Behandelter Abschnitt Hes 16,1-7
Einleitung
Nachdem der HERR das Symbol des Weinstocks erklärt hat, gibt Er Hesekiel ein neues Gleichnis für das Volk. Dieses Gleichnis umfasst die gesamte Geschichte Jerusalems: seinen Ursprung, seinen Aufstieg, seine Schönheit und Herrlichkeit, seinen Abfall und sein Gericht, seine Errettung und seinen endgültigen Segen. Es ist eine umfassende Erklärung des Gleichnisses aus dem kurzen vorherigen Kapitel.
Dieses Kapitel liest man am besten in einem Atemzug, denn es ist eine zusammenhängende Geschichte. Es enthält eine ergreifende und realistische Beschreibung einer außergewöhnlichen Natur, von der uns einige Details seltsam erscheinen mögen. Wir sehen das abstoßende Bild einer Prostituierten. Es gibt jedoch kein Bild, das deutlicher die Realität der von Gott auserwählten Stadt, die sich trotz ihrer außergewöhnlichen Privilegien von dem einen wahren Gott abwendet, beschreibt. Der HERR präsentiert den Bewohnern Jerusalems dieses Bild genau aus diesem Grund, damit sie erkennen, wie abstoßend die Sünde der Untreue in seinen Augen ist.
Verse 1–7 | Der Ursprung Jerusalems
1 Und das Wort des HERRN erging an mich, indem er sprach: 2 Menschensohn, tu Jerusalem seine Gräuel kund 3 und sprich: So spricht der Herr, HERR, zu Jerusalem: Dein Ursprung und deine Abstammung ist aus dem Land der Kanaaniter; dein Vater war ein Amoriter und deine Mutter eine Hethiterin. 4 Und was deine Geburt betrifft – an dem Tag, als du geboren wurdest, wurde dein Nabel nicht abgeschnitten, und du wurdest nicht in Wasser gebadet zur Reinigung und nicht mit Salz abgerieben und nicht in Windeln gewickelt. 5 Kein Auge blickte mitleidig auf dich, um dir eines dieser Dinge zu tun, um sich deiner zu erbarmen; und du wurdest auf das freie Feld geworfen, vor Abscheu an deinem Leben, an dem Tag, als du geboren wurdest. 6 Da ging ich an dir vorüber und sah dich zappeln in deinem Blut; und ich sprach zu dir: In deinem Blut lebe! Und ich sprach zu dir: In deinem Blut lebe! 7 Zu Zehntau- senden, wie das Gewächs des Feldes, machte ich dich; und du wuchsest heran und wurdest groß, und du gelangtest zu höchster Anmut; die Brüste rundeten sich, und dein Haar wuchs; aber du warst nackt und bloß.
Das Wort des HERRN ergeht an Hesekiel (Vers 1). Der HERR spricht ihn als „Menschensohn“ an und befiehlt ihm, Jerusalem seine Gräuel kundzutun (Vers 2). Die Abscheulichkeiten beziehen sich auf den Götzendienst, den Jerusalem begangen hat und immer noch begeht, und den er so sehen soll, wie der HERR ihn sieht, nämlich als Gräuel.
Der Ursprung der Stadt liegt um das Jahr 3000 v. Chr. im Land der Kanaaniter, dem Lebensraum der Amoriter und Hethiter (Vers 3; 1Mo 10,15.16). Der Name der Stadt war ursprünglich Jebus (Ri 19,10; 1Chr 11,4). Die Stadt wird an ihre heidnischen Wurzeln erinnert. Von Natur aus unterscheidet sich die Stadt in nichts von den Heiden und stand von Anfang an unter dem starken Einfluss der gottlosen Kultur Kanaans.
In der Zeit ihres Anfangs gibt es nichts Attraktives in der Stadt (Vers 4). Ganz im Gegenteil. Sie gleicht einem ungewollten Kind, das des Lebens nicht würdig zu sein scheint. Das Nicht-Abschneiden der Nabelschnur deutet auf den sicheren Tod für das Kind hin. Die hethitische Mutter hält es offenbar nicht für lohnenswert, sich überhaupt um das Kind zu kümmern; das Kind ist das Wasser zum Reinigen nicht wert. Es ist so wertlos wie der Weinstock aus dem vorigen Kapitel. Die Mutter reibt es nicht einmal mit Salz als götzendienerisches Ritual zum Schutz vor bösen Mächten ein und wickelt es auch nicht in Tücher zum Schutz vor der Kälte.
Keiner sieht die Stadt an, keiner will sich um sie kümmern (Vers 5). Keiner, der sie ansieht, bekommt ein Gefühl des Mitleids, um sich um die Stadt zu kümmern. Es ist eine wertlose Stadt, die bei anderen nur Abscheu hervorruft und die man nur auf das offene Feld werfen mag. Das Kind ist nicht einmal ein Findelkind. So wenig Wert hat das Leben der Stadt in den Augen der anderen vom Moment ihrer Geburt an. Statt der Attraktivität des Neugeborenen gibt es Abscheu und statt Mitgefühl für das Wehrlose gibt es Verachtung und Ablehnung. Auf die Geschichte des Volkes Israel angewandt bezieht sich dies möglicherweise auf die Zeit der Sklaverei des Volkes in Ägypten.
Dann geht der HERR an ihr vorüber (Vers 6). Er scheint ein „zufälliger“ Vorübergehender zu sein (vergleiche den barmherzigen Samariter, Lk 10,33). Als Er das Kind sieht und seinen Zustand wahrnimmt, wie es in seinem Blut zappelt und also im Sterben liegt, spricht Er das lebensspendende Wort: „Lebe!“ Während mit dem Blut das Leben das Kind verlässt, schenkt Er Leben. Das Wunder der unerwarteten Errettung wird mit Nachdruck wiederholt. Das Kind, von den Eltern belächelt und dem Tod überlassen, wird vom HERRN angenommen. Er gibt ihm die Fähigkeit zu leben. Er ruft es sozusagen vom Tod zum Leben. Übertragen auf die Geschichte Israels haben wir hier vielleicht eine Anspielung auf die Erlösung aus Ägypten (vgl. 2Mo 2,25; 3,7).
Durch die große Fürsorge des HERRN, die dem Kind zunächst so vorenthalten wird, wächst es auf wie das Gewächs auf dem Feld (Vers 7). Es kommt zu großer Blüte und Schönheit. So wächst die einst verachtete Stadt zu einer Stadt heran, die mit einer schönen, heiratsfähigen Frau verglichen wird, was durch die gerundeten Brüste angedeutet wird. Das Haar wächst und wird lang, was von Abhängigkeit spricht (Off 9,8). Sie ist in allem von ihrem Erlöser abhängig. Sie selbst besitzt nichts; sie ist nackt und bloß. So war Israel in Ägypten und in der Wüste völlig abhängig vom HERRN.