Behandelter Abschnitt 2Mo 36,8-13
Vortrag 3: Die Teppiche aus gezwirntem Byssus und ihre Farben
„Und alle, die weisen Herzens waren unter den Arbeitern des Werkes, machten die Wohnung aus zehn Teppichen; aus gezwirntem Byssus und blauem und rotem Purpur und Karmesin, mit Cherubim in Kunstweberarbeit machte er sie. Die Länge eines Teppichs war achtundzwanzig Ellen, und vier Ellen die Breite eines Teppichs: ein Maß für alle Teppiche. Und er fügte fünf Teppiche zusammen, einen an den anderen, und er fügte wieder fünf Teppiche zusammen, einen an den anderen. Und er machte Schleifen aus blauem Purpur an den Saum des einen Teppichs am Ende, bei der Zusammenfügung; so machte er es an dem Saum des äußersten Teppichs bei der anderen Zusammenfügung. Fünfzig Schleifen machte er an den einen Teppich, und fünfzig Schleifen machte er an das Ende des Teppichs, der bei der anderen Zusammenfügung war, die Schleifen eine der anderen gegenüber. Und er machte fünfzig Klammern aus Gold und fügte mit den Klammern die Teppiche zusammen, einen an den anderen, so dass die Wohnung ein Ganzes wurde“ ( 2. Mose 36,8-13).
Als Gott ihm das Muster auf dem Berg Sinai zeigte empfing Mose die göttlichen Anweisungen über die Stiftshütte. Mit 2. Mose 36 kommen wir nun zum tatsächlichen Bau der Hütte. Zwischen diesen beiden Zeitspannen ereignete sich der Abfall Israels. Kaum waren die Worte des Gesetzes und das feierliche Gelöbnis des Volkes sie zu halten, gesprochen, als sie die ersten drei Gebote brachen, indem sie das goldene Kalb machten und sich am Werk ihrer Hände ergötzten.
Als Mose vom Berg herabsteigt und sie um dieses Götzenbild tanzend vorfindet, zerbricht er die Gesetzestafeln als Zeichen dafür, dass der Bund auf Grundlage des Gesetzes zu Ende war. Gott greift auf die Fürbitte Moses hin in Gnade ein und nimmt seine Beziehung mit dem Volk wieder auf – allerdings nicht mehr länger auf der Grundlage des reinen Gesetzes, sondern einer Vermischung von Gnade und Gesetz. So wird es möglich, dass Er trotz ihrer Halsstarrigkeit in Geduld mit ihnen umgehen kann, gleichzeitig jedoch einen Abstand zu ihnen wahrte. Der eigentliche Bau der Stiftshütte folgt auf das derartig wiederhergestellte Verhältnis mit dem Volk (2Mo 32,33-35).
Der Unterschied in der Reihenfolge, in der die verschiedenen Teile vorgestellt werden, steht mit diesem Verhältnis in Einklang. Bei der Vorstellung in 2. Mose 25-31 beginnt Gott mit dem Allerheiligsten und seinem Thron, der Bundeslade, und fährt anschließend von dort ausgehend nach außen hin fort bis zum Aufbau der Stiftshütte. Er geht bei seinen Aussprüchen vom Standpunkt des Gesetzes aus, den gerechten Forderungen seines Thrones, der passenderweise als erstes beschrieben wird.
Das Volk hat jedoch gesündigt, diesen Thron missachtet und verunehrt. Hätte die Gnade nicht eingegriffen, wäre kein Weg denkbar gewesen, auf dem Gott mit ihnen hätte weitergehen können. Deshalb beginnt die Schilderung des Stiftshüttenbaus (2. Mose 35-39) so treffend mit den Teppichen, welche die Stiftshütte bildeten. Warum das so passend ist, werden wir sehen, wenn wir zu ihrer Bedeutung kommen.
Es gibt mindestens vier Betrachtungsweisen der Stiftshütte:
Erstens ist sie ein Bild der großartigen Schöpfung Gottes, des Universums. In diesem Fall stellt der Vorhof die Erde dar, das Heilige den Himmel und das innere Heiligtum (das Allerheiligste) die Himmel der Himmel, den Ort seines Thrones.
In enger Verbindung damit können wir sie als Beschreibung des Wegs zu Gott verstehen. Hier steht der Vorhof wieder für die Erde, dem Aufenthaltsort des sündigen Menschen. Das innere Heiligtum stellt den Himmel einschließlich des Thrones Gottes dar, der vor seinen schuldigen Geschöpfen verborgen ist. Der Weg zu Gott führt über den Brandopferaltar und den Sühndeckel.
Die dritte Sicht auf die Stiftshütte richtet das Augenmerk auf das Bauwerk der Bretter, die mit Gold überzogen waren und auf silbernen Sockeln ruhten. Diese stellen das Volk Christi als vollendet in Ihm dar, ruhend auf der durch Ihn vollbrachten Erlösung und daher „mitaufgebaut . . . zu einer Behausung Gottes im Geist“ (Eph 2,22).
In der vierten Sichtweise, die uns näher beschäftigen soll, liegt der Schwerpunkt auf den Vorhängen als Bild Christi. Sie sind in erster Linie nicht ein Vorbild des Himmels, des Wegs zu Gott oder des Volkes (ob individuell oder als Gesamtheit), sondern wir haben in den Vorhängen ein gesegnetes und kostbares Vorbild von dem „Menschen Christus Jesus“, der Gottes Wohnstätte war, als Er hier auf der Erde lebte.
Die erste Stelle, die wir betrachten möchten, bestätigt uns darin, dass diese Sichtweisen schriftgemäß sind. Sie dürfen sich nicht auf Phantasie gründen, sondern auf die einfache und klare Anwendung des vollkommenen Wortes Gottes. „Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns (und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater) voller Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14).
Das Wort für „wohnte“ wird in der Fußnote korrekt mit zeltete wiedergegeben, d. h. „wohnte in einem Zelt“. Das ewige Wort – der göttliche Sohn, durch den alles wurde und alle Dinge aufrechterhalten werden – wurde Fleisch und zeltete als ein Mensch unter uns. Er verhüllte seine Herrlichkeit (obwohl der Glaube jubelnd ausruft: „Wir haben seine Herrlichkeit angeschaut“) und ist „in Gleichheit der Menschen geworden“, indem er die Gestalt eines Dieners annahm (Phil 2,6-8).
Lasst uns immer daran denken, dass es nicht darum geht, dass Gott in einem menschlichen Körper wohnte – wie es eine der vielen Irrlehren über die Person des Herrn Jesus darstellt. Es ist auch nicht Gott, der in einem vollkommenen Menschen wohnte – mit Körper, Seele und Geist –, so als ob Er von dieser Menschheit getrennt werden könnte, bzw. schließlich getrennt werden würde. Nein, es heißt, dass das Wort Fleisch wurde.
Vollkommene Menschheit wurde Teil seiner Identität.
Die vollkommene Menschheit wurde Teil seiner selbst (möge Gott uns geben, dass wir mit gebeugten Herzen und unbeschuhten Füßen in die Gegenwart dieser heiligen Wahrheit treten), er wurde so völlig Mensch, dass es nach wie vor nur eine Person gab – den gesegneten Sohn Gottes. Die ganze Vollkommenheit seiner Menschheit wurde so vollständig mit der Würde seiner göttlichen Person verbunden, dass (während Er immer ein vollkommener Mensch bleibt) die völlige göttliche Wesenheit zu der Anbetung führt, die Ihm als dem gebührt, „der über allem ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit“ (Röm 9,5).
Das schützt uns vor zwei konkreten Irrtümern: Einerseits anzunehmen, unser geliebter Herr sei schlicht eine in einem Menschen wohnende Gottheit. Andererseits über seine Menschheit in einer Art und Weise zu denken, dass seine Gottheit nahezu aus den Augen verloren wird. Für den Glauben ist es eine Freude Christus anzubeten, wann immer er Ihn sieht und mit Thomas zu sagen: „Mein Herr und mein Gott!“. Was der Glaube dagegen nicht sagt ist, dass wir Ihn hier nicht anbeten können, weil Er Mensch ist – verbunden mit dem Hinweis, dass es im Himmel wohl möglich sein wird, weil Er Gott ist. Nein; der Glaube durchbricht solche unheiligen und menschlichen Einschränkungen und wirft sich vor Ihm nieder: Sowohl beim Anblick der Male menschlicher Leiden in seinen Händen und seiner Seite als auch angesichts des Herrn „mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt“ (Heb 2,9).
Wenden wir uns nun den Decken der Stiftshütte zu.
Es gab deren vier:
Die äußere bestand aus Dachs- bzw. Seekuhfellen
Die nächste war aus rot gefärbten Widderfellen
Dann gab es die elf Teppiche aus Ziegenhaar
Schließlich die innere und letzte Decke, die am vielfältigsten zusammengesetzt und die vollständigste von allen war. Sie bestand aus feinem weißen Leinen, auf der (wenn wir die Hinweise richtig deuten) Cherubim in blauer, purpurner und scharlachroter Farbe gestickt waren.
Die Cherubim werden wir genauer betrachten, wenn wir die Bundeslade und den Sühnedeckel in Augenschein nehmen. Deshalb an dieser Stelle nur ein paar Bemerkungen dazu. Sie waren verschiedenartige Wesen, die vier Gesichter hatten: Das eines Löwen, Stieres, Menschen und Adlers (Hes 1,4-14; Off 4,6.7). Sie stellten dadurch vier Gruppen von Leben dar: Den majestätischen Löwen als Bild königlicher Macht, den ausdauernden Stier, ein Bild der Stärke in Arbeit und Dienst, den Menschen, der durch Mitgefühl und Einsicht gekennzeichnet ist und schließlich den Adler, den es hinauf zum Himmel zieht.
Die vier Evangelien stellen unseren Herrn Jesus in dieser vierfachen Weise vor. Im Matthäusevange- lium sehen wir Ihn als „den Löwen aus dem Stamm Juda“, den König Israels. Im Markusevangelium erblicken wir Ihn im Dienst, der (wie der ausdauernde Stier) sein Joch trägt: Die Last der menschlichen Not. Im Lukasevangelium haben wir ganz und gar das Gesicht des Menschen vor uns: Menschliche Einsicht, menschliches Mitgefühl, menschliche Liebe und menschliches Vorbild. Johannes zeigt uns den Adler vom Himmel, der aufsteigt, um an den Ort zurückzukehren, wo Er beim Vater war, ehe die Welt war.
Es gab 10 Teppiche aus Byssus, die jeweils 28 Ellen lang und 4 Ellen breit und Seite an Seite in zwei Reihen zu je fünf Teppichen zusammengefügt waren. Diese zwei Teile wurden wiederum durch fünfzig blaue Schleifen zusammengefügt und mit goldenen Haken ineinander eingehängt, die alles miteinander verbanden und ein Zelt bildeten. Uns begegnet hier ein Reichtum an Formen und Materialien, den wir sorgfältig betrachten müssen.
Tragen wir zuerst die Lehre der Schrift in Bezug auf den Byssus zusammen3. Am großen Sühnungstag legte der Hohepriester seine alltägliche Kleidung „zur Herrlichkeit und zum Schmuck“ (2Mo 28,2) beiseite und trug lediglich fleckenloses Weiß. Er ging als der Träger des Sühnungsblutes in die Gegenwart Gottes, sodass in den Gedanken des Volkes vor allem ein Gedanke unterstrichen wurde, dass in dieser heiligen Gegenwart eine absolute Notwendigkeit fleckenloser Reinheit bestand (3Mo 16,4).
In den Tagen Hesekiels steht Gott im Begriff sein abtrünniges Volk zu richten, weil Er angesichts ihrer Bosheiten nicht mehr länger mit ihnen weitermachen kann. Der Prophet sieht in einem Gesicht, wie Er einen Mann sendet, der in Leinen gekleidet und mit einem Schreibzeug an seiner Hüfte versehen ist, um jeden zu kennzeichnen, der über die verübten Gräuel seufzt und jammert (Hes 9,3.4). Die Bedeutung des Leinens in solchen Umständen ist offensichtlich und wir begegnen ihr im ganzen Alten Testament.
Im Neuen Testament haben wir in der Verklärung eine sehr eindrucksvolle Darstellung der Bedeutung dieser weißen Bekleidung. Die Herrlichkeit unseres gesegneten Herrn, sein wirkliches Wesen, sollte auf diesem heiligen Berg hervorstrahlen. Und zwar nicht in der Art und Weise, wie Er durch das Land zog, d. h. unter dem schlichten Gewand aus Seekuhfellen, die für das Auge des Unglaubens weder Gestalt noch Pracht besaß. Nein, dort wurden die äußeren Decken der Wohnung Gottes gewissermaßen entfernt und die persönliche, moralische Herrlichkeit des Heiligen strahlte hervor. „Sein Angesicht leuchtete wie die Sonne“ (Mt 17,2), „seine Kleider wurden glänzend, sehr weiß, wie kein Walker auf der Erde weiß machen kann“ (Mk 9,3) – beides zeigte die innewohnende und vollkommene Reinheit seines Wesens.
Vielleicht wird die Bedeutung des Leinens am deutlichsten in Offenbarung 19 gezeigt. Von der Braut, der Frau des Lammes, heißt es dort: „Und es wurde ihr gegeben, dass sie sich kleide in feine Leinwand, glänzend und rein; denn die feine Leinwand sind die Gerechtigkeiten der Heiligen“ (Off 19,8). Diese feine Leinwand darf nicht mit dem „besten Gewand“ verwechselt werden, das Christus, unsere Gerechtigkeit, ist (Lk 15,22; 1Kor 1,30). Dieses Gewand wird dem Sünder in dem Augenblick angezogen, wenn er sich in wahrer Buße und wahrem Glauben Gott zuwendet. Aber die „feine Leinwand“ ist die persönliche Heiligkeit im derzeitigen Leben, die durch die Macht des Heiligen Geistes im Leben der Heiligen Gottes bewirkt wird.
Deshalb kann es im Hinblick auf die Bedeutung des Byssus keine Zweifel geben. Es spricht von der fleckenlosen Heiligkeit, Reinheit und Gerechtigkeit des Herrn Jesus, die sich in jeder Handlung, jedem Wort und jedem Gedanken seines täglichen Lebens offenbarte.
Wir haben bereits eine Übereinstimmung zwischen den vier Angesichtern der Cherubim und jedem der vier Evangelien festgestellt. Lasst uns jetzt in jedem Evangelium den Ähnlichkeiten zu einer der vier Farben der Teppiche nachgehen. Natürlich gibt es Kennzeichen von all diesen Farben in jedem Evangelium, aber ist es nicht möglich, jeweils ein Kennzeichen zu identifizieren, das vorherrschend ist? Wo etwa finden wir beispielsweise die Menschheit unseres Herrn, ihre fleckenlose Reinheit, auf unverkennbare Weise hervorgehoben und betont (und zwar getrennt von dem Gedanken einer amtlichen Stellung)? Sehen wir uns das Lukasevangelium an.
Im ersten Kapitel wird die Geburt unseres Herrn vorhergesagt. Es ist nicht die einer gewöhnlichen Person, sondern die des fleischgewordenen Wortes. „Darum wird auch das Heilige, das geboren werden wird, Sohn Gottes genannt werden“ (Lk 1,35). Seine Menschheit war ihrem Wesen nach heilig, ohne den geringsten Flecken von Sünde. David musste bekennen: „Siehe, in Ungerechtigkeit bin ich geboren, und in Sünde hat mich meine Mutter empfangen“ (Ps 51,7). Davids Herr war „das Heilige“!
Im zweiten Kapitel hat das Kind Jesus ein Alter von zwölf Jahren erreicht und damit einen Lebensabschnitt, der bei umsichtigen Eltern normalerweise besondere Sorge hervorruft, weil sich der Wille des Jungen in deutlicherer Weise geltend zu machen beginnt. Einschränkungen durch die Autorität der Eltern sind lästig und es besteht der Drang nach Gesellschaft außerhalb des eigenen Zuhauses. Es ist auch das Alter besonderer Versuchungen und Gefahren, und die unumschränkte Gnade Gottes ist nötig, um auf den „rutschigen Pfaden der Jugendzeit“ aufrechtzubleiben. Richte deinen Blick nun auf das Kind Jesus in diesem Alter. Er ist nach Jerusalem mitgenommen worden, und als Joseph und Maria auf dem Rückweg nach Nazareth sind, verlieren sie Ihn für drei Tage aus den Augen. In welcher Gesellschaft befindet Er sich in dieser Zeit? Sie finden Ihn im Tempel, inmitten der Lehrer, und als Antwort auf die besorgte Frage seiner Mutter entgegnet Er: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (Lk 2,49). Sein einziges Interesse bestand darin, in dem zu sein, was seines Vaters war. Gab es je ein Kind, dem Gott in einer solchen Weise Vater war, dass Er seine Seele völlig in Anspruch nahm?
Folgen wir Ihm ein wenig weiter, sehen wir mehr von der feinen Leinwand. Er geht zurück nach Nazareth und ist seinen Eltern – denn so bezeichnet die Schrift sowohl Joseph als auch Maria – untertan, indem er den Platz der Verantwortlichkeit anerkennt, den Er einnimmt. Wir finden bei Ihm sowohl die Vertiefung in die Dinge seines Vaters als auch Unterordnung unter diejenigen, die in der Stellung irdischer Verantwortung sind. Es gab nichts ungewöhnlich Frühreifes – wie die törichten Geschichten der apokryphen Evangelien nahelegen – außer vollkommener Reinheit in jeder Beziehung. „Und Jesus nahm zu an Weisheit und an Größe und an Gunst bei Gott und Menschen“ (Lk 2,52). Hier sehen wir, wie der Stoff der fleckenlosen Leinwand vor dem Auge Gottes gewoben wird.
Folge Ihm durch das Evangelium hindurch und überall siehst du den vollkommenen Menschen. In Nazareth, in der Synagoge, mögen sie über seine einfache Verwandtschaft stolpern. Dennoch sind sie gezwungen, die gütigen Worte der Liebe und der Wahrheit anzuerkennen, die aus seinem Mund hervorgehen (Lk 4,16-22).
Ein wenig weiter siehst du Ihn im Haus des Pharisäers, und was du entdeckst ist, dass Ihn nichts anderes als feines Leinen umgibt. Da ist einerseits der in Stolz und Selbstgerechtigkeit aufgeblähte Pharisäer, und auf der anderen Seite liegt ein armes Kind der Schande mit schmutzigen Kleidern niedergeworfen zu den Füßen des Herrn. Aber wenn der Stolz des Pharisäers und die „Frau, die eine Sünderin war“, den Zustand der Menschheit in ihren zwei Extremen von Selbstgerechtigkeit und Elend verdeutlichen – was sollen wir von dem Vollkommenen am Tisch sagen, der sich des Kindes der Schande mit Frieden und Vergebung annimmt, und dem Pharisäer mit einem einfachen Tadel begegnet?
Wie hell strahlt die fleckenlose Reinheit an dieser Stelle hervor! Und die Vorwürfe seiner Widersacher unterstreichen sie nur umso mehr. „Dieser nimmt Sünder auf und isst mit ihnen“ (Lk 15,2). Es ist diese Klasse von Menschen, in die sie Ihn einreihen mit dem Ziel seine weißen Kleider nach Möglichkeit zu besudeln. Ja, bringt Ihn nur in engsten Kontakt mit dem Bösen, lasst Ihn sich Seite an Seite neben den armen Sünder setzen: Was ist die Folge? Hinterlässt es einen Flecken an Ihm – irgendetwas, auf das Gott nicht mit Freude sehen kann? Oh, die Folge ist, dass seine Fleckenlosigkeit durch den Kontrast nur umso stärker hervorsticht. Hier ist ein Mensch, in dem eine so vollkommene Reinheit ist, dass ihr Glanz nur durch die Schwärze der Selbstgerechtigkeit des Pharisäers, bzw. die schmutzigen Kleider der Sünde in seiner Ausprägung deutlich wird.
Wie es Gottes Herz befriedigt haben muss, auf dieses fleckenlose Weiß zu blicken! Jahrhundertelang hatte Er auf diese sündenverfluchte Erde herabgeschaut um etwas zu finden, auf das sein Auge ruhen konnte etwas Gehorsames, Ihm Geweihtes. Wie traurig, dass selbst bei den Treuesten, einem Abraham oder David, das Gewand bis zu einem gewissen Grad „vom Fleisch befleckt“ (Jud 23) war. Aber da war Einer, dessen Kleider keine Verunreinigung aufnahm, als Er durch diese Welt der Sünde ging.
Betrachte Ihn, wie er in diesem Evangelium wiederholt im Gebet ist, indem er sich vom Beifall derjenigen abwendet, die seine Wunder bestaunten und Nutznießer derselben waren, um wegzugehen und mit Gott allein zu sein, Ihm seine Seele auszuschütten. Sein untadeliges Leben wird durch diese beständige Abhängigkeit und diesen beständigen Gehorsam untermalt.
Wenn wir uns seinem Tod zuwenden sehen wir das fleckenlose Weiß in all seiner Reinheit strahlen. Die Welt stellt Ihn zwischen zwei Diebe. Satan sagt, ich will endlich sein Weiß besudeln, will Ihn mit Übeltätern vereinen und einen lästernden Pöbel gegen Ihn loslassen, der Staub in die Luft wirft. Und dann will ich doch mal sehen, was aus seiner Fleckenlosigkeit wird. Ja, lasst uns sehen, was aus seiner Fleckenlosigkeit wird! Gott macht sie in ihrer Ausprägung nur deutlicher inmitten der Schwärze menschlicher und satanischer Bosheit. Pilatus erklärt, dass er keine Schuld an Ihm findet. Sogar der Dieb an seiner Seite ist gezwungen, seine Sündlosigkeit anzuerkennen: „Auch du fürchtest Gott nicht, da du in demselben Gericht bist? Und wir zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind“ – unsere Kleider sind beschmutzt – „dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan“ (Lk 23,40.41). Der Hauptmann, der bei der Kreuzigung den Vorsitz hat, erklärt Ihn ebenfalls zu einem gerechten Menschen.
Das und noch viel mehr entnehmen wir dem Lukasevangelium. Dem Evangelium des – könnten wir es nicht so nennen? – feinen, weißen Leinens.
Wir kommen nun zu den vermutlich in das weiße Byssus gestickten farbigen Garnen. Zuerst haben wir das Blau4. Wenden wir uns verschiedenen Schriftstellen zu, um die Bedeutung dieser Farbe kennen zu lernen. 2. Mose 24,9.10 verleiht uns eine Vorstellung der Farbe Blau. Gott hatte sich am Sinai soweit es Ihm möglich war offenbart, denn „niemand hat Gott jemals gesehen“ (Joh 1,18). Er offenbart etwas von seinem Wesen und tut dies auf die symbolische Art, die zu der Zeit der Vorbilder und Schatten passt. Die Ältesten von Israel steigen auf den Berg und sehen unter den Füßen des Gottes Israels „ein Werk von Saphirplatten und wie der Himmel selbst an Klarheit“ (2Mo 24,10). Das intensive Blau des Saphirs redet demnach vom Himmel.
Das Wort „Saphir“ stammt von der gleichen Wurzel, die „sprechen“, „verkünden“ oder auch „Buch“ bedeutet. Der Satz in Psalm 19,2 „Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes“ lautet auf Hebräisch entsprechend: „Die Himmel saphiren die Herrlichkeit Gottes.“ Blau ist die Farbe der Wahrheit und in Gott allein ist Wahrheit, „Gott ist Licht und gar keine Finsternis ist in ihm“ (1Joh 1,5). Der letzte Teil des gleichen Psalms spricht indes von dem vollkommenen „Gesetz des Herrn“. Auch hier befindet sich Saphir in dem Buch – dem Wort, das das Wesen des Gottes des Himmels ganz und gar widerspiegelt.
Wenn wir zu Beispielen oder Darstellungen kommen, die uns die Bedeutung der Farbe Blau näherbringen, erinnern wir uns an die blaue Quaste und die blaue Schnur, von denen Gott anordnete, dass sie an den Zipfeln der Kleidung seines Volkes sein sollten (4Mo 15,38-40). Die Israeliten mussten an dem Teil der Kleidung, der dem Boden am nächsten war, die Farbe des Himmels, tragen. So würden sie an die Vollkommenheiten des Gesetzes erinnert werden das, wie wir soeben gesehen haben, der Ausdruck der Wahrheit Gottes war. Alles das sollte dazu dienen, dass sie seinen Willen täten. Sie würden sich daran erinnern, dass sie das Volk Gottes waren.
Wie passend ist es, wenn wir diese Dinge einmal auf uns anwenden, dass wir daran erinnert werden sollen, dass wir ein himmlisches Volk sind, vereint durch den Heiligen Geist mit unserem Herrn im Himmel, und dass unsere Kleider (womit im Wort Gottes die „Gewohnheiten“ des Lebens gemeint sind) vom Himmel sprechen sollten. Und das betrifft selbst den niedrigsten Teil, der in direktesten Kontakt mit der Erde kommt. Aber wer hat jemals diese Wesensart gezeigt, außer Einem? Nur wenn sein Bild in uns vom Heiligen Geist durch Glauben Gestalt gewinnt, können wir ein Stück weit seinen Gedanken in Bezug auf uns entsprechen.
Von Anfang an war die Farbe des Himmels auf unserem Herrn. Wie freudig begleiteten Ihn die Engel, die seine Geburt verkündigten, auf seinem ganzen Weg und dienten Ihm bereitwillig als ihrem Herrn. Er war „vom Himmel“, und es war die Freude des ganzen Himmelsheeres Ihm Ehre zu erweisen. In Gethsemane, der Stunde seiner tiefsten Erniedrigung (abgesehen von Golgatha) stand Ihm der ganze Himmel zur Verfügung. So konnte Er sagen: „Oder meinst du, dass ich nicht meinen Vater bitten könnte und er mir jetzt mehr als zwölf Legionen Engel stellen würde?“ (Mt 26,53).
Gibt es nun ein Evangelium, das unseren Herrn besonders in dieser Weise vorstellt? Viele würden umgehend antworten: Ja, weil es die Kennzeichen des Johannesevangeliums sind. Vom allerersten Vers bis zu seinem Ende haben wir Ihn in diesem Evangelium als den Himmlischen vor uns: „Das Wort war bei Gott . . . das Wort wurde Fleisch“ (Joh 1,1.14). Im dritten Kapitel sagt Er zu Nikodemus: „Wenn ich euch das Irdische gesagt habe, und ihr glaubt nicht“ – wobei er von der Notwendigkeit der Wiedergeburt spricht, um in das Königreich eingehen zu können – „wie werdet ihr glauben, wenn ich euch das Himmlische sage? Und niemand ist hinaufgestiegen in den Himmel als nur der, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, der Sohn des Menschen, der im Himmel ist“ (Joh 3,12.13). Es ist hier nicht nur der Sohn des Menschen, der vor seiner Menschwerdung im Himmel war; auch nicht der Sohn des Menschen, der im Himmel sein wird, wenn Er zum Vater zurückkehrt. Nein, es ist der, dessen ganzes Leben hier auf der Erde die Luft des Himmels atmet.
Wir nennen es manchmal das Evangelium der Gottheit, aber zeichnet es sich nicht auch als das Evangelium des Himmlischen aus? Folge Ihm durch dieses wunderbare Evangelium und du wirst feststellen, dass dir das Blau überall begegnet. Dürfen wir nicht ehrfürchtig sagen, dass Ihn nach seinem Vater verlangt, obwohl Er hier stets und ausschließlich (selbst bis zur Hingabe seines Lebens) seinen Willen sucht. Aber der, der Ihn gesandt hat, ist immer vor seinem Herzen und auf seinen Lippen: „Wie der lebendige Vater mich gesandt hat und ich lebe des Vaters wegen“ (Joh 6,57). Was für eine vollkommene Abhängigkeit und Unterwerfung! Der einzige Grund für sein Leben hier war sein Vater, in dem Er als vollkommener Mensch blieb. „Dies ist das Brot, das aus dem Himmel herabgekommen ist“ (Joh 6,58).
Beachte, dass das Brot der Sohn des Menschen ist, der sein Fleisch und Blut gab. Dennoch spricht Er davon als dem Brot, das aus dem Himmel herabgekommen ist. Die Theologie könnte darauf hinweisen, dass wir die zwei Naturen nicht verwechseln sollen, den Sohn Gottes und den Sohn des Menschen. Das „Brot“ ist Letzteres. Wir sind deshalb fälschlicherweise beschuldigt worden zu lehren, dass die Menschheit unseres Herrn etwas Himmlisches in dem Sinne sei, dass es aus dem Himmel herabkam. Eifrig auf der Hut vor Irrlehren zu sein ist völlig richtig, besonders dann, wenn sie die Person unseres heiligsten Herrn betreffen.
Hier sehen wir uns jedoch einer äußerst kostbaren Wahrheit gegenüber. Wollte unser Herr wirklich sagen, dass sein Fleisch nicht auf der Erde geboren wurde? Sicherlich nicht! Stattdessen ging es Ihm darum deutlich zu machen, dass Er so mit seiner Menschheit identifiziert war, dass alles vom himmlischen Wesen seiner ganzen Person sprach. Alles war himmlisch, weil Er aus dem Himmel herabgekommen war: Das Brot ist Er selbst, unsere geistliche Nahrung, und sein Blut ist das Leben – ewiges Leben. Er ist die himmlische Speise: „Wer dieses Brot isst, wird leben in Ewigkeit“ (Joh 6,58). Die gesamte Ewigkeit hindurch werden wir uns von diesem „Brot, das aus dem Himmel herabgekommen ist“, nähren.
So sehen wir das mit göttlichem Geschick und Weisheit in „Kunstweberarbeit“ eingewobene Blau, an dem der Glaube Schönheiten sehen und anbeten kann. Das tut er ohne in die „höheren Höhen“5 einzudringen, die nur Gott allein kennen kann.
In Johannes 13 finden wir, wie das Blau in Verbindung mit dem Leinen in bemerkenswerter Weise hervorgehoben wird. Wir lesen dort in Vers 5, dass unser Herr sich mit einem leinenen Tuch umgürtete, die Füße der Jünger wusch und sie mit diesem leinenen Tuch abtrocknete, mit dem er umgürtet war. Er wandte die fleckenlose Reinheit seines eigenen Lebens auf sie an, um ihre Wege praktisch zu reinigen. Das tat er, indem Er sowohl das Wort als auch seinen eigenen Dienst benutzte, um sie für die Gemeinschaft mit sich selbst passend zu machen. Im dritten Vers sehen wir das Blau: „Jesus steht, wissend, dass der Vater ihm alles in die Hände gegeben hatte und dass er von Gott ausgegangen war und zu Gott hingehe, . . . auf“, etc. Der, der sich selbst mit dem leinenen Tuch umgürtete, ist der, der von Gott kam und zu Ihm zurückkehrte: Der Himmlische.
Nochmals: „Ich bin von dem Vater ausgegangen und bin in die Welt gekommen; wiederum verlasse ich die Welt und gehe zum Vater“ (Joh 16,28). Wir könnten sagen, dass es der Mensch ist, der hier spricht – „dieser Jesus“ (Apg 1,11) –, doch unterscheidet Er nicht zwischen seiner Gottheit und seiner Menschheit. Er sagt nicht: „Meine Gottheit ist vom Vater ausgegangen und meine Menschheit und Gottheit werden zum Vater zurückkehren.“ Nein, es ist die Person, der ganze Christus, um die es geht.
Er ist von Gott ausgegangen und sein ganzes Leben hindurch kennzeichnete Ihn dieses himmlische Wesen. Bei seinem Tod übergab Er dem Vater seinen Geist. Somit geht Er dahin zurück, wo sein Herz immer war: Zu seinem Vater im Himmel. Er sagte zu seinen Jüngern: „Wenn ihr mich liebtet, würdet ihr euch freuen, dass ich zum Vater gehe“ (Joh 14,28). Er ging dorthin, wo Er sein wollte, sein Leben hier war eine Zeit des Exils für Ihn. Er sprach stets von seinem Vater, sehnte sich danach, bei Ihm zu sein – sein ganzes Leben war völlig dadurch gekennzeichnet: So sehen wir das Blau durchweg auf das Weiß gewoben.
Wenn wir uns daran erinnern, was wir über das Wort Saphir und seine Verbindung mit dem Buch gelernt haben, staunen wir, wie vollkommen unser Herr zeigte, dass sein himmlisches Wesen in völliger Übereinstimmung mit dem geschriebenen Wort war. Obwohl Er aus dem Himmel her und vom Himmel war, fand Er nichts in der Schrift, was nicht Gott offenbarte. Für Ihn war alle Schrift durch Inspiration von Gott eingegeben (vgl. 2Tim 3,16), womit ihre Quelle himmlisch und nicht irdisch war. Deshalb war ihr Autor Gott und nicht der Mensch. Und gerade diese völlige Unterwerfung unter und Identifikation mit dem geschriebenen Wort zeichnete Ihn als den Himmlischen aus. Er lebte von dem himmlischen Buch. Es war für Ihn das, was in Ps 119,89 gesagt wird: „In Ewigkeit, Herr, steht dein Wort fest in den Himmeln“. Er, das lebendige Wort, lebte als Mensch vom geschriebenen Wort. Und das genügt als Antwort an den Unglauben, der die Schrift dadurch, dass er ihr eine menschliche Herkunft von Inhalt, bzw. Struktur zuschreibt, vom Himmel zur fehlbaren und gefallenen Erde erniedrigen möchte.
Die nächsten beiden Farben, Purpur und Scharlach, gleichen einander. Während der letzten Stunden unseres Herrn wurden Ihm aus Hohn Mäntel in diesen beiden Farben umgehängt. Im Matthäusevangelium ist es Scharlach (Mt 27,28) und im Johannesevangelium Purpur (Joh 19,2). Wir brauchen kaum zu sagen, dass dies kein Widerspruch ist, sondern einen göttlichen Grund hat. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass Ihm die erbärmlichen Soldaten verschiedene Mäntel umhängten, um Ihn mit all ihrem Hohn zu überschütten, ebenso wie auch Herodes Ihm ein „glänzendes Gewand“ umgeworfen hatte (Lk 23,11). Dabei könnte es sich tatsächlich um den purpurnen, bzw. scharlachroten Mantel gehandelt haben, in den Er anschließend gekleidet war, während die Soldaten des Statthalters Ihm einen weiteren Mantel angezogen haben könnten. Entsprechend erwarten wir bei Purpur und Scharlach eine recht ähnliche, wenn auch unterschiedene, Bedeutung.
Wie das hebräische Wort für Blau ist Purpur (Hebr. Argaman) der Name einer Farbe, die aus einem Schalentier gewonnen wird. Auch beim Scharlach werden wir das sehen, denn er wird in ähnlicher Weise aus einem Wurm gewonnen. Lydia (Apg 16,14) war eine Purpurhändlerin. Es war eine prachtvolle Farbe, ein Kennzeichen von Königtum und Luxus. Wie bedeutsam ist es, dass alle drei dieser brillianten Farben durch das Opfer tierischen Lebens gewonnen wurden. In Richter 8,26 wird uns berichtet, dass die Könige von Midian Purpurkleider trugen. Dies führt zu dem allseits bekannten Gedanken, dass Purpur, die königliche Farbe, von königlicher Würde spricht. Wenn also unser Herr, wenn auch aus Hohn, als „König der Juden“ bejubelt wurde, passte das zu seiner Kleidung. Der reiche Mann in Lukas 16 trug Purpur und feines Leinen, Kleidung, die Königen gebührte.
Wir brauchen kaum erwähnen, dass unser wunderbarer Herr tatsächlich ein König war. In diesem Charakter stellt Ihn ein Evangelium unverkennbar dar – und zwar das nach Matthäus. Schauen wir uns dazu einige typische Stellen an. Als die Magier durch den Stern geleitet vom Morgenland her nach Jerusalem kommen, fragen sie: „Wo ist der König der Juden, der geboren worden ist? Denn wir haben seinen Stern im Morgenland gesehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen“ (Mt 2,2). Sie finden Ihn schließlich in der königlichen Stadt Davids, Bethlehem, und beschenken Ihn mit königlichen Gaben und bringen Ihm sogar mehr Verehrung dar als einem König.
In der Bergpredigt (Mt 5-7) haben wir die Verfassung des Königreiches, sein Grundgesetz, und das, was seine Anhänger kennzeichnen sollte. Wir sehen, dass es ein geistliches Königreich war, während es auf der Erde aufgerichtet wurde (dementsprechend auch sein Name „Königreich der Himmel“). In den folgenden Kapiteln haben wir die Werke des Königs – und welcher Herrscher verteilte jemals solche Gaben wie dieser, der segnete, wohin Er auch ging, indem er heilte, reinigte und vergab? Es hat einmal ein Aberglaube dahingehend bestanden, dass die Berührung eines Königs eine bestimmte Art von Krankheit heilen würde. Hier begegnen wir der Wirklichkeit.
Gehen wir weiter, erkennen wir, dass dieser sanfte, heilige, allmächtige König von seinen Untertanen verworfen wird: „Er kam in das Seine, und die Seinen nahmen ihn nicht an“ (Joh 1,11). In Kapitel 12 haben sie seine Verwerfung praktisch beschlossen. Deshalb ist Er in Kapitel 13, obwohl wir Ihn immer mit seinem Königreich beschäftigt finden, kurz davor, sich von seinem Königreich zu entfernen. Während dieser Zeit liegt die Verantwortung des Königreichs bei seinem Volk. Später, als Petrus Ihn als den Christus bekennt, den Sohn des lebendigen Gottes (Mt 16,16), vertraut der Herr ihm die Schlüssel des Königreichs der Himmel an. In diesem Zusammenhang spricht Er auch von dem, was sich davon völlig unterscheidet: Seiner Versammlung. Diese baut Er, und dementsprechend ist sie vollkommen. Liegen die Dinge allerdings in der Hand des Menschen, zeigen sich Schwachheit und Verdorbenheit, bis schließlich unser Herr kommt und sein Königreich in Macht und Herrlichkeit aufrichtet und darüber herrscht.
Wohl wissend, was Ihn erwartet, zeigt Er sich vor seiner Kreuzigung noch einmal seinem geliebten irdischen Volk. Er hält einen triumphalen Einzug in Jerusalem und erfüllt damit die Prophezeiung aus Sacharja 9: „Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig auf einer Eselin reitend, und zwar auf einem Fohlen, einem Jungen des Lasttiers“ (Mt 21,1-11).
Der König tritt also in die „Stadt des großen Königs“ (Mt 5,35) ein – nicht in Pracht und Herrlichkeit, sondern in der schlichten Gestalt, die so völlig zu dem passte, der sich selbst erniedrigt hatte, um der Diener für die Bedürfnisse des Menschen zu werden.
Und scheinbar sind die Menschen bereit Ihn anzuerkennen und als König in Empfang zu nehmen. Sie rufen: „Hosanna dem Sohn Davids“, während seine Jünger ihre Kleider ausziehen, um sie zusammen mit Palmzweigen auf dem Weg vor Ihm auszubreiten. Selbst die Kinder rufen laut in den Straßen. Steht er also tatsächlich im Begriff als König anerkannt und angenommen zu werden? Sind sie bereit, Ihn mit dem Purpurgewand zu schmücken? Doch nein – und wie schade für den Menschen, Jerusalem und Israel! Sie erkennen die Zeit ihrer Heimsuchung nicht und schon bald treten an die Stelle der Jubelrufe die wütenden Schreie „Weg mit diesem!“, „Kreuzige ihn!“ (Lk 23,18.21).
Unser geliebter Herr wusste wohl, dass es so kommen würde, und stellt ihnen das Gleichnis vom verworfenen König vor, über den gesagt wird: „Dieser ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten“. In Bezug auf die Ihn verwerfenden Menschen heißt es in dem Gleichnis weiter, dass es einen Mann gab, der sich ohne Hochzeitskleid in die Hochzeit des Königssohnes einmischt, den er gleichzeitig ablehnt – Christus, das beste Kleid, der allein ihn passend für die Gegenwart Gottes machen konnte (Mt 22,1-14).
So finden wir durch das ganze Evangelium hindurch die purpurne Stickerei seines königlichen Charakters. Damit stimmt auch die letzte prophetische Rede überein (Mt 24,25): „Wenn aber der Sohn des Menschen kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen; und alle Nationen werden vor ihm versammelt werden.“ Wir sehen die Herrlichkeit des Königs auf dem Thron, der mit seinen Augen alles Böse zerstreut (vgl. Spr 20,8).
In den abschließenden Szenen, seiner Gefangennahme, seinem Prozess und seiner Kreuzigung, strahlt der königliche Purpur immer noch hell hervor. Im Garten Gethsemane, als Petrus in kümmerlicher Verteidigung des Herrn sein Schwert zieht, erinnert ihn der König an die Armee der himmlischen Heere, die Ihm zur Verfügung stehen: „Oder meinst du, dass ich nicht meinen Vater bitten könnte und er mir jetzt mehr als zwölf Legionen Engel stellen würde?“ (Mt 26,53). Aber Er war nicht gekommen, um eine Schlacht gegen den Menschen zu führen, nicht einmal gegen seine Feinde, sondern gegen die Sünde, und diesen Kampf muss er alleine führen. Nach diesem herrlichen Sieg wird die königliche Erscheinung wunderbarer als je zuvor ausfallen.
Er wird von Pilatus mit den Worten herausgefordert: „Bist du der König der Juden?“, und antwortet: „Du sagst es.“ Die Soldaten ziehen Ihm aus Hohn den scharlachroten Mantel an, „und sie flochten eine Krone aus Dornen und setzen sie ihm aufs Haupt und gaben ihm einen Rohrstab in die Rechte; und sie fielen vor ihm auf die Knie und verspotteten ihn und sagten: Sei gegrüßt, König der Juden“! Wir greifen genau diese Worte auf, die sie in Gotteslästerung aussprachen, und machen sie zum Ausdruck dessen, was göttlich wahr ist. Ja, in der Tat ist Er ein gekrönter König und die Dornenkrone bildet jetzt die Krone der Herrlichkeit.
Weiter schreiben Sie seine Anklage über das Kreuz (tatsächlich die Wahrheit darüber, wer Er war, denn welche Anklage konnte es gegen den Vollkommenen geben?): „Der König der Juden“. Sie hängen Ihn anstelle von Barabbas, der ein Mörder war, zwischen zwei Diebe, obwohl Er „nichts Ungeziemendes getan“ hatte (Lk 23,41). Ja, dies ist „Jesus, der König der Juden“.
Genau davon hängt in Matthäus alles ab. Mit einem König hoffte das Volk jemand zu haben, der es ihnen ermöglichen würde, das römische Joch abzuwerfen und ihr Reich in Macht aufzurichten. Ein solches Königreich hätte Barabbas ihnen gegeben, wenn er es gekonnt hätte. Aber ein Königreich gegründet auf Gerechtigkeit und Gericht, von dessen König gesagt werden konnte: „Gerechtigkeit hast du geliebt und Gottlosigkeit gehasst“ (Ps 45,7) war nicht der Mann nach ihrem Herzen. Den Mann, der als Zeuge Gottes hier war, der von der ganzen Wahrheit zeugte, – so beschämend und demütigend sie war –, der Sünde unter der Führerschaft tadelte, den konnten sie nicht ertragen; eher einen Mörder als „diesen“. Gepriesen sei Gott, Er ist auch der König der Gnade – dass die geringen, armen und hilflosen Sünder, die nach Ihm verlangen, seine Wahrheit und Gerechtigkeit zu ihren Gunsten finden.
Bis zuletzt sehen wir Ihn als König. Im Augenblick des Todes lesen wir: „Jesus . . . gab den Geist auf“ (Mt 27,50 – wörtlich: „entließ den Geist“); solch ein Wort ist einem König angemessen. So finden wir den Purpur durch das ganze Evangelium hindurch. In der Auferstehung ist Er immer noch der König, dessen Sieg über den Tod von einem mächtigen Engel voll Majestät verkündet wurde. Als er seine kleine Jüngerschar um sich versammelt, verkündet Er: „Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf der Erde“, und sendet sie aus, um sein Königreich bis zu den entferntesten Enden der Erde auszubreiten, denn Er, der König, wird mit ihnen sein, bis das Zeitalter der Gnadenzeit endet und das Zeitalter seines Königreichs und seiner Macht anbricht (Mt 28,18-20). Damit kommen wir zur letzten Farbe, dem Scharlach. Wie bereits erwähnt, gibt es vieles, was mit Purpur übereinstimmt, aber lasst uns sehen, ob wir in der Schrift auch unterscheidende Merkmale finden können.
In seiner Klage über Saul ruft David die Töchter Israels auf, um einen zu weinen, der sie in Scharlach6 kleidete (2Sam 1,24) und die „tüchtige Frau“ in Sprüche 31,21 kleidete ihr Haus ebenso. In 4. Mose 19, im bekannten Vorausbild der roten jungen Kuh, haben wir einen ähnlichen Gebrauch des Wortes Scharlach. Nachdem die junge Kuh geschlachtet und das Blut vergossen war, wurde sie außerhalb des Lagers verbrannt, und wenn sie brannte, wurden „Zedernholz und Ysop und Scharlach“ in das Feuer geworfen (4Mo 19,6).
Die Zeder und der Ysop sind die beiden Extreme in der Pflanzenwelt: Salomo „redete über die Bäume, von der Zeder, die auf dem Libanon ist, bis zum Ysop, der aus der Mauer herauswächst“ (1Kön 5,13). Sie stehen daher für das Höchste und Niedrigste in der Welt, während Scharlach für die Pracht der Welt d. h. ihre Herrlichkeit, steht.
Im Buch der Offenbarung haben wir eine Stelle, wo die Farbe in einer bezeichnenden Art und Weise verwendet wird. In Kapitel 17,3.4 sehen wir, wie die Frau auf dem scharlachroten Tier sitzt und außerdem mit Purpur und Scharlach bekleidet ist. Sie verkörpert die falsche Kirche und nicht die „keusche Jungfrau“, die himmlische Braut, die Christus verlobt ist. Sie reißt wohl deren Namen an sich, ist aber in Wirklichkeit von der Erde und voll von allen Abscheulichkeiten. Sie ist mit den herrlichen Farbtönen irdischer Pracht angetan, während die wahre Kirche in bescheidenem Gewand umhergeht, sogar häufig Sacktuch trägt, und auf ihre prächtige Kleidung wartet, wenn der Bräutigam kommt.
Diese Schriftstellen zeigen uns eine Anwendung der Farbe – den Prunk und Glanz der Erde. Aber das Wort wird auch noch in einer ziemlich gegensätzlichen Art und Weise verwendet, selbst wenn es eine Verwandtschaft gibt: „Wenn eure Sünden wie Scharlach sind, wie Schnee sollen sie weiß werden“ (Jes 1,18). Das vollständige Wort für Scharlach ist Tolaath shani, „Scharlachwurm“. Es kann sein, dass shani, d. h. Scharlach, „doppelt“ bedeutet und auf die doppelte Färbung hinweist, aus der Scharlach hervorgeht. Dann würde es ein starkes Indiz dafür sein, dass der Stolz und die Herrlichkeit des Menschen eng mit der doppelten Färbung der Sünde verbunden sind.
Mit dem Wort für „Wurm“ sind jedoch andere Gedanken verknüpft. Die scharlachrote Farbe wird aus coccus cacti, aus der Cochenille, gewonnen. In Psalm 22 sagt unser heiliger Herr inmitten seiner Schmerzen als Sündopfer am Kreuz: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mann“ (Ps 22,7). Dies ist das Wort, das in Zusammenhang mit Scharlach gebraucht wird, wie wir gesehen haben. So wurde unser Herr, „der Sünde nicht kannte“, „für uns zur Sünde gemacht“ (bzw. zum Sündopfer; 2Kor 5,21). Er hat den Platz eingenommen, den wir verdienten. Er nahm den Platz eines Wurmes ein, ging in den Tod, zertreten unter dem Zorn und Gericht Gottes. Sein kostbares Blut wurde vergossen, um unsere scharlachroten Sünden hinwegzutun.
Aber durch eben dieses Leiden bis in den Tod hat Er einen Platz höchster Herrlichkeit gewonnen und Ihm gehören die Königreiche und die Herrlichkeit der ganzen Welt. Da, wo Sünde und Selbstsucht herrschten, hat Er das Recht und die Macht erworben, zu regieren. Wo immer Er im Glauben anerkannt wird, nimmt Er Wohnung in diesem Gläubigen und regiert – unterwirft, herrscht, leitet.
Der Glaube sieht Ihn nun „mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt“ (Heb 2,9). Eines Tages wird diese Erde der Schauplatz seiner Herrlichkeit sein. Der scharlachrote Mantel wird Den bekleiden, der allein das Recht dazu besitzt – nicht eine abgefallene Kirche noch eine gottlose Weltmacht. Der Vater gibt ihn in die Hände dessen, der ihn erkauft hat.
Während wir im ersten Teil von Psalm 22 sein Leiden bis in den Tod der Sünde wegen vor uns haben die scharlachrote Farbe –, finden wir am Schluss den Scharlach auf Ihm: Königliche Herrschaft und Pracht. „Alle Enden der Erde“ – nicht nur Israel – „werden sich erinnern und zu dem Herrn umkehren; und vor dir werden niederfallen alle Geschlechter der Nationen“ (Ps 22,28). Dies, so glauben wir, zeigt uns die grundsätzlichen Gedanken der Schrift über Scharlach.
Es gibt noch eine andere und ernste Bedeutung dieser Pracht des Scharlachs. Wenn der Sohn des Menschen mit den himmlischen Heerscharen erscheint, wird er „bekleidet [sein] mit einem in Blut getauchten Gewand“ (Off 19,13). Der Scharlach ist die ernste Zusicherung, dass Er seine Feinde richten muss und richten wird. „Doch diese meine Feinde, die nicht wollten, dass ich über sie herrschen sollte, bringt her und erschlagt sie vor mir“ (Lk 19,27). Ebenso in Jesaja 63,1 wo wir den Sieger sehen, wie Er in Triumph vom Gericht über seine Feinde zurückkehrt: „prächtig in seinem Gewand, der einherzieht in der Größe seiner Kraft“. Aber sogar dort wird das Gericht als sein „befremdendes Werk“ angesehen (Jes 28,21) und Er spricht von sich selbst als „mächtig . . . zu retten“ (Jes 63,1).
Unsere nächste Frage lautet: Gibt es ein Evangelium, das unseren Herrn entsprechend der Gedanken vorstellt, die wir mit Scharlach verbunden haben? Markus ist das einzige verbleibende Evangelium, aber entspricht es dieser Farbe? Es ist bekannt als das Evangelium des vollkommenen Knechts, so wie Matthäus das Evangelium des Königs ist. Wir sehen Ihn im Markusevangelium die Stellung des Knechts einnehmen, und inmitten der Not dienen, wo überall Sein Mitleid und Seine Liebe erbeten wurde. Er kommt hinunter an den niedrigsten Ort und wird dann zum höchsten Ort erhöht. Am Schluss von Kapitel 8 und zu Beginn von Kapitel 9 haben wir die beiden Gedanken seines Leidens und seiner Herrlichkeit miteinander vermengt. „Und er begann sie zu lehren, dass der Sohn des Menschen vieles leiden und verworfen werden müsse von den Ältesten und den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten und dass er getötet werden . . . müsse“ (Mk 8,31).
Er wird abgelehnt, verachtet und unterdrückt: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mann.“ Schauen wir nun Vers 38 an: „Denn wer irgend sich meiner und meiner Worte schämt unter diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht“ (die stolze religiöse Welt, die sich in Scharlach kleidet) „dessen wird sich auch der Sohn des Menschen schämen, wenn er kommt in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln.“ Hier wird der Scharlach von dem getragen, der das Recht dazu besitzt.
Wir finden eine Darstellung der Herrlichkeit des Herrn im nächsten Kapitel: „Wahrlich, ich sage euch: Unter denen, die hier stehen, sind einige, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie das Reich Gottes, in Macht gekommen, gesehen haben“ (Mk 9,1). Dann kommt die Verklärung, seine kommende Herrlichkeit wird offenbart als eine Zusicherung an seine Jünger, dass sich all diese Dinge erfüllen werden.
Im 10. Kapitel finden wir wieder die Vorhersage seiner Verwerfung und seines Todes. In unmittelbarer Verbindung damit haben wir die Bitte der Söhne des Zebedäus, Ehrenplätze in seinem Königreich zu erhalten. Es ist leider bedeutsam, dass sie, als Er von seinen Leiden spricht, mit ihrer eigenen Würde in Verbindung mit seiner Herrlichkeit beschäftigt sind. Bis nach der Auferstehung scheinen Sie die Notwendigkeit des Kreuzes vor der Herrlichkeit nicht verstanden zu haben. Das wurde zuletzt ein schwerer Schock für sie. Sogar unter dem Schatten des Kreuzes, beim letzten Abendmahl, gab es unter ihnen eine Auseinandersetzung, wer von ihnen der Größte sein sollte. Lasst uns daran denken, dass dies für uns nur natürlich ist, solange der Glaube nicht wirksam ist.
Die Söhne des Zebedäus begehren den Scharlach, in Pracht und Würde der Macht bekleidet zu sein – aber unser Herr würde ihnen Scharlach in einer Weise geben, die ihren Stolz nicht fördern würde. Sie würden von seinem Kelch trinken und mit seiner Taufe getauft werden, sie würden an seinen Leiden und seiner Verwerfung teilhaben – natürlich nicht an den sühnenden Leiden. Dies war alles, was Er ihnen hier versprechen konnte, und es würde ihre Ehre und Herrlichkeit sein (als solche schätzten sie es später auch selbst wert), um seinetwillen zu leiden. Als die anderen Jünger über diese beiden unwillig werden, eifersüchtig auf das, was auch sie als spezielle Ehre ansahen, sagt unser Herr zu ihnen (Mk 10,45): „Denn auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele.“
Wir beobachten also, dass der Weg des Herrn und der seiner Diener zuerst durch Leiden und Ablehnung führt und danach zur Herrlichkeit. Die Vorstellung der Welt von Scharlach ist Herrlichkeit ohne Leiden und damit genau das Gegenteil der Gedanken unseres Herrn. Seine prophetische Rede betont die gleiche Wahrheit.
Wenn wir zu seinem Tod kommen, ist das kennzeichnende Merkmal seines Leidens, dass Er von Gott verlassen ist. Wir sehen den Heiligen zur Sünde gemacht – „ein Wurm und kein Mann“ –, damit diejenigen, die tiefer als Würmer standen, in die Schönheit des Herrn gekleidet werden könnten.
Seine Auferstehung ist die göttliche Antwort darauf, dass Er verlassen worden war. „Der Herr nun wurde . . . in den Himmel aufgenommen und setzte sich zur Rechten Gottes“ (Mk 16,19). So ist Er in seine Herrlichkeit eingegangen, und der demütige Knecht und Sündenträger ist, wie die Welt eines Tages sehen wird, in die Herrlichkeit gekleidet, die Ihm rechtmäßig zusteht. Er lehnte es ab, sie anders zu erhalten, sondern erwarb sie durch sein Kreuz, damit auch wir sie mit Ihm teilen könnten.
Wenn wir diese Gedanken nochmals kurz überblicken, halten wir fest, dass das feine Leinen, das von seiner heiligen, fleckenlosen Menschheit spricht, im Lukasevangelium dargestellt wird, wir das Blau seines göttlichen und himmlischen Wesens, bei Johannes finden, der Purpur seine Königswürde zeigt, wie in Matthäus und der Scharlach uns an Seine Erniedrigung und die danach folgende Herrlichkeit erinnert, wie wir sie in Markus sehen können.
Diese verschiedenen Materialien wurden in „Kunstweberarbeit“ zusammengefügt, wörtlich im „Werk eines Denkers“. Die Cherubim wurden nach einem festgelegten Plan aus den vier betrachteten Materialien gearbeitet, gestickt oder gewoben. Das Leben unseres Herrn, das der vollkommene Ausdruck seiner Person war, war ein wunderschönes, einheitliches, vollkommenes Ganzes. Sein Leben war das Werk eines „Denkers“ – dessen ganzer Gedanke und ganzes Sinnen und Trachten es war, Gott zu verherrlichen und sein Wesen zu offenbaren. So haben wir auch in der Aufzeichnung dieses Wesens und Lebens das vollkommene Werk des Heiligen Geistes.
Die vier Farben, alle miteinander verwoben und vermengt, wie wir es in den vier Evangelien sehen, sind sein Werk. Jedes davon ist vollkommen durchdacht, und dies offenbart gleichzeitig den Herrn und die göttliche Fähigkeit des Heiligen Geistes, der Ihn dargestellt hat. Wie zurückhaltend sollte jedes menschliche Werkzeug sogar beim Sprechen über diese Dinge sein, damit nichts das „Muster“ stört, das so vollkommen erdacht und ausgeführt ist.
Was wir betrachtet haben sind Themen, die das Herz zu Anbetung und Lob bewegen können. Mögen wir innerlich davon beherrscht und gefüllt sein und unsere Herzen von der Liebe und Freude brennen, die der Geist gibt.
3 Das hebräische Wort für Byssus ist schesch, abgeleitet von einer Wurzel, die „weiß“ oder „strahlend“ bedeutet. Es war der „Byssus“ ägyptischer Herkunft, weiß, fein und kostspielig. Er wurde durch hochrangige Personen getragen (1Mo 41,42) und ein gängiger Handelsartikel.↩︎
4 Das hebräische Wort für Blau ist tekhelet, wörtlich „ein Schalentier“, das ein Färbemittel von sattem Violettblau liefert. Während das Blau also überwog, enthielt es auch einen Anteil von Rot. Es ist ebenfalls bemerkenswert, dass es aus tierischem Leben gewonnen wurde. Es wurde für prächtige Kleidung ranghoher Personen verwendet (Hes 23,6; 27,7.24).↩︎
5 Vgl. Strophe 4 aus Lied 150 der „Spiritual Songs“: In Deines Wesens höh're Höhn dringt kein erschaff'ner
Sinn, Der Vater nur erkennt den Sohn, Er zieht zu Dir uns hin, Und Deines Namens Lieblichkeit Der Geist uns kündet allezeit.↩︎
6 In der deutschen Elberfelder Bibel Edition ESV steht hier jeweils „Karmesin“.↩︎
Behandelter Abschnitt 2Mo 36,8-13
Vortrag 4: Die Teppiche aus gezwirntem Byssus – ihre Maße und weitere Aspekte
„Und alle, die weisen Herzens waren unter den Arbeitern des Werkes, machten die Wohnung aus zehn Teppichen; aus gezwirntem Byssus und blauem und rotem Purpur und Karmesin, mit Cherubim in Kunstweberarbeit machte er sie. Die Länge eines Teppichs war achtundzwanzig Ellen, und vier Ellen die Breite eines Teppichs: ein Maß für alle Teppiche. Und er fügte fünf Teppiche zusammen, einen an den anderen, und er fügte wieder fünf Teppiche zusammen, einen an den anderen. Und er machte Schleifen aus blauem Purpur an den Saum des einen Teppichs am Ende, bei der Zusammenfügung; so machte er es an dem Saum des äußersten Teppichs bei der anderen Zusammenfügung. Fünfzig Schleifen machte er an den einen Teppich, und fünfzig Schleifen machte er an das Ende des Teppichs, der bei der anderen Zusammenfügung war, die Schleifen eine der anderen gegenüber. Und er machte fünfzig Klammern aus Gold und fügte mit den Klammern die Teppiche zusammen, einen an den anderen, so dass die Wohnung ein Ganzes wurde“ ( 2Mo 36,8-13).
Nachdem wir uns mit den Farben und Materialien der Teppiche beschäftigt haben, möchten wir jetzt versuchen, etwas über die Bedeutung ihrer Maße und Anordnung zu erfassen.
Die innerste Bedeckung der Stiftshütte bestand aus zehn Teppichen, die jeweils 4 Ellen breit und 28 Ellen lang waren. Diese zehn Teppiche wurden zu zwei Feldern bestehend aus je fünf zusammengefügt, die wiederum zu einer vollständigen Decke verbunden wurden. Die Art und Weise, wie die fünf Teppiche zusammengefügt wurden, wird zwar nicht ausdrücklich erwähnt (vermutlich wurden sie zusammengenäht), doch die Anweisungen für die Vereinigung der beiden Felder sind dafür sehr deutlich.: Fünfzig blaue Schleifen wurden am Rand der Teppiche angebracht, und fünfzig goldene Klammern (oder Schnallen) verwendet, um alle zu einem Ganzen zu vereinen.
Diese erste Decke der zehn Teppiche war die eigentliche Stiftshütte, bzw. wörtlich „Wohnung“ (vgl. 2Mo 36,14 und viele weitere Stellen). Die anderen Decken scheinen in Beziehung zu dieser ersten Lage zu stehen und als deren Schutz zu dienen (vgl. 2Mo 36,14.19, wo die Decke aus Ziegenhaar als „Zelt über der Wohnung“ und die beiden anderen einfach als „Decke“ bezeichnet werden). In dem Gebrauch dieser unterschiedlichen Wörter liegt zweifellos eine Bedeutung. Die unterste Decke bzw. Wohnung mit ihren vielfältigen Farben und den Cherubim aus Kunstweberarbeit war weitaus kunstvoller als alle anderen. Wie wir teilweise schon gesehen haben, spricht sie auf eine sehr umfassende Weise von unserem Herrn Jesus. So stellt Ihn diese erste Decke, die eigentliche Wohnung, in einer Weise dar, zu der die übrigen Decken in einem ergänzenden Verhältnis stehen. Wir werden das klarer sehen, wenn wir uns näher mit ihnen beschäftigen.
Das Wort für „Teppich“ lautet im Hebräischen Yerioth, und ist von einem Wort abgeleitet, das „zittern“ oder „schwingen“ bedeutet, wie es hängende Teppiche tun. Ein ähnliches Wort mit einer vergleichbaren primären Bedeutung ist das Wort für „Furcht“. Wie treffend beschreiben diese Gedanken den Herrn Jesus, wie Er hier auf der Erde lebte. Er war der Abhängige, der sich nicht auf seine eigene, Ihm innewohnende Kraft verließ, sondern der sich immer auf seinen Vater warf. Er war vollkommen gehorsam, weil Er vollkommen abhängig vom Willen Gottes war. Ja, Ihn kennzeichnete die wahrhaftige „Furcht“ des Herrn. Stets wurde Er durch das geringste Wehen des Geistes bewegt. Aus der Sicht des Menschen war Er durch völlige Schwachheit gekennzeichnet, weil Er keinen Willen außerhalb der vollkommenen Unterwerfung unter Gott besaß. Und genau dadurch offenbarte sich in Ihm das ganze Wesen Gottes: einerseits in Bezug auf die Sünde, die Welt und Satan, andererseits gab Er auf diese Weise Gottes Gedanken und Wege der Barmherzigkeit oder auch des Gerichts in Bezug auf den Menschen in vollem Umfang Ausdruck.
Das Wort „Teppich“ ist im Hebräischen feminin, und wenn es heißt, dass „einer an den anderen“ zusammengefügt werden sollte, steht dort wörtlich „eine Frau zu ihrer Schwester“ (2Mo 26,3; 3Mo 18,18). Auch dieses Detail steht in Einklang mit dem Platz der Niedrigkeit, Abhängigkeit und Unterwerfung, den unser Herr einnahm und beibehielt.
Kehren wir nun zu den Maßen der innersten Decke zurück, um ihre Bedeutung zu erfassen. Wenn es in Bauwerken eine Symmetrie geben soll, ist es unerlässlich, präzise Messungen vorzunehmen und dazu bedarf es einer Maßeinheit. In der Heiligen Schrift ist dieser Maßstab die Elle, Hebräisch „Ammah“, das von einem Wort abstammt, welches „Mutter“ bedeutet. Es war die Länge des „Mutterarms“, d. h. des Unterarms, dem vordersten und markantesten Teil des Arms. Er reicht vom Ellbogen bis zur Fingerspitze und wird bei allen Arbeiten eingesetzt. Es war also ein Maß, das vom Menschen und nicht von höherer Stelle stammte. Die Anforderungen Gottes sind völlig nachvollziehbar und gerecht und gehen nicht über das menschliche Fassungsvermögen hinaus.
