Behandelter Abschnitt Hld 7,11
„Ich bin meines Geliebten, und nach mir ist sein Verlangen“ (Hld 7,11).
Das ist, wie wir wohl sagen dürfen, die höchste Note, der reinste Ton in dem Lied der Lieder. Die Seele ist jetzt völlig fertig mit sich selbst, und einzig und allein mit Christus beschäftigt. In ihren Worten drückt sich, nach unserer Meinung, die höchste Vorstellung von Christus aus: Sein Verlangen ist nach mir; Er hat Seine Wonne an mir! Die Gnade hat ihr vollkommenes Werk getan, die Seele ist gegründet in der Gnade; und gerade dies ist die höchste Schönheit an dem Gläubigen, das, woran der Herr Seine besondere Freude findet. Solange eine Seele unter dem Gesetz steht, erreicht sie niemals diesen Platz des Vertrauens, der Ruhe und der ungestörten Freude. Sie vermag eine so hohe Note nicht zu singen. Sie ist mit Zweifeln und Befürchtungen erfüllt. Nicht als ob das Gesetz nicht gut wäre; im Gegenteil: es ist gerecht, heilig und gut.
Aber der Mensch kann es nicht halten; und nun der Gedanke an die Zukunft! Wir können nicht auf ewig auf dieser Erde bleiben. Und wenn wir sie nun verlassen müssen, was dann? Dann kommt der Richterstuhl. Eine finstere Wolke hängt über der Zukunft. Ach, die arme, beunruhigte Seele glaubt nicht, obgleich es klar und deutlich geschrieben steht, dass sie aus Gnaden, mittels des Glaubens, ewiges Leben hat und nicht mehr ins Gericht kommt; sie weiß nicht, dass sie aus dem Tod in das Leben hinübergegangen ist (Joh 5,24).
Die Gnade allein kann die Seele in diesen glücklichen, gesegneten Zustand bringen. Das Gesetz vermag es nicht, weil es alle Übertreter verdammen muss und kein Erbarmen kennt. Überdies, wenn ich Furcht habe, dann habe ich Pein. Aber „die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe“ (1Joh 4,18). Diese „vollkommene Liebe“ gibt sich kund in einer vollkommenen Gnade, und die Gnade allein vermag die Seele zu gründen in der Liebe unseres Gottes und Vaters und unseres Herrn Jesus Christus, und in Seinem auf Golgatha vollbrachten Werk.
Israel sang sein erstes Loblied jenseits des Roten Meeres, wo die Gnade sich in der vollendeten Errettung des Volkes voll und ungehindert offenbarte. In Ägypten vernehmen wir keinen Lobgesang, und noch weniger am Fuß des Berges Sinai, wo das Volk die Donner des Gesetzes hörte. Hier gab es nur Furcht und Zittern. Seit jenem Augenblick ist Israel stets unter dem Gesetz gewesen, und muss es sein, bis sein Messias kommt. (Diejenigen Israeliten, die heute Buße tun und an Jesus gläubig werden, verlassen damit natürlich den jüdischen Boden, werden Glieder des Leibes Christi und erlangen alle die Vorrechte und Segnungen eines gegenwärtigen Heils.)
Die Lage der Juden in ihrer Gesamtheit und besonders als die, die den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt haben, findet ihr treffendes Vorbild in der Lage des „Totschlägers“ unter dem Gesetz., Er war gezwungen, in der Zufluchtsstadt zu bleiben, bis eine Veränderung des Priestertums eintrat (4Mo 35). Erst nach dem Tod des jeweiligen Hohenpriesters durfte er in das Land seines Eigentums zurückkehren. So wird auch Israels volle Befreiung erst kommen, wenn ihr Messias in Seiner Melchisedek-Herrlichkeit erscheinen wird. Dann wird Er sie von dem Druck des Gesetzes befreien, unter dem sie seufzen und leiden, und wird sie erretten aus der Hand aller ihrer Bedränger. Er wird ihnen begegnen entsprechend dem lieblichen Bild in 1Mo 14 und ihre wankenden Herzen erquicken und stärken mit dem Brot und Wein des Reiches. Ihre so lange verblendeten Augen werden dann sich öffnen, um ihren Messias zu sehen, und zu erkennen, dass Er alles für sie ist.
Erfahrungen dieser Art finden wir im Hohenlied nicht. Sie würden nicht im Einklang stehen mit dem Gegenstand des Buches. Der Geist der Prophezeiung macht uns vielmehr mit den Herzensübungen des Überrestes bekannt; es handelt sich um innere Gefühle, Zuneigungen und Erfahrungen, so wie in den Psalmen die Übungen des Gewissens im Vordergrund stehen, durch die der Überrest am Ende der Tage gehen wird.
Wir erinnern uns, dass die Braut in Hld 2,16 ihrer Freude darüber Ausdruck gab, dass sie den Messias gefunden hatte, dass sie Ihn besaß: „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein“. In Hld 6,3 hatte ihre Erfahrung schon einen höheren Grad erreicht; ihr Herz fand süße Genugtuung und Befriedigung in dem Bewusstsein, dass sie Ihm angehörte: „Ich bin meines Geliebten, und mein Geliebter ist mein“. In dem vorliegenden Vers aber gelangt sie zu dem Gipfelpunkt in den Erfahrungen einer Seele; sie ruht in der seligen Gewissheit, dass Sein Herz nach ihr verlangt: „Ich bin meines Geliebten, und nach mir ist sein Verlangen“. Es ist, wie bereits gesagt, das herrliche Ergebnis der geduldigen und langmütigen Gnade des Herrn; sie ist in Seinen Augen das Bild makelloser Schönheit und Vollkommenheit, sie weiß das, und ihr Herz ruht selig und frei in diesem kostbaren Bewusstsein. „Nach mir ist sein Verlangen“ – höher als das kann die Seele sich nicht erheben; Besseres kann sie nicht erlangen. Sie findet alles in der unveränderlichen Liebe Christi zu ihr.
Das ist die tiefste Freude des Herzens, das gibt unerschütterlichen, süßen Frieden. Welch ein Teil für einen armen, aus Gnaden erretteten Sünder, alle seine Quellen in der Liebe Jesu zu finden; sagen zu können: „Er kennt mich ganz und gar; Er weiß, was ich war und was ich bin. Und dennoch liebt Er mich, ja Er liebt mich nicht nur, sondern Er findet auch Seine Wonne an mir.“ Wunderbare Wahrheit! Lass mich hier fragen, mein Leser: Ist die Harfe deines Herzens so gestimmt, dass sie diesen Ton hervorzubringen vermag? Oder ist eine gewisse Anstrengung deinerseits dazu erforderlich? – Ach, das Lied von Seiner Liebe sollte nie schwächer werden, sollte keinen Augenblick auf unseren Lippen verstummen; nein, es sollte lauter und lauter ertönen, mehr und mehr anschwellen, je näher wir der Herrlichkeit kommen, wo derselbe Herr Jesus und dieselbe Liebe ewig Gegenstand unseres Lobens und Dankens sein werden.