Behandelter Abschnitt Hld 5,5
„Ich stand auf, um meinem Geliebten zu öffnen, und meine Hände troffen von Myrrhe, und meine Finger von fließender (d. h. von selbst ausfließender, kostbarer) Myrrhe am Griff des Riegels“ (Hld 5,5).
Gibt es, geliebter Leser, etwas Derartiges wie süße Tränen neben den bitteren? und könnten beide zu gleicher Zeit fließen? Was ist bitterer für den Geschmack als Myrrhe? Was angenehmer für den Geruch als wohlriechende Myrrhe? „Meine Hände troffen von Myrrhe, und meine Finger von fließender Myrrhe am Griff des Riegels.“ (Die Geschichte berichtet uns von einer morgenländischen Sitte, die viel zur Erläuterung des oben gebrauchten Bildes beitragen mag. Wenn nämlich eine Geliebte die Anträge ihres Liebhabers beharrlich zurückweist, so besucht dieser in der Nacht das Haus ihres Vaters oder das Haus, in dem die Geliebte wohnt. Rund um die Tür des Hauses hängt er Blumengewinde auf und bestreut die Schwelle ebenfalls mit wohlriechenden Blumen.
Ferner bestreicht er die Riegel und Handgriffe der Tür mit duftenden Salben. Die ganze Handlung soll der Familie des Mädchens beweisen, dass seine Liebe, obgleich sie zurückgewiesen wird, echt ist.) Bestimmt und wirklich ist die Antwort, die die Braut jetzt auf die ausharrende Liebe ihres Bräutigams gibt. „Ich stand auf, um meinem Geliebten zu öffnen.“ Sie erholt sich von ihrer geistlichen Trägheit. Das Gefühl über ihre Sünde, dass sie die Tür nicht öffnete, als Er klopfte, ist Bitterkeit für ihre Seele, zugleich aber ist es vermischt mit den Gefühlen inniger Zuneigung zu Dem, Den sie vernachlässigt hat. Als sie die Tür erreicht, an der Er so lange gestanden hat, findet sie alles erfüllt von dem Wohlgeruch Seiner Gegenwart; sie fasst den Griff des Riegels, und ihre Hände triefen von Myrrhe und ihre Finger von fließender Myrrhe.
Nachdem sie so aufgewacht und zu einem Bewusstsein darüber gekommen ist, was sie getan hat, erfüllen tiefer Schmerz und bittere Reue, vermischt mit bewundernder Liebe zu ihrem guten und gnädigen Herrn, ihre Seele und überwältigen sie völlig. Es geht ihr wie einem, der nach schmerzlichen und traurigen Irrwegen sich endlich wieder an den Schauplatz früherer geistlicher Freuden zurückwagt. Der wohlbekannte Raum, der Anblick so vieler bekannter Gesichter, der Ton von Stimmen, die nie ganz vergessen waren und jetzt wieder ein lautes Echo in dem gebeugten Herzen wachrufen – alles, alles ergreift die Seele mit unwiderstehlicher Gewalt und erfüllt sie mit tiefer Bewegung.
Alles erinnert an so viele vergangene Tage wahren, reinen Glücks und seliger Freude. Und indem das Herz wieder anfängt, zu der Liebe Jesu Vertrauen zu fassen, redet das Gewissen mit immer lauterer Stimme, und im tiefsten Inneren werden Seufzer wach wie:“O Herr Jesus, ich schäme mich und erröte tief vor Dir. Elend und unglücklich war ich alle die Tage, die ich fern von Dir umherirrte. o wie undankbar bin ich gewesen! Wie habe ich Deinen heiligen Namen verunehrt! An Dir, an Dir allein habe ich gesündigt! – Herr, kannst Du mir vergeben? Ist es möglich, Herr, nach all meiner Torheit, Verkehrtheit und Sünde? – Ach, Herr, lass mir wiederkehren die Freude Deines Heils! Herr, meine Seele hängt an Dir!“