Trotzdem ist es so, dass nicht einer der gefallenen Söhne Adams diesem vollkommenen menschlichen Maßstab gerecht geworden ist: „Alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes“ (Röm 3,23). Und doch ist die Wonne Gottes bei den Menschenkindern (Spr 8,31) und die himmlische Stadt wird mit dem Maß eines Menschen vermessen (Off 21,17). Wenn Gott in irgendeinem Maß von seinen Geschöpfen erfasst werden soll, dann nicht in jener unaussprechlichen Herrlichkeit und Unendlichkeit, die keiner kennt außer dem Sohn, sondern in dem, der sich selbst erniedrigt hat und in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden wurde (Phil 2,7). Wie wunderbar! Gott offenbart sich im Fleisch, und wir sind dazu eingeladen, den Maßstab (der in unseren Händen liegt und der uns insofern verurteilt hat, als dass wir die Herrlichkeit Gottes nicht erreichen) auf Ihn anzuwenden, um zu sehen, wie vollkommen Er den Anforderungen Gottes entsprochen hat.
So werden wir bei der Maßeinheit der Teppiche an die Menschwerdung unseres Herrn erinnert. Er war und ist Gott, aber Er ist jenes ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde, sodass Johannes sagen konnte: „Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir angeschaut und unsere Hände betastet haben“ (1Joh 1,1)
Wird etwas gründlich vermessen, umfasst es jede Richtung und so sehen wir, dass die Teppiche sowohl der Lange als auch der Breite nach vermessen wurden.
Die „Länge“ steht für die Ausdehnung und wir können sie gut mit dem gesamten Lebenslauf verbinden. Tatsächlich wird das Wort in diesem Sinn in der Schrift verwendet, denn die Wendung „Länge der Tage“ (vgl. z. B. Ps 21,5) ist ein bekannter Ausdruck.
Das Wort für „Breite“ geht seiner Wurzel nach auf die Bedeutung „geräumig“ oder „weitläufig“ zurück. Es wird durchweg dann verwendet, wenn von den Maßen der Stiftshütte und des Tempels gesprochen wird. Was den Tempel betrifft, gilt das sowohl für den zur Zeit Salomos als auch den zukünftigen Bau, den Hesekiel beschreibt. Wir sind aber auch mit der sinnbildlichen Verwendung dieses Wortes vertraut. So hatte Salomo eine große Weite (wörtlich „Breite“) des Herzens (1Kön 5,9): „Und ich werde wandeln in weitem Raum; denn nach deinen Vorschriften habe ich getrachtet“ (vgl. auch Ps 119,45, Jes 60,5, Ps 81,10, Ps 119,32).
Im negativen Sinne wird das Wort für Stolz verwendet: „Wer stolzer Augen und hochmütigen („breiten“) Herzens ist“ (Ps 101,5; Spr 21,4; 28,25).
Die „Breite“ deutet also auf den Charakter des Lebens und die damit verbundenen Umstände hin. Angewendet auf den Herrn, würde die „Länge“ den vollständigen Lebenslauf und die „Breite“ den Charakter und die Lebensumstände andeuten, in denen es sich entfaltete.
Was waren nun die Maße dieser Teppiche? Sie waren vier Ellen breit und achtundzwanzig Ellen lang. Vier ist die Zahl der Erde. Die Schrift spricht von den „vier Ecken der Erde“ (Jes 11,12). Das vierte Buch der Bibel, 4. Mose, spricht von der Wüstenreise und der Erprobung des Volkes Gottes. Wir haben gesehen, wie die vier Evangelien unseren Herrn als den vollkommenen Menschen darstellen, wie Er in jeder Hinsicht erprobt wurde. Darauf ist an anderer Stelle ausführlich eingegangen worden7 und deshalb genügt es an dieser Stelle zu sagen, dass vier die Zahl ist, die von der Erde, der Schöpfung, der Erprobung und von Schwachheit spricht. Wenn das Geschöpf geprüft wird, offenbart es Schwäche und allzu oft Versagen. Wenden wir nun die Bedeutung dieser Zahl auf unseren Herrn an, um zu sehen, inwiefern sie zu seinem Leben passt, und worin nicht.
Zunächst einmal ist es die Zahl der Erde, der Schöpfung. Wie wir bereits gesehen haben weist sie auf die menschliche Natur unseres Herrn hin und nicht auf seine Gottheit. Sie spricht von Ihm, wie Er auf der Erde wandelte – was wir mit der Breite des Teppichs verbinden dürfen.
Die Zahl vier spricht jedoch auch von Schwachheit – und wie deutlich sehen wir sie bei unserem Herrn! Wer hätte gedacht, dass der Sohn Gottes in der Weise als Mensch auf die Erde kommen würde, wie Er es getan hat? Was finden wir auf der Suche nach dem „Sohn des Höchsten“ (Lk 1,32), den die Engel loben? Das schwächste aller Wesen: „ein Kind, . . . , in Windeln gewickelt“ (Lk 2,12) – was für ein Zeichen der Hilflosigkeit ist es für den, der sich in Licht hüllt wie in ein Gewand (Ps 104,2). Nun liegt er in Gesellschaft von Tieren „in einer Krippe“! O Herr der Herrlichkeit, lass das ganze Universum in Anbetung vor dir niederfallen, der du dich so erniedrigt hast!
Wenn wir den Herrn durch sein ganzes Leben begleiten, finden wir die Kennzeichen dieser Schwachheit (diese Zahl der Erde) immer wieder. „Die Füchse haben Höhlen, und die Vögel des Himmels haben Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er das Haupt hinlege“ (Mt 8,20). Wir lesen nie, dass Er ein Wunder tat um sich selbst zu helfen – Er, der vollkommen Abhängige, verwandte sich und seine Macht freiwillig und überreich für andere. Er sättigt 5.000 Männer mit ein paar Broten, verwandelt jedoch nicht einen einzigen Stein für sich selbst in Brot.
Darüber hinaus redet die Zahl vier auch von Versuchung, Erprobung und Prüfung. Die Erde ist der Ort, an dem der Mensch erprobt wird und welch eine Schwachheit, welch ein Versagen kommt zum Vorschein. Niemand ist je so vollständig geprüft worden wie unser geliebter Herr. Das gilt nicht nur für die vierzig Tage und den besonderen Versuchungen Satans, die diese Zeit abschlossen. Er ertrug sein ganzes Leben lang den „Widerspruch von den Sündern gegen sich“ (Heb 12,3). So spricht dieses Maß von vier Ellen Breite vom Menschen, der schwach ist, versucht und geprüft wird – ja, es spricht von Ihm, der „Mitleid zu haben vermag mit unseren Schwachheiten“ und „der in allem versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde“ (Heb 4,15).
Die Länge dieser Teppiche betrug achtundzwanzig Ellen. Teilen wir diese Zahl in zwei Faktoren auf, erhalten wir 4 x 7. Wie wir gerade gesehen haben ist Vier die Zahl der Erde und Schwachheit. Sieben ist die vielleicht bekannteste Zahl überhaupt. Sie spricht von Vollständigkeit und Vollkommenheit. So besteht beispielsweise eine vollständige Woche aus sieben Tagen. Weitere Bespiele dafür sind die sieben fetten und mageren Kühe aus dem Traum des Pharao (1Mo 41,1-8) und die verschiedenen Siebenerreihen im Buch der Offenbarung. Sieben mal vier legt den Gedanken nahe, dass Prüfung, Erprobung und Schwachheit in unserem Herrn nur der Anlass für die Offenbarung seiner Vollkommenheit waren.
Beachten wir, dass die Sieben nicht zu der Vier addiert wird, als sei sie etwas davon Getrenntes, Eigenständiges. Nein, sie wurde mit der Zahl Vier multipliziert. Schwachheit und Abhängigkeit stellten vollkommen dar, was Er war. Er war nicht nur trotz der Versuchung vollkommen, sondern vollkommen in der Versuchung. Sieh, wie Satan versuchte, Ihn von dem Platz der Abhängigkeit weg zu bewegen, indem er Ihn drängte, aus Steinen Brot zu machen. In solchen Umständen ein Wunder zu vollbringen, hätte bedeuten können, die Sieben zu der Vier zu addieren. Dadurch wäre jedenfalls seine Macht zum Ausdruck gekommen.
Stattdessen sehen wir Vollkommenheit in Schwachheit und Abhängigkeit. Er hätte ebenso seine übernatürliche Kraft zeigen können, indem Er sich von der Spitze des Tempels gestürzt hätte, doch zeigte sich die Vollkommenheit des Gehorsams darin, dass Er es ablehnte, den Herrn, seinen Gott, zu versuchen. Als Er sich weigerte, sich vor Satan zu beugen, der Ihm doch alle Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeit angeboten hatte, könnten wir erwarten, dass Er diesen Feind Gottes und des Menschen dazu zwang, Ihn als Schöpfer und Herrn anzuerkennen, denn das war Er. Stattdessen sehen wir, wie sich die Vollkommenheit weiter in Niedrigkeit äußert, denn Er wird selbst anbeten, und darin die Huldigung der ganzen Schöpfung anführen: „Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen“ (Mt 4,10).
Wo immer wir unseren Herrn in seinem Leben auf der Erde auch betrachten, begegnen wir diesem Kennzeichen. Ermüdet von der Reise setzt Er sich an der Quelle Sichars nieder und bittet die Frau, die dorthin gekommen war, um zu schöpfen, um etwas zu trinken (Joh 4). Hier haben wir die Zahl vier – Schwachheit und Abhängigkeit. In dem herzerforschenden Gespräch zeigt Er ihr jedoch all ihre Sünden und stellt sich selbst als der Christus vor. Wir sehen die Sieben (d. h. Vollkommenheit) in Verbindung mit dem niedrigen Platz, den Er eingenommen hatte. Es ist auffallend, wie unser Herr durch das gesamte Johannesevangelium hindurch auf seine Unterwerfung unter den Vater Nachdruck legt, dem Evangelium, das uns wie kein anderes seine Vollkommenheit vorstellt.
Ein anderes Mal sehen wir Ihn im hinteren Teil des Schiffes schlafen, während die Jünger über den See fahren (Mt 8,24-26). Als Er von seinen geängstigten Jüngern geweckt wird, steht Er jedoch auf, nimmt ihre Ängste und bringt den Sturm zum Schweigen – um ihretwillen, denn Er selbst konnte in der Fürsorge seines Vaters ruhen und schlafen, während der Sturm tobte. In den Evangelien wird er durchweg so gesehen: abhängig, gehorsam, versucht – doch in allem vollkommen.
Die beständige Abhängigkeit im Gebet veranschaulicht dieselbe Tatsache. Was könnte schöner sein, als zu sehen, wie unser Herr in jeder Lebenslage sein Herz dem Vater ausschüttet? Sein ringender Kampf in Gethsemane (und wenn wir darüber etwas sagen, möchten wir es vorsichtig tun) zeigt eine Vollkommenheit, die vollkommen menschlich ist, die aber niemand sonst je besessen hat. In 2Kor 13,4 heißt es, dass Er „in Schwachheit gekreuzigt“ wurde – welche Vollkommenheit sehen wir so in jedem Teil dieses furchtbaren Leidens! In der Tat ist der Teppich achtundzwanzig Ellen lang: Die ganze „Länge“ seines Lebens offenbarte absolute Vollkommenheit in völliger Abhängigkeit.
Die Teppiche wurden in zwei Feldern zu jeweils fünf zusammengefasst – insgesamt waren es also zehn. Die Zahl fünf steht für die Fähigkeit des Menschen. So haben wir vier Finger und den Daumen an einer Hand, was für beide Hände insgesamt zehn ergibt. Die Zehn erinnert uns an die zehn Gebote, das Maß der vollen Verantwortung des Menschen. Die zehn Gebote waren auf zwei Tafeln niedergeschrieben und zeigten die Verantwortung des Menschen gegenüber Gott und Menschen8. Die beiden Teppichfelder versinnbildlichen diese zweifache Verantwortlichkeit, welcher unser Herr entsprochen hat. Sieh auf seine Beziehung zu Gott: Mangelte es hier zu irgendeinem Zeitpunkt an etwas? Das Zeugnis unseres Herrn darüber lautet, dass Er allezeit das Ihm Wohlgefällige tat (Joh 8,29), das Zeugnis des Vaters erging aus der prachtvollen Herrlichkeit mit den Worten „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe“ (Mt 3,17) und schließlich haben wir das des Heiligen Geistes, der Ihn salbte und auf Ihm blieb.
Wir können jedes der ersten vier Gebote auf Ihn anwenden, und trotz unseres unvollkommenen Verständnisses kommen wir nicht umhin, hier die vier und die achtundzwanzig Ellen zu sehen.
„Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ (2Mo 20,3). Wie wunderbar hat dies jede Handlung des erniedrigten Menschen gezeigt. Gottes Vorstellung in Bezug auf dieses Gebot entfaltete sich in Ihm, stets war es Gott, der seine Gedanken erfüllte.
So gab es nie die geringste Hinwendung zu dem im zweiten Gebot verbotenen Götzendienst, der in irgendeiner Ausprägung von jedem Menschen praktiziert worden ist. Habsucht ist Götzendienst (Kol 3,5). Hier war einer, der in der ganzen Kraft seiner heiligen Seele sagen konnte: „Die Mess-Schnüre sind mir gefallen in lieblichen Örtern; ja, ein schönes Erbteil ist mir geworden“ (Ps 16,6).
Und es war in diesem Zusammenhang, dass er die Worte sprach: „Zahlreich werden die Schmerzen derer sein, die einem anderen nacheilen; Ihre Trankopfer von Blut werde ich nicht spenden und ihre Namen nicht auf meine Lippen nehmen“ (Ps 16,4). Wie sehr stand das alles im Gegensatz zu Israel, dem geboten worden war: „Und den Namen anderer Götter sollt ihr nicht erwähnen, er soll in deinem Mund nicht gehört werden.“ (2Mo 23,13). Wer würde auch nur einen Augenblick daran denken, den Namen unseres Herrn Jesus mit dem geringsten Akt der Untreue zu seinem Gott und Vater in Verbindung zu bringen?
„Du sollst den Namen des Herrn deines Gottes, nicht zu Eitlem aussprechen“ (2Mo 20,7). Ach, eins der bösen Dinge, die aus dem menschlichen Herzen hervorkommen, ist Gotteslästerung. Der Name des Vaters war immer auf den Lippen unseres Herrn, jedoch nie in leichtfertiger Weise. Er lehrte und praktizierte in absoluter Vollkommenheit die Bitte „Geheiligt werde dein Name“ (Lk 11,2). Das gleiche gilt für das Bezahlen von Gelübden: Niemand hatte je seine Verpflichtungen und Versprechungen Gott gegenüber erfüllt. Deshalb warnte unser Herr sie davor, Eide auf sich zu nehmen, die sie nicht erfüllen konnten (Mt 5,33-37). Er aber konnte sagen.
„Auf mir, o Gott, sind deine Gelübde“ (Ps 56,13); „Ich will dem Herrn meine Gelübde bezahlen, ja, in der Gegenwart seines ganzen Volkes“ (Ps 116,14). Und was für Gelübde waren das! Gott im Hinblick auf Sünde zu verherrlichen, das Verlorene zu suchen und zu erretten (Lk 19,10), die ewigen Grundlagen der Erlösung tief, sicher und breit zu legen, viele zur Herrlichkeit zu bringen (Heb 2,10). Wenn wir über den Preis der Erfüllung dieser Gelübde nachdenken, führt uns das zur Anbetung dessen, der nie ein übereiltes Gelübde ablegte, noch eine einzige Verpflichtung brach, die Er seinem Gott und Vater gegenüber einging.
„Gedenke des Sabbattages, ihn zu heiligen“ (2Mo 20,8). Die Pharisäer beschuldigten ihn wiederholt, den Sabbat gebrochen zu haben, weil er an diesem Tag Kranke heilte. Er überführte sie nicht nur der Heuchelei, schließlich würden sie am Sabbat einen Ochsen aus einem Brunnen ziehen, sondern zeigte auch, worin die wahre Ruhe Gottes besteht – die Menschen von den Folgen der Sünde zu befreien. Diese so genannten Sabbatverstöße waren moralisch die schönste und vollkommenste Einhaltung des Gebots.
Egal welches Gebot der ersten Gesetzestafel wir nehmen – je mehr wir ins Detail gehen, desto klarer entfaltet sich seine absolute Vollkommenheit als Mensch. Indem Er Gott in jeder Beziehung verherrlichte, atmete Sein Herz stets: „Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine Lust“ (Ps 40,8). Hier, in dem Allerheiligsten des Herzens und Lebens Christi, gab es tatsächlich eine passende Wohnung für die Herrlichkeit Gottes.
In den Anweisungen wird uns mitgeteilt, dass der Vorhang unter die Klammern aufgehängt wurde, die die beiden Teppichfelder vereinigte (2Mo 26,33). Dementsprechend bedeckte ein Feld aus fünf Teppichen das Allerheiligste (wobei wahrscheinlich ein Teil davon an der Rückseite der Stiftshütte überhing) und das andere das Heilige. Es ist nicht abwegig anzunehmen, dass der Teil, der das Allerheiligste bedeckte, die Vollkommenheit unseres Herrn in aller Verantwortlichkeit gegenüber Gott versinnbildlicht und der Teil, welcher das Heilige bedeckte auf die Verantwortlichkeit gegenüber Menschen hinweist. Wir wollen nun auch etwas bei diesem letzten Teil stehenbleiben.
Die Grundlage jeder rechten menschlichen Beziehung ist der Gehorsam gegenüber dem ersten Gebot der zweiten Tafel: „Ehre deinen Vater und deine Mutter“ (2Mo 20,12). Deshalb sehen wir bei unserem Herrn, wie er diese Unterwürfigkeit vollkommen verwirklichte: „Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth, und er war ihnen untertan“ (Lk 2,51). Wie viel ist in diesen einfachen Worten enthalten und wie vollkommen war Er in dieser grundlegenden Verantwortung. Es ist nicht verwunderlich, dass als er an Gestalt zunahm, er auch „an Gunst bei Gott und Menschen“ zunahm.
Das bedeutet, dass sein ganzes Wachstum gut war und sich keine enttäuschenden Charakterzüge offenbarten – denn es gab keine: Alles war sowohl Gott als auch den Menschen wohlgefällig.
Wenn wir so jedes dieser Gebote der zweiten Gesetzestafel ansehen, stellen wir fest, dass unser Herr nicht nur die geforderte Gerechtigkeit in seinem Leben erfüllte, sondern darüber hinaus ging. Voller Begierde streckt sich der Mensch nach dem aus, was ihm nicht gehört und reißt es an sich, wobei er selbst vor Diebstahl nicht zurückschreckt. Im Gegensatz dazu steht unser Herr, von dem wir in Psalm 69,5 lesen „Was ich nicht geraubt habe, muss ich dann erstatten“. Er, der fleckenlose und reine, brachte armen Kindern der Sünde und Schande sowohl Frieden als auch Vergebung. Mochten die Menschen auch falsches Zeugnis ablegen, verkündigte er doch die ernste Wahrheit, egal wie schwer es war, und legte ein treues Zeugnis von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes ab. Als Schöpfer und Besitzer aller Dinge, hatte er nicht, wohin er sein Haupt legen konnte, und murrte dennoch nie.
Wir könnten davor zurückschrecken, diese Verbote auf ihn anzuwenden, als ob es nötig gewesen wäre, ihm Einhalt zu gebieten. Was im Menschen unterdrückt werden muss, existierte in Ihm nicht. Stattdessen bestand das Gesetz im Inneren seines Herzens. Deshalb war das Gesetz (innerhalb seiner Grenzen) ein Abbild seines vollkommenen Charakters – nicht nur in seinen äußeren Forderungen, sondern auch in seiner inneren und tiefgeistlichen Anwendung.
Aber Er ging über die reine Erfüllung der zweiten Gesetzestafel hinaus. Es heißt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, aber Er liebte seine Feinde bis zur Hingabe seines Lebens. Er war in der Tat der Nächste der Bedürftigen der ganzen Welt – ein „Freund von . . . Sündern“ (Lk 7,34). So zeigte jede Verantwortlichkeit gegenüber Gott und Menschen, der Er entsprach, seine Vollkommenheit. Wenn wir uns daran erinnern, dass das Gesetz, das durch Ihn geehrt und geziert wurde, dazu dient, das Beste der Menschheit von Sünde zu überführen, ist seine sündlose Vollkommenheit nur umso offensichtlicher. Das, was „die Kraft der Sünde“ (1Kor 15,56) in uns ist, war der Beweis der Gerechtigkeit in Ihm. Rufen wir uns einmal mehr ins Gedächtnis, dass diese ganze Vollkommenheit menschlich war: Es war ein Vielfaches von vier. Schwachheit, Abhängigkeit und Unterwürfigkeit bildeten den Hintergrund, auf dem sich alle Schönheiten seiner unvergleichlichen Wesensart zur Geltung kamen.
Die zehn Teppiche hatten ein „Maß“. Dieses Wort bedeutet ausdehnen, strecken und damit die Anwendung als Standard. Es ist ein treffendes Bild von dem Leben des Herrn, denn jeder Teil desselben entsprach einem unveränderlichen Standard. Nichts war unverhältnismäßig. In jeder Handlung und in Verbindung mit jeglicher Person entfaltete sich die gleiche Vollkommenheit in Schwachheit.
Sehen wir uns jedes einzelne der zehn Gebote an, könnten wir nicht behaupten, dass eins vollständiger gehalten wurde als das andere. Es ist diese Unausgeglichenheit des Charakters, die die Untauglichkeit des Menschen vor Gott und die Notwendigkeit einer neuen Geburt zeigt. Auch wenn es so aussieht, als ob jemand das ein oder andere der Gebote hielte, kommt er doch der Herrlichkeit Gottes in allen zu kurz: „Denn wer irgend das ganze Gesetz hält, aber in einem strauchelt, ist aller Gebote schuldig geworden“ (Jak 2,10). Wir müssen uns also sowohl was die Errettung als auch die Heiligung betrifft, ganz von uns selbst abwenden. Christus ist die einzige Hilfsquelle. Hier finden wir das eine Maß für jede Tat. Gottes Herrlichkeit war der Test, und diese Herrlichkeit zeigte sich überall in Vollkommenheit. Er war in dem Verurteilen der Sünde und der Heuchelei nicht vollkommener als im Vergeben und Heilen sündenkranker Seelen. Gnade verdunkelte nicht Gerechtigkeit noch Gerechtigkeit Gnade. Geduld war immer mit Unverzüglichkeit verbunden, Festigkeit mit Milde.
Ja, er erschließt uns jede Gnade, die Gott als Mensch hier zeigen konnt‘, Ein göttlich Leben ward gesehen in Ihm, in Dem die Fülle wohnt.
Das führt uns schließlich dazu, die Art und Weise zu betrachten, in der diese beiden Teppichfelder miteinander verbunden wurden. Das Wort für Zusammenfügung ist aufschlussreich. Es stammt von derselben Wurzel wie „Hebron“, was Freundschaft oder auch Gemeinschaft bedeutet. Auch das weist uns auf die völlige Einheit des Wesens unseres Herrn hin. Das Verlangen des Psalmisten „einige mein Herz zur Furcht deines Namens“ (Ps 86,11) fand in Ihm vollkommene Verwirklichung. Wie wir bereits gesehen haben ist das Wort für „Teppiche“ eng mit dem Wort „fürchten“ verbunden, sodass wir hier diese Einigkeit in der Furcht Gottes sehen, wie sie unser Herr vorgelebt hat.
Es ist auch erwähnenswert, dass die Teppiche an ihren Seiten und nicht an den Enden zusammengefügt wurden. So waren sie parallel zueinander und dehnten sich in die Breite aus. Bezogen auf den Herrn zeigt dies, dass es keine aufeinander folgenden zeitlichen Abschnitte gab, in denen sein Leben in neue oder bisher unbekannte Anforderungen des Willens Gottes eintrat. Der Weg öffnete sich vor ihm, er machte neue Erfahrungen in dieser Welt der Wüste, doch fand sich bei ihm stets die volle Verantwortung vollkommener Liebe Gott und den Menschen gegenüber vom Anfang bis zum Ende. Vielleicht können wir es so sagen: Sein ganzes Leben hindurch wandelte Er in Übereinstimmung mit allen zehn Geboten.
Die Schrift schweigt in Bezug auf die Frage, wie die einzelnen Teppiche miteinander verbunden wurden. Möglicherweise wurden sie zusammengenäht, aber es wird uns nicht mitgeteilt. Worauf jedoch unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird ist die Art und Weise, wie die beiden Teppichfelder miteinander verbunden wurden. Zweifellos wird die darin unterstrichene Belehrung bereits zu einem guten Teil in dem enthalten sein, was wir in den übrigen Stücken vor uns hatten.
Liegt nicht ein Grund für diese Anordnung darin, dass der Mensch so leicht zwischen seiner Verantwortung Gott und den Menschen gegenüber trennt? Wir sehen das in allen natürlichen Religionen. Gott ist aus dem Bereich des täglichen Lebens ausgeschlossen. Die Pflichten gegenüber dem Nächsten, die Verantwortung im Haus und Geschäft sind Dinge, um die wir uns selbst kümmern müssen. Weder der Wille noch die Hilfe Gottes werden hier miteinbezogen, einmal abgesehen von Ansprüchen allgemeiner Art wie Ehrlichkeit, Moral und Selbstlosigkeit.
Die Antwort des Herrn gegenüber dem Gesetzgelehrten (Lk 10,25ff.) legt diesen Gedanken im Herzen des Menschen offen. Zu Recht hatte der Gesetzgelehrte geantwortet, dass das Gesetz vollkommene Liebe zu Gott und zu dem Nächsten fordert. Wie schade, dass er trotz dieser Erkenntnis noch immer dachte, das ewige Leben durch das ererben zu können, was er noch nie getan hatte und auch nie tun könnte, denn durch Gesetz kommt zwar Erkenntnis der Sünde (vgl. Röm 3,20), nicht aber die Kraft es zu halten. Anstatt seine Sünde einzuräumen und sich selbst auf die Gnade Gottes zu werfen, heißt es: „Da er aber sich selbst rechtfertigen wollte, sprach er zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?“. Merkst du, wie er jede Bezugnahme auf Gott, und damit der ersten Gesetzestafel, übergeht? Gott ist so weit weg, unsichtbar und unbekannt, kann es da nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass er ihn liebt und ihm dient? Wenn er seine Nächsten jetzt noch auf ein paar sympathische Freunde beschränkte gegenüber denen er seine mitmenschlichen Pflichten erfüllte, durfte er dann nicht die berechtigte Hoffnung haben sich das ewige Leben zu verdienen? Nach Ansicht des Gesetzgelehrten gab es also offensichtlich kaum eine Verbindung zwischen den beiden Teppichfeldern.
Im Allgemeinen ist diese Haltung unter den Menschen nur zu verbreitet. Wenn ein Mensch seine Mitmenschen liebt, dann liebt er auch Gott. Das wird als das wahre Evangelium angesehen und diese „goldene Regel“ wird bereitwillig als eine Regel akzeptiert, die man umsetzen kann – so wird Gott seines Anspruchs auf seine Geschöpfe beraubt. Stattdessen heißt es in der Schrift: „Dieses Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebe“ (1Joh 4,21). Das kehrt das Denken des Menschen ins Gegenteil und gibt Gott seinen rechtmäßigen Platz der Oberhoheit und Herrschaft, bzw. erkennt an, dass Ihm dieser Platz zukommt.
Bei unserem Herrn gab es im Gegensatz dazu eine derartige Trennung der Verantwortlichkeiten nicht. Ebensowenig verlor er auch nur für einen Moment aus dem Auge, dass er vom Himmel herabgekommen war, nicht um seinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der ihn gesandt hatte (vgl. Joh 6,38). Wir werden dies an der Art und Weise sehen, wie die beiden Teppichfelder miteinander verbunden wurden. „Looloth“ (Schleifen) leitet sich dem Wortstamm nach von „rollen“ ab. Über die Funktion und den Sinn dieser Schleifen müssen wir nicht lange nachdenken. Möglicherweise deutet das Wort auf die runde Form einer Öse hin, in die der Haken gehängt wurde, ohne dabei in den Stoff der Teppiche selbst einzudringen. Letztere blieben unversehrt, und jeder einzelne war vollkommen. Die „Schleife“, die zusätzlich an ihnen befestigt war, bildete eine Ergänzung in dem Sinne, dass das Mittel zur Vereinigung des einen Teppichfelds mit dem anderen das Muster der Teppiche nicht unterbrach.
Wie sehr erinnert uns dies an unseren Herrn! Seine Liebe zu den Menschen war so allumfassend, als ob sein ganzes Leben damit ausgefüllt wäre, sodass sogar der Unglaube gezwungen war, die Schönheit seines menschlichen Charakters anzuerkennen. So war es und verglichen mit den Menschen ist er der ideale Mensch – und ist doch so viel mehr als das! In gleicher Weise war seine Liebe zu Gott ebenso absolut, als ob es keinen Menschen gäbe. Er ragt als der zweite Mensch hervor, für den Gott alles war. Am „Saum“ des äußersten Teppichs eines Felds waren die blauen Schleifen angebracht, um uns an die Absicht Gottes zu erinnern, dass es eine göttlich gebildete Verbindung zwischen der Verantwortung gegenüber Ihm und gegenüber seiner Schöpfung, dem Menschen, gibt. Wir können uns unseren Herrn nicht so vorstellen, dass er an den Menschen denkt und Gott darüber vergisst, noch umgekehrt. Er war weder ein Einsiedler noch ein bloßer Philantrop (Menschenfreund).
Wie wir gesehen haben waren die Schleifen blau – die Farbe des Himmels. So kennzeichnete die Tatsache, dass Er vom Himmel war, im Himmel lebte und zum Himmel zurückkehren würde sein ganzes Leben des Gehorsams. Das Zeichen des Himmels war auf allem. Auf dem, was von seiner vollkommenen Liebe und seinem Gehorsam gegenüber Gott sprach, waren die blauen Schleifen, um zu zeigen, dass diese Liebe und dieser Gehorsam mit einem Leben auf der Erde vereint werden sollten, in dem sich die Verantwortlichkeiten dieses Lebens mit seinem Dienst für Gott verschmelzen würden. So zeigen die blauen Schleifen des zweiten Teppichfelds, dass alles eins war mit seiner Hingabe an Gott.
Kein Leben war jemals so vollkommen Gott geweiht wie das seine: Herz, Seele, Geist und Kraft – alles stellte er stets in den Dienst für Gott. Doch diese Hingabe machte ihn nicht zu einem Einsiedler. Es verbietet sich jeder Gedankenanflug in Richtung eines egoistischen Mönchtums, mit dem die menschliche Selbstgerechtigkeit den Namen des Christentums verbunden hat. Er liebte seinen Vater vollkommen, was gleichzeitig der Beweis seiner vollkommenen Liebe zu den Menschen war. Keine Hand und kein Herz waren so mit Liebe und Arbeit für den Menschen ausgefüllt wie die seinen, aber es war nichts Sentimentales oder bloß Wohltätiges daran. Über allem lagen die blauen Schleifen, die alles mit dem Willen seines Vaters verbanden. Er wirkte viele Wunder: Blinde erhielten ihr Augenlicht, Aussätzige wurden gereinigt, Lahme gingen umher, Tote wurden auferweckt (Mt 11,5), aber wir dürfen in Bezug auf diese Werke der Liebe und Kraft gegenüber den Menschen nicht denken, dass sie sich darin erschöpften. Er offenbarte die Werke, die der Vater ihm zu tun gab: „Ich muss die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat“; „Der Vater aber, der in mir bleibt, er tut die Werke“ (Joh 9,4; Joh 14,10).
Hier sehen wir den wahren „Nächsten“, dessen Liebe zu den Menschen immer im Gehorsam zur Liebe seinem gegenüber Gott stand. Dieser Gedanke wird noch verstärkt durch die Anzahl der Schleifen sowie die Klammern aus Gold, welche beide Felder miteinander verbanden. Es waren jeweils fünfzig, d. h. 5 x 5 x 2, was wir mit einer vollen, ja, verstärkten Verantwortlichkeit verbinden möchten, wenn wir an die Multiplikation der beiden Fünfen denken. Das Ganze mal zwei, als ob wieder die beiden Seiten, die menschliche und die göttliche, hervorgehoben werden sollten – und damit ein vollkommenes Zeugnis der Erfüllung aller Forderungen durch Ihn. Oder sind darin eher die Faktoren 10 x 5 zu sehen? Nun, auch dann bleibt der Gedanke bestehen, denn die Faktoren sind gleich. In seiner Hingabe an Gott atmete die Liebe zu den Menschen, die den stets kennzeichnete, dessen „Wonne bei den Menschenkindern“ lag. So stand kein Gehorsam zu einem Gebot für sich allein, sondern war mit allen anderen verbunden. Es war ein Gewand ohne Naht.
Und ist nicht genau das allein der Gehorsam, den Gott annehmen kann? „Denn wer irgend das ganze Gesetz hält, aber in einem strauchelt, ist aller Gebote schuldig geworden“ (Jak 2,10). Um irgendeine wahre Gerechtigkeit zu erlangen, muss sie vollständig sein, denn alles andere ist bruchstückhaft und gleicht einem unflätigen Kleid, selbst wenn es soweit geht, alle Habe zur Speisung der Armen auszuteilen oder seinen Leib hinzugeben, damit er verbrannt würde (vgl. 1Kor 13,3). Hier, wie überall, ruft alles laut nach Christus, dem einzigen, der einen solchen Gehorsam leisten und Gott verherrlichen konnte.
Dieser Gedanke der Verherrlichung Gottes wird durch die fünfzig goldenen Klammern oder Haken veranschaulicht, die die Schleifen miteinander verbanden9. Wie wir später noch sehen werden, steht Gold für göttliche Herrlichkeit. Diese stand stets vor unserem Herrn, denn sein einziger Wunsch bestand darin, dass der Name des Vaters verherrlicht würde (Joh 12,28). „Ich ehre meinen Vater“ (Joh 8,49). „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde (Joh 17,4). Wie deutlich spricht das davon, wie vollkommen frei er von jeder Selbstsucht und jedem Selbstbewusstsein war. Aber erinnert es uns nicht auch daran, dass solch ein Gehorsam zwar menschlich ist, aber mehr als menschliche Kraft benötigt um ihn zu leisten? Kein bloßes Geschöpf konnte ihn leisten – und schon gar kein gefallenes. Die goldenen Klammern erinnern uns daran, dass der vollkommene Charakter, den wir betrachtet haben, nicht nur menschlich, sondern auch göttlich ist. Eine göttliche Person, und doch wahrhaftig ein Mensch, vereinigte in sich selbst allen Gehorsam, alle Liebe zu Gott und Menschen. Dürfen wir nicht sagen, dass an dieser Tatsache das Geheimnis beruht, das im Vorhang gezeigt wird: Gott, offenbart im Fleisch (vgl. 1Tim 3,16)?
Die Gottheit Christi zu leugnen bedeutet also, das Band zu zerstören, das sein Leben zu einer vollkommenen Einheit machte, und nur einen Bruchteil übrig zu lassen, welcher selbst durch falsche Behauptungen befleckt und verunstaltet ist, wäre er nicht tatsächlich der Sohn Gottes. Menschen, die von der Liebenswürdigkeit Jesu, seiner Freundlichkeit, seinen Hilfeleistungen, seinem untadeligen Leben, etc. sprechen und dennoch leugnen, dass er der ewige Sohn Gottes ist, betrügen sich selbst und andere. Diese Klammern aus Gold waren unentbehrlich für die Vereinigung der Teppichfelder zu einem vollkommenen Ganzen. Lässt man sie weg, wird alles verunstaltet. Wer seine Gottheit bewusst und willentlich leugnet, verunreinigt den Tempel Gottes und ist ein echter Feind des Herrn. Aber selbst dort, wo dies nicht der Fall ist, kann das Volk Gottes den wahren Teil der Wahrheit über die wunderbare Person unseres Herrn verlieren, wenn sie es unterlassen, in besonderer Weise die große und herrliche Tatsache vor sich zu stellen: „Das Wort war Gott“ (Joh 1,1). Möge der Heilige Geist seine gesegnete, unvergleichliche Person nicht nur in unseren Gedanken bewegen, sondern in unseren Herzen verankern – Ihn, den Gegenstand unserer Anbetung, Liebe und unseres willigen Gehorsams.
7 Vgl. die Einführung zu Band 1 der Numerical Bible („The Pentateuch“) sowie das Buch „The Numerical Structure of Scripture“ von F.W. Grant für eine umfassende Behandlung dieses wichtigen Themas. Anmerkung des Übersetzers: Im Deutschen ist dazu das Heft „Die symbolische Bedeutung der Zahlen“ vom gleichen Autor erschienen (beim Ernst-Paulus-Verlag erhältlich).↩︎
8 Sehen wir uns an, wie häufig die Zahl zehn und ihr Faktor fünf in der Beschreibung der Stiftshütte zu finden sind. Es gab zehn innere Teppiche (2Mo 26,1) und die Bretter waren zehn Ellen hoch (2Mo 26,16). Außerdem gab es zehn Säulen und zehn Sockel an der West- und Ostseite des Vorhofs (2Mo 27,12). Die Ausmaße des Hofes betrugen 100 x 50. Höchstwahrscheinlich war das Allerheiligste vollkommen würfelförmig zu je zehn Ellen. Es gab 100 Füße aus Silber, d. h. 10 x 10 (2Mo 38,27), die aus dem Sühngeld gebildet wurden, zehn Gera für jeden Mann (2Mo 30,13). Es gab 50 (= 10 x 5) Schleifen und Klammern (2Mo 26,5) sowie fünf Säulen am Eingang des Zeltes (2Mo 26,37). An den drei Seiten der Stiftshütte gab es jeweils fünf Riegel (2Mo 26,26). Der Brandopferaltar war fünf Ellen im Quadrat und die Umhänge des Vorhofs waren fünf Ellen hoch (2Mo 27,18).↩︎
9 Das Wort für Klammern, karsim, stammt von einem Verb, das „beugen“ oder „krümmen“ bedeutet und so in Jesaja 46,1–
2 wiedergegeben wird. Es geht dort um die Erniedrigung der falschen Götter Babylons, die weggeführt wurden. Hier soll die Beugung, bzw. der Haken eine Verbindung schaffen zwischen dem, was Gott und den Menschen zukommt. Stellt es nicht die Gnade dessen dar, der sich selbst erniedrigte, um Gottes Gedanken über den Menschen zu entfalten? Vielleicht finden wir hierin auch eine Andeutung seiner Demütigung, die ihn dazu führte, sich sozusagen mit der Schöpfung zu verbinden, um sie in ewige Harmonie mit ihrem Schöpfer zu bringen.↩︎