Behandelter Abschnitt Hld 5,6
„Ich öffnete meinem Geliebten, aber mein Geliebter hatte sich umgewandt, war weitergegangen. Ich war außer mir, während er redete. Ich suchte ihn und fand ihn nicht; ich rief ihn, und er antwortete mir nicht.“ (Hld 5,6).
Wie einst Joseph auf allerlei Weise die Herzen seiner Brüder zu üben suchte, weil sie sich so schwer gegen ihn verschuldet hatten, so wird am Ende der Tage der wahre Joseph die Herzen Seiner Brüder, der Juden, zu üben suchen wegen ihres Zustandes vor Gott. Aber Joseph liebte seine Brüder deshalb nicht weniger, weil er sie durch eine so ernste Übung und Sichtung gehen ließ. Sein Herz war voll der innigsten Liebe, und sobald der richtige Augenblick gekommen war, machte es sich Luft in Ausdrücken der stärksten Zuneigungen. Welch eine Erquickung war es für ihn, als die Schleusen sich öffnen konnten und die so lange zurückgehaltene Liebe frei ausströmen durfte. Ähnlich wird es mit dem Herrn und dem jüdischen Überrest in den letzten Tagen sein. Kurz vor der Erscheinung des Herrn in Macht und Herrlichkeit zu ihrer völligen Befreiung, kurz vor der vollen Offenbarung Seiner Liebe als ihr Messias, werden die gläubigen Juden ähnliche Übungen durchmachen wie die Brüder Josephs.
Aber so treffend die Ähnlichkeit ist zwischen den Erfahrungen der Braut hier und dem, was zwischen Joseph und seinen Brüdern vorging, oder was dereinst zwischen Christus und dem Überrest vorgehen wird, so verkehrt und unrichtig wird das Bild, wenn man es auf die Kirche oder die Versammlung Gottes anwenden will. Die viel verbreitete Meinung, dass Christus sich zuweilen von dem Gläubigen abwende oder Sein Angesicht vor ihm verberge, um ihn auf die Probe zu stellen, findet keinerlei Unterlage in den Briefen.
Bei dem Juden, der unter dem Gesetz stand, war selbstredend alles anders: Gott wohnte in dichter Finsternis, der Weg ins Allerheiligste war noch nicht offenbart, das vollkommene Opfer noch nicht gebracht; das Gewissen des Israeliten war noch nicht vollkommen gemacht, und deshalb genoss er keinen ungetrübten Frieden. Bezüglich des Christen hat sich die ganze Sachlage verändert; denn „die Finsternis vergeht, und das wahrhaftige Licht leuchtet schon“ (1Joh 2,8). Wir sind „angenehm gemacht in dem Geliebten“ (Eph 1,6). Unsere Sünden sind, nach dem Urteil Gottes, alle und für immer hinweg getan durch das eine Opfer Christi.
Als das gerechte Gericht Gottes über die Sünde am Kreuz seinen Ausdruck gefunden hatte, zerriss der Vorhang im Tempel, wodurch der Weg ins Allerheiligste geöffnet wurde. Wir, tot in Sünden, und Christus, gestorben für die Sünde, sind miteinander lebendig gemacht worden; wir sind mit Ihm auferweckt und in Ihm mitversetzt in die himmlischen Örter, indem Gott alle unsere Übertretungen vergeben hat. Zwischen Gott und Christus in der Herrlichkeit kann es keinen Vorhang geben; und da wir in Christus sind, vollkommen gemacht vor dem Angesicht Gottes, so kann auch zwischen Gott und uns kein Vorhang sein. Überdies ist der Heilige Geist hernieder gekommen als der Zeuge und die Kraft unseres gegenwärtigen Einsseins mit dem auferstandenen und verherrlichten Christus; und Er gibt uns, da er in uns wohnt, den bewussten Genuss unseres Platzes und unseres Teils mit Christus in der Gegenwart Gottes. Schon der Gedanke, dass Christus Sein Angesicht vor denen verbergen könne, die mit Ihm und wie Er in dem vollen Licht Gottes sind, ist der ganzen Belehrung der Heiligen Schrift über die Kirche Gottes fremd.
Leider ist es nur zu wahr, dass wir vergessen können, wie reich wir in Christus Jesus gesegnet sind; wir können vergessen, dass wir mit Ihm, dem aus den Toten Auferstandenen und gen Himmel Gefahrenen, verbunden sind, dass Sein Leben unser Leben ist, und dass Seine Freude auch unsere Freude sein sollte; und wenn wir diese Dinge vergessen, so mag es wohl sein, dass wir uns von Ihm entfernen und gegen Ihn sündigen. Und keine Sünde könnte so hassenswürdig für Gott sein als die Sünde eines Christen, und zwar gerade deshalb, weil er so nahe zu Gott gebracht ist. Ach! wenn wir sündigen, so müssen wir uns von Christus entfernt haben; keiner von uns könnte in Seiner Gegenwart sündigen. Denn in Seiner Gegenwart ist die Sünde auch uns aufs Tiefste verhasst, und wir haben Gewalt über sie.
Wenn der Heilige Geist von diesem Gegenstand spricht, so ist Seine Weise höchst zurückhaltend; Er gibt bloß die Möglichkeit zu, dass ein Christ sündigen könne. „Meine Kinder, ich schreibe euch dies, damit ihr nicht sündigt; und wenn jemand gesündigt hat“, – oder mit anderen Worten: wenn es einmal vorkommen sollte, (was Gott verhüten wolle,) dass einer von euch sündigte, – „wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten. Und er ist die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt“ (1Joh 2,1.2). Es ist also eine göttliche Vorsorge getroffen für alle Bedürfnisse unseres Pilgerpfades hier auf Erden.
