Behandelter Abschnitt Hld 4,8
„Mit mir vom Libanon herab, meine Braut, mit mir vom Libanon sollst du kommen; vom Gipfel des Amana herab sollst du schauen, vom Gipfel des Senir und Hermon, von den Lagerstätten der Löwen, von den Bergen der Leoparden“ (Hld 4,8).
Wir befinden uns bei unserem leider oft so sorglosen Umherwandern häufig viel näher bei den „Lagerstätten der Löwen“, als wir denken; wir schweben vielleicht in großer Gefahr, und sind uns dessen gar nicht bewusst. Hinter den anziehenden Dingen der Natur verstecken sich unsere schlimmsten Todfeinde. Der „Libanon“ (als Vorbild betrachtet) erweckt den Gedanken an die höchste irdische Erhebung. Aber gerade dort, wo sich dem natürlichen Auge eine so herrliche, fesselnde Aussicht und den Sinnen so viel Anziehendes darbietet, lauert der reißende Löwe und der grausame Leopard.
Wir tun gut, hier einen Augenblick stehen zu bleiben und uns daran zu erinnern, dass die lieblichsten Szenen der Erde Feinde in sich bergen, die listiger und gefährlicher sind als Löwen und Leoparden. Wie sind wir so geneigt, unsere Augen umherwandern zu lassen und uns mit dem zu beschäftigen, was die Natur anzieht und befriedigt. O möchten wir mehr Acht haben auf die schwachen Seiten in unserem christlichen Leben, auf unsere Neigungen und Liebhabereien. Manche Gläubige liebäugeln mit der Welt und trachten nach ihren Vergnügungen – nicht gerade nach solchen, die offenbar schlecht und verwerflich sind, aber nach den sogenannten unschuldigen Freuden dieses Lebens.
Andere verlangen nach weltlichem Lesestoff, nach Erzählungen, Romanen usw., und vernachlässigen das lebendige Wort Gottes. Wieder andere gehen ganz auf in ihren Geschäften und jagen nach den armseligen Gütern dieser Welt. Alle solche Wege, und viele ähnliche, führen zu „den Lagerstätten der Löwen“, zu den Bergen der Leoparden, d. h. sie bringen die Seele in große Gefahren. Sie nähren die natürlichen Neigungen und fesseln die Sinne, während das Herz ausdörrt und das göttliche Leben verkümmert. Es gibt nur ein Auge, das die Schlinge früh genug entdecken, nur eine Stimme, die das Herz zur rechten Zeit von der Stätte der Gefahr wegrufen kann. Und dieses Auge, diese Stimme ist das Auge und die Stimme des Geliebten. O wie gut, dass Er über uns wacht, dass Er uns warnt und mit zärtlicher Liebe uns zu Sich ruft!
Nichts könnte lieblicher sein als die Art und Weise, wie der hochgelobte Herr hier Seine Braut aus ihrer gefährlichen Lage befreit. „Mit mir sollst du kommen“, sagt Er. Er ruft ihr nicht gebieterisch zu: „Gehe eilend hinweg, Gefahr ist im Verzuge! Du stehst an dem Eingang der Löwenhöhle!“ Er ängstigt und erschreckt sie nicht. Nein, „komm mit mir“, so bittet Er, „mit mir vom Libanon herab, meine Braut, mit mir vom Libanon.“ Er sucht ihr Herz vom Libanon, der Stätte irdischer Freuden, aber geistlicher Gefahr, abzulenken. Welch eine Gnade gibt sich in dem Wörtchen „Komm!“ kund. Wie klingt es dem Ohr so viel angenehmer als ein gebieterisches „Geh!“ In dem einen drückt sich Gemeinschaft aus, in dem anderen Trennung.
„Kommt denn und lasst uns miteinander rechten“, ruft der Herr dem widerspenstigen Hause Israel zu; und wenn dieser gnädigen Einladung Folge geleistet worden ist, so beschäftigt und beunruhigt Er die Umkehrenden nicht mit Beweisen ihres traurigen Verhaltens, sondern sagt: „Wenn eure Sünden wie Scharlach sind, wie Schnee sollen sie weiß werden; wenn sie rot sind wie Karmesin, wie Wolle sollen sie werden“ (Jes 1,18). Welch eine liebliche, gesegnete Art des Rechtens für einen schuldigen Sünder. So kann nur der Herr rechten. Dieselbe Gnade entfaltet Er, gepriesen sei Sein herrlicher Name! auch der ganzen Welt gegenüber in jener alle umfassenden Einladung: „Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben“ (Mt 11,28).
Sobald die Einladung angenommen und befolgt wird, ist das Resultat gesichert: „Ich werde euch Ruhe geben“, Ruhe von dem schweren Druck und Joch der Sünde, Ruhe von euren eigenen fruchtlosen Anstrengungen, Ruhe mit Mir Selbst im Paradiese Gottes. Anbetungswürdiger Herr! möchte dieses kostbare „Komm!“ mehr geschätzt werden von denen, die noch fern von Dir sind. – Die ganze Schrift ist angefüllt mit diesem lieblichen, herzbewegenden Wörtchen; und welcher Gläubige hätte nicht schon den herrlichen Schluss dieser vielen „Komm!“ der Heiligen Schrift bewundert? „Und der Geist und die Braut sagen: Komm! Und wer es hört, spreche: Komm! Und wen da dürstet, der komme; wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst“ (Off 22,17).
Doch es gibt in dem liