apostel der Gewalt des Pöbels und brachte ihn in der römischen Burg in Sicherheit.
Neue Not. Wenn Satan, der Mörder von Anfang, an der Arbeit ist, so gibt er seine Absicht nicht so schnell auf. Eben war eine große Gefahr vorüber, und schon waren neue schwere Leiden in Sicht. Man sollte meinen, der grund‑ und grenzenlose Hass der Juden gegen Paulus hätte den Obersten von der Unschuld des Apostels überzeugen sollen. Doch schien es immer noch als vermute er in Paulus einen Verbrecher (Wir sind ja nicht besser, denn nur zu schnell sind wir bereit Schlimmes vom andern zu denken.). Und da der Oberste nun die genauen Ursachen des Streites erfahren wollte, befahl er, Paulus durch Geißelhiebe zu einem Geständnis zu zwingen. Die durch die Geißelhiebe verursachten Schmerzen waren derart, dass manche Verbrecher es oft vorzogen, eher den unwahren Vermutungen zuzustimmen, als solches Martyrium zu erdulden. Als nun die Soldaten befehlsgemäß daran waren, den Apostel mit den Riemen zur Geißelung anzubinden, fragte Paulus den dabeistehenden Hauptmann: «Ist es euch erlaubt, einen Menschen, der ein Römer ist, und zwar unverurteilt, zu geißeln?» Eine solche Enthüllung hatte der Hauptmann nicht erwartet; pflichtgemäß meldete er dies dem Obersten, der von dem ungerechten Befehl sofort Abstand nahm.
Das beste Bürgerrecht. Die Römer waren allgemein auf ihr Bürgerrecht sehr stolz. Lysias, der Oberste, hatte es um eine hohe Summe erworben. Paulus dagegen besaß es mit noch größerem Recht, denn er war darin geboren. An die Philipper schreibt Paulus aber von einem noch viel wertvolleren Bürgerrecht mit den Worten: „Unser Bürgerrecht ist im Himmel“ (Phil 3,20). Der Apostel besaß beide ‑ sowohl das römische als auch das himmlische ‑ und in beide war er hineingeboren. Das himmlische Bürgerrecht erlangt der Mensch nur durch die neue Geburt. Keiner kann es sich durch Werke oder Geld erkaufen, wie etwa Lysias sich das römische Bürgerrecht um einen hohen Preis erworben hatte.
Eine rechtliche Untersuchung. Weshalb hatte Lysias diesen Weg nicht sogleich beschritten? Wollte er sich etwa gar durch diese schmähliche und grausame Geißelung des Apostels bei den Juden in Gunst setzen? Letztere hätten eine scharfe Verurteilung des Apostels mit großer Genugtuung begrüßt.
Beachtenswert ist noch, dass bei dieser gefährlichen Szene die Gemeinde zu Jerusalem abseits stand. Gewiss hatte sie viele einflussreiche Männer in ihrer Mitte, die den Obersten hätten aufklären können. Und hätte die römische Obrigkeit nicht eingegriffen, so wäre Paulus nach menschlichem Ermessen umgebracht worden. Der Vorschlag der Ältesten, dass Paulus mit anderen vier Männern ein Gelübde erfüllen sollte, war ein richtiger Fehlschlag (Kap. 21, 23). Auf diese Weise sind die Juden nicht gewonnen worden, und dem Apostel kostete es unendlich viele Drangsale. Kompromisse mögen im politischen Leben ihren Platz haben, im geistlichen Leben sind sie aber vom Übel. Zur Liebe muss sich auch die Wahrheit gesellen. Einen Grundsatz einem vermeintlichen Vorteil opfern, ist immer verkehrt.