Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Mt 27,46.
Das 4. Wort des Herrn am Kreuz ist das mittlere der 7 Worte und führt zugleich in den Mittelpunkt d. h. den Höhepunkt Seiner Leiden. In den vorhergehenden Kreuzesworten steht geschrieben, daß Jesus "sprach", aber hier heißt es: "Er schrie mit lauter Stimme." Der laute Schrei selbst zeigt Seine geängstigte Seele, Sein Alleinsein, Sein Rufen wie aus weiter Ferne. Als er gegeißelt, mit Dornen gekrönt, verhöhnt, verspottet und ans Kreuz geschlagen wurde, hörte niemand einen Klageton. Bis dahin hatte Er noch den Vater, aber hier, wo Er ins eigentliche Gericht vor den 3 mal heiligen Gott trat, wo Er sozusagen in die Finsternis, in die Gottferne hinausgestoßen wurde, da fühlte der Herr die unsagbare Angst, Seelenqual, Hilf‑ und Hoffnungslosigkeit und die dicke Finsternis. Machen wir den Versuch, auf Jesu Angstgeschrei, das gleichsam eine Frage ist, eine Antwort zu finden.
I. Die Frage.
Warum hast Du mich verlassen? Hat Er nicht stets den Willen des
Vaters getan (Joh 8,29)? Hat nicht der Vater 2 mal vor allen bezeugt:
"Dieser ist mein geliebter Sohn" (Mt 3,17; 17,5; Mk 1,11;
II. Die Antwort.
Jedes Warum hat sein Darum. Wenn wir kurz den Versuch machen, auf dieses "Warum" ein "Darum" zu finden, so kann es uns allein die Schrift geben. Hier gilt es im vollsten Sinne: "Ziehe deine Schuhe aus" (2. Mose 3,5). Hier sind wir auf allerheiligstem Boden. Mehrfach sind die Gründe, aus denen Er verlassen wurde, und wir müssen uns in der Antwort auf die hauptsächlichsten beschränken.
III. Weil Er uns liebte (Joh 15,13).
Überaus wohltuend wirken viele Begebenheiten der Liebe Jesu. Wir bewundern Ihn, wie Er aus Liebe das Verirrte sucht und heimbringt. Wir staunen über Seine Liebe, die um der Sünder willen die Verachtung der Obersten des Volkes gern trug, oder, wenn Er solche, die Menschen ausgestoßen hatten, die tief unten angelangt waren, wie eine Samariterin oder jenes Weib in Lk 7,37 rettete. Wir bewundern, wie Er die Seinen liebt (Joh 13,1; 11,5), und besonders, daß wir sagen dürfen wie Paulus: "Der mich geliebt hat" (Gal 2,20). Hier in diesen Stunden der Finsternis sehen wir den Höhepunkt Seiner Liebe. Hier schmeckte Er uns zuliebe das schreckliche Gottverlassensein, das wir verdient hatten. Alle Wogen gingen über Ihn (Ps 42,7). Das war jene furchtbare Stunde, die Er schon zuvor erwähnt hat, indem Er sprach: "Jetzt ist meine Seele bestürzt (Joh 12,27). Er hatte zu Seinem eigenen Schaden geschworen, aber es reute Ihn nicht (Ps 15,4), und bezahlte, was Er nicht schuldete (Ps 69,5).
IV. Weil Er Sühnung für uns tat (1Joh 2,2; 4,10; 2Kor 5,21).
Der Cherub mit flammendem Schwert vor des Paradieses Tür zeigt, wohin die Sünde den Menschen gebracht hat: Hinaus in die Gottferne. Der Vorhang im Tempel sollte jedem denkenden Juden sagen, daß kein Zutritt vorhanden war. Daß Cherubim und Seraphim ihre Angesichter vor Seiner Heiligkeit verbergen, zeigt Seine makellose Reinheit (Jes 6,2). Seine Heiligkeit und Gerechtigkeit kennen nur einen Ausspruch über die Sünder: "Gehet von mir" (Mt 25,41). Aber hier tritt das Lamm für uns in den Riß und versöhnt uns mit Gott. Hier begegnet der Herr, beladen mit unserer Schuld, dem dreimal Heiligen und empfängt den gebührenden Lohn dafür (Röm 6,23).
V. Weil Er das Lösegeld zahlte (l. Tim. 2, 6; Elberf. Übers.).
Wir waren Gebundene Satans, festgehalten vom Fürsten der Finsternis,
wie einst Israel durch Pharao (2. Mose 5,2). Aber Jesus brachte das
Schuldopfer, das Lösegeld (Jes 53,10). Er hat den Fluch getragen (Gal 3,13). Die dreistündige Finsternis und der furchtbare Schrei zeigen die
Höhe des Preises, den Er bezahlte. Gott wandte sich hier von Jesus weg;
denn Gott ist zu rein, um Sünde auzuschauen (Hab 1,13). Aber der Herr
stellt sich in Seiner Liebe an der Menschheit Platz und zahlt den
letzten Heller. Jesu Schrei zeigt im Voraus den Angstschrei der
Verlorenen, wo Finsternis, Heulen und Zähneknirschen ist (
VI. Weil die Schrift erfüllt werden muß.
In Ps 22,1 wurde das Verlassensein über den Herrn geweissagt, und hier sehen wir die Erfüllung. Er war gekommen, die Schrift zu erfüllen (Mt 5,17; Lk 24,44). Daraus geht hervor, daß die Schrift nicht allein in ihren kostbaren Verheißungen, sondern auch in bezug auf den Ernst, den sie ausspricht, erfüllt werden muß.
VII. Weil Er den Tod zunichte machte (2Tim 1,10;
Wir wären stets Knechte der Todesfurcht geblieben (Heb 2,15), wenn
Er nicht den Tod in jener Stunde zunichte gemacht hätte. Seither ist der
Tod für den Gläubigen ein Abscheiden, um bei Christo zu sein (
Kostbare Worte. Mt 27,46.
Mit diesem Blatt folgen 8 Betrachtungen über die sieben Worte des Herrn Jesu am Kreuz. Wir geben auf dem ersten Blatte zunächst einen kleinen Überblick über dieses kostbare und lohnende Studium.
Der, mit dem wir es hier zu tun haben, ist Gott (2Kor 5,19). Aber wie konnte Gott leiden? Auf keinem andern Wege, als daß Er Fleisch wurde (Joh 1,14; Phil 2,8).
Es ist bezeichnend, daß, wenn wir die 7 Worte in der Reihenfolge nehmen, wie wir sie in der Bibel finden, das 4. Wort: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" an erster Stelle steht. Matthäus und Markus bringen dieses Wort, und zwar nur dieses Wort; sie führen ihre Leser dabei in den Mittelpunkt der Leidensgeschichte Jesu hinein. Der sittlichen Reihenfolge nach, gehört auch das 4. Wort an erste Stelle, und wir setzten es auch darum in diesem Vorwort an erste Stelle.
1. Das Wort der Sühne (Ps 22,1; Mt 27,46;
Dieses Wort ist im ganzen Heilsgedanken Gottes grundlegend. Wir
befinden uns hier vor dem größten Geheimnis. Hier brannte ein Feuer viel
heißer, als das des Nebukadnezar, aber da war kein Helfer (Dan 3,19).
Des Herrn Mission war, für die Sünde der Menschheit zu sterben. Dieses
Wort ist das einzige, das von 2 Evangelisten genannt wird (die andern 6
Worte werden alle nur einmal genannt), und erhebt es damit über alle
anderen Worte und gibt ihm eine doppelte Bedeutung: a) Es berührt der
Menschheit ganze Sündentiefe vor Gott. b) Aus der aber der Herr in jener
Stunde Erlösung brachte. Dieses Kreuzeswort ist das einzige Wort, das
ein wörtliches Zitat aus dem Alten Testament ist (Ps 22,1). Beim
Ausspruch dieses Wortes befand sich der Herr in der tiefsten Tiefe
Seiner Leiden und trank den letzten Rest des bitteren Kelches. Hier
stieg Er hinab in die abgrundlose Tiefe, in des Sünders
Gottverlassenheit. Hier legte Gott unser aller Sünde auf Ihn (
2. Vater, vergib ihnen (Lk 23,34).
Das ist das nächste Wort im fortlaufenden Lesen der Bibel. Auf Grund der vollbrachten Sühnung, die uns eben beschäftigt hat, ist Vergebung für alle. Durch Sein Opfer hat Er uns Vergebung erworben; denn ohne Blutvergießung gibt es keine Vergebung. Mithin haben wir die Vergebung der Sünden (Eph 1,7). Hier ist der Ausruf voller Gnade an alle. Sein erster Gedanke am Kreuz war, für die zu beten, die Ihn kreuzigten.
3. Seine Gnade an dem Schächer (Lk 23,43).
Auf Grund der Versöhnung und Vergebung war der Schächer passend für das Paradies. Groß war des Schächers Licht, weit war sein inneres Auge geöffnet! Er sah, über Jahrhunderte hinaus, den neben ihm sterbenden König "Jesus" in Seinem Reiche kommen und bat um Anteil an diesem Reiche. Die Gnade jedoch überstieg seine Bitte in dem seligen "Heute wirst du mit mir im Paradiese sein". Dieses Wort ist eine Offenbarung und zugleich ein Trost für alle: denn es zeigt den sofortigen Zustand des Gläubigen nach dem Tode (Phil 1,21-24), nämlich allezeit bei dem Herrn zu sein.
4. Christi Liebesruf (Joh 19,25 u. 26).
Nachdem der Heilsgedanke abgeschlossen war, wandte Er sich familiären Gedanken zu. Der Herr sorgte hier für Seine Mutter, und von Stund an nahm sie der Jünger zu sich. Der Sohn sorgte im rechten Moment für die Mutter. Sollte sie all das Weh mitansehen, in das Er nun hineinging, die unaussprechlichen Qualen der dreistündigen Finsternis, das Schmecken des Todes und das Öffnen Seiner Seite? Welch liebevoller kindlicher Sinn des Herrn, der wohl selbst in die tiefsten Leiden ging, aber deren Anblick Er Seiner Mutter ersparen wollte.
5. Mich dürstet (Joh 19,28).
Sein persönliches und leibliches Bedürfnis nahm den letzten Platz ein. Mich dürstet, ist ganz charakteristisch dem Johannesevangelium und der Offenbarung Johannes; denn in beiden ist oft die Rede vom Durst und dem Lebenswasser (Joh 4,14; 6,37; Off 21,6; 22,17). Der Durst nach Seelen war nur zu berechtigt nach dem Schmerzensschrei: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen." Und nun soll Er unser einziges Dürsten sein (Ps 42).
6. Es ist vollbracht (Joh 19,30).
Wiederum ein Wort charakteristisch dem Johannes (Joh 17,4). Dieses Wort war das Siegel auf Sein Werk. Das "Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in dem, das meines Vaters ist" war nun erfüllt (Lk 2,49). Die Reinigung der Sünden war vollbracht.
7. Jesu letzter Schrei (Lk 23,46).
Zweimal kommt das Wort "Vater" in den 7 Worten vor, nämlich im ersten und im letzten ‑ und zweimal kommt das Wort "Gott" vor, und zwar nur im mittleren Kreuzeswort. Vollkommen hatte Jesus den Vater verherrlicht. Das Werk, das Ihm der Vater gegeben hatte, war hiermit abgeschlossen, und Er befiehlt somit Seinen Geist der Fürsorge des Vaters an.
(Aus Ährenlese Jahrgang 5 "Die sieben Worte am Kreuz".)