Die Sachwalterschaft Christi, gegründet auf die Gerechtigkeit Gottes und auf eine vollbrachte Versöhnung, sichert uns die Reinigung von allem, womit wir uns auf unserem Weg verunreinigen können, und erhält uns tadellos vor dem Angesicht Gottes. Wie völlig steht dieser gesegneten Wahrheit die oben erwähnte Meinung entgegen, dass Gott zuweilen Sein Angesicht hinter einer Wolke verberge, um den Glauben und die Liebe Seiner Kinder auf die Probe zu stellen! Wir mögen jene kostbare Wahrheit nicht kennen oder durch Mangel an Treue sie nicht genießen, aber die Wahrheit Gottes bleibt unveränderlich dieselbe; und die Stellung der Kirche vor Ihm in Christo ist ebenso unerschütterlich wie die Wahrheit, die sie uns offenbart.
Wenn wir uns jetzt von der Kirche zu Israel wenden, so muss uns sogleich der bestimmt ausgeprägte Gegensatz zwischen beiden auffallen. Obwohl „zur Zeit des Endes“ der Überrest den Messias erwarten und mit aufrichtiger Liebe nach Ihm ausschauen wird, steht er doch noch unter dem Gesetz und muss dessen Druck fühlen. Gleich dem Totschläger in alten Zeiten werden die Israeliten gleichsam so lange in der Zufluchtsstadt bleiben müssen, bis eine Änderung des Priestertums eintritt (Vergl. 4Mo 35). Die Erscheinung ihres gesalbten Herrn, in der Ausübung Seines Melchisedek-Priestertums, wird das große Gegenbild jener alten Verordnung ausmachen. Eine Änderung des Priestertums durch den Tod brachte den in den Zufluchtsstädten eingeschlossenen Totschlägern Befreiung und die Erlaubnis zur Rückkehr in ihr Land. „Nach dem Tod des Hohenpriesters darf der Totschläger in das Land seines Eigentums zurückkehren“ (4Mo 35,28).
Israel wird in den letzten Tagen, kurz vor der Erscheinung des Herrn, durch ein tiefes Sichtungswerk gehen unter dem Gesetz; viele Schriftstellen beweisen dies klar und deutlich. Das ernste Gericht Gottes über ihre Sünde der Blutschuld muss gefühlt und von ihrem Gewissen anerkannt werden. Und wenn endlich der Herr erscheint, dann wird dieses gesegnete, obwohl ernste und schmerzliche Werk noch vertieft werden, aber dann nicht mehr unter Gesetz, sondern unter Gnade. „Und ich werde über das Haus Davids und über die Bewohner von Jerusalem den Geist der Gnade und des Flehens ausgießen; und sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und werden über ihn wehklagen wie die Wehklage über den einzigen Sohn und bitterlich über ihn Leid tragen, wie man bitterlich über den Erstgeborenen Leid trägt.“ (Lies sorgfältig Sach 12, auch Sach 13 und Sach 14).
Von welch ergreifender Schönheit ist diese Wirklichkeit und Glut der Liebe, die der hochgelobte Herr in den Herzen der Seinigen, selbst in all ihren Leiden und Drangsalen, hervorrufen wird und die uns hier im Hohenlied so lebendig und wahr entgegentritt. Wie innig sehnt sich das Herz der Braut nach ihrem Geliebten. Das ist in der Tat der Charakter des Hohenliedes. Während die Psalmen uns mehr mit den Übungen des Gewissens in dem Überrest bekannt machen, teilt uns das Hohelied vornehmlich die Gefühle und Zuneigungen des Herzens mit. Diese Seite ist auch in der vorliegenden Stelle vorherrschend, und wahrlich, es ist eine liebliche Seite.
Wir begegnen hier den Kundgebungen der Bräutigams-Liebe Jesu und andererseits dem lieblichen und rührenden Widerschein dieser Liebe in dem Herzen der Braut. „Ich war außer mir, während er redete“, sagte sie. Sie konnte Ihn hören, aber nicht sehen, und ihr Herz entfiel ihr; sie hatte Ihn in einer bösen Stunde vernachlässigt, und Er hatte Sich, da Er ja noch auf dem Boden der Gerechtigkeit stand, entfernt und war weitergegangen. Aber Er liebte sie deshalb nicht weniger, wenn Er auch so handeln musste. Ja, wenn sie so tief fühlte, dass Er Sein Antlitz verbarg, Er fühlte es noch unendlich tiefer. Nie brannte das Herz Josephs in so heißer Liebe zu seinen Brüdern, als zu der Zeit, da er sich vor ihnen verstellen und verbergen musste. Und ein größerer als Joseph ist hier. „Jesus Christus, derselbe gestern und heute und in Ewigkeit.“ Beachte es wohl, geliebter Leser; es heißt nicht: Gott ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit, obwohl Er das sicherlich ist; sondern es handelt sich um „Jesus Christus“, unseren Heiland und Bräutigam. Von Ihm sagt der Heilige Geist, dass Er Sich niemals verändere. O möchten wir deshalb lernen, mehr auf Ihn zu vertrauen und niemals an Seiner Liebe zu zweifeln, wenn auch die Umstände sich gestalten, wie sie wollen. Seine Liebe ist unveränderlich, Seine Gnade kann uns nie, nie fehlen.