Behandelter Abschnitt Jes 63,15-19
Verse 15–19 | Bedrängnis als Grund der Klage
15 Blicke vom Himmel herab und sieh, von der Wohnstätte deiner Heiligkeit und deiner Majestät! Wo sind dein Eifer und deine Machttaten? Die Regung deines Innern und deine Erbarmungen halten sich gegen mich zurück. 16 Denn du bist unser Vater; denn Abraham weiß nicht von uns, und Israel kennt uns nicht; du, HERR, bist unser Vater; unser Erlöser von alters her ist dein Name. 17 Warum, o HERR, lässt du uns von deinen Wegen abirren, verhärtest unser Herz, dass wir dich nicht fürchten? Kehre zurück um deiner Knechte willen, der Stämme deines Erbteils! 18 Für eine kurze Zeit hat dein heiliges Volk [es] besessen: Unsere Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. 19 Wir sind zu solchen geworden, über die du von alters her nicht geherrscht hast, die nicht nach deinem Namen genannt waren. O dass du die Himmel zerrissest, herniederführest, [dass] vor deinem Angesicht die Berge erbebten,
Bis Vers 14 blickte das Volk zurück auf die Treue Gottes und ihre eigene Untreue. Ab Vers 15 spricht dieser gläubige Überrest von seiner Not in der Gegenwart. Das Gebet um Erlösung und Befreiung (Vers 15) beginnt mit der Bitte an den HERRN, vom „Himmel“ herabzuschauen, von „der Wohnstätte deiner Heiligkeit und Majestät“ (vgl. 1Kön 8,44-53).
Die Frage deutet darauf hin, dass Er, der bei seinem Volk war und seine Gegenwart und Macht geoffenbart hat, sich zurückgezogen hat und nur noch in seinem himmlischen Aufenthaltsort angesprochen werden kann. Seine Heiligkeit und seine Majestät werden besonders erwähnt, weil sie im Kontrast stehen zur Gottlosigkeit und Schande des Volkes. Wir hören diese Haltung der Distanz in dem, was Jesaja sagt, wobei er sich mit dem Volk einsmacht: „Wo sind dein Eifer und deine Machttaten? Die Regung deines Innern und deiner Erbarmungen halten sich gegen mich zurück.“
Wenn Gottes Volk wegen seiner Verirrung in Bedrängnis gerät, gehen Gottes Maßnahmen der Zucht nicht auf Kosten seiner Barmherzigkeit. Der HERR züchtigt die, die Er liebt (Spr 3,11.12; Heb 12,6). Er möchte so gerne die Not seines Volkes beseitigen, aber Er muss manchmal seine Barmherzigkeit zurückhalten. Es ist bemerkenswert, dass Jesaja von sich selbst als ein Gegenstand dieser Handlungen spricht und sich auf diese Weise mit dem Zustand des Volkes einsmacht. Wir sehen das auch bei Mose (2Mo 32,31.32) und bei Paulus (Röm 9,2.3). So ist es mit jeder wahren Fürbitte in Zeiten, in denen das Volk Gottes sich in einem Geist des Abfalls befindet.
Auf dieser Grundlage beruft sich der Prophet in Vers 16 an die Verbindung Gottes mit seinem Volk. Er beruft sich nicht auf der Grundlage des Bundes des Gesetzes von Mose (Vers 11). Er beruft sich auf die unbedingten Verheißungen Gottes an Abraham (1Mo 15,17.18). Der HERR hat sein irdisches Volk durch seine schöpferische Kraft und seinen liebevollen Ratschluss erworben. Er ist ihr Vater.
Dies ist nicht „Vater“ im neutestamentlichen Sinn des Wortes. Im Neuen Testament ist der Vater vor allem der ewige Vater des ewigen Sohnes. In der Folge ist Er auch der Vater der Gläubigen, die den Sohn als ihr Leben empfangen haben. Sie sind durch den Glauben an den Herrn Jesus mit dem Heiligen Geist versiegelt und sprechen Ihn durch den Geist mit „Abba, Vater“ an (Röm 8,15.16; Gal 4,6). Der Gläubige konnte erst in diese
Beziehung kommen, nachdem der Herr Jesus das Werk am Kreuz vollbracht hatte (Joh 20,17).
Jesaja spricht vom HERRN als dem Vater seines Volkes im Sinn seines Ursprungs (vgl. Jes 64,8; 5Mo 32,6; Jer 4,3.19; 31,9; Mal 2,10; vgl. 2Mo 4,22; 5Mo 14,1; Hos 11,1). Abraham und Israel, also Jakob, sind ihre Vorväter, aber sie wussten nichts von der Existenz des Volkes als ihre Nachkommenschaft. Sie kannten sie nicht; sie konnten sich nicht um sie kümmern und sich ihrer erbarmen. Ruhende Heilige können für niemanden Fürsprache einlegen.
Beim HERRN ist das jedoch ganz anders. Die Beziehung zwischen Ihm und seinem Volk kann nicht aufgelöst werden. Deshalb sagt Jesaja: „Denn du bist unser Vater.“ Er weiß von seinem Volk und kennt es. Er ist ihr Erlöser in den Ratschlüssen der Vorzeit und in seinem gnädigen Handeln in der Vergangenheit.
Das Gebet in Vers 17 enthält eine auffällige Bitte. Jesaja legt hiermit nicht die Verantwortung für die Sünde seines Volkes auf Gott. Gott lässt nur diejenigen in die Irre gehen, die sich hartnäckig geweigert haben, seine Gebote zu halten. Er überlässt sie den Folgen ihres selbst gewählten Weges, auf dem es unmöglich ist, zu glauben und in seiner Furcht zu wandeln. Ein deutliches Beispiel haben wir in Pharao (2Mo 7,13; 8,19,32; 9,7,12). Erst nachdem der Pharao sein eigenes Herz mehrmals verhärtet hat, verhärtet Gott sein Herz.
Die Mehrheit des Volkes hat verhärtete Herzen. Es gibt jedoch einige, die treu bleiben. Mit Blick auf diese führt der Prophet einen zweifachen Grund an. Er bittet für sie als „deine Knechte“ und als „die Stämme deines Erbteils“. Das Volk hat das verheißene Land nur für eine „kurze Zeit … besessen“ (Vers 18). Das Volk war länger in der Gefangenschaft als es im gelobten Land lebte. Gegner wie die Babylonier und die Römer haben das Heiligtum des HERRN verwüstet.
Mit „den Widersachern“ ist hier der König des Nordens, die Assyrer, gemeint, der am Ende der großen Drangsal, das Land und das Heiligtum verwüsten werden. Jesaja erkennt auch, dass das Volk dadurch den heidnischen Völkern gleich geworden ist (Vers 19) und der HERR es deshalb wie die Völker behandeln musste.
Gläubige müssen darüber wachen, den Willen des Herrn nicht zu verlassen und der Welt nicht gleichförmig zu werden. Anhaltende Lauheit wie in der Gemeinde von Laodizea wird dazu führen, dass sie unbekehrten Menschen ähneln. Dann wird sich der Herr zurückziehen und vor der Tür stehen müssen (Off 3,15a.20a).
Er ruft zu Gott, dass seine Macht gegenüber seinen Feinden zum Ausdruck kommt, sodass die heidnischen Mächte – der König des Nordens und seine Verbündeten – vor seiner Gegenwart erzittern. Würde Er jetzt nicht seine Macht und sein Gericht an seinen Feinden ebenfalls offenbaren? Er wird es jedenfalls in der Endzeit tun, wenn der Herr Jesus für sein Volk zurückkehrt.
Die „Berge“ sprechen von den Völkern als einer ansässigen Macht, während das „Wasser“, wie das „Meer“, auf dieselben Völker hinweist, aber dann in ihrer Unruhe und in Auflehnung gegen die Regierung Gottes (Off 17,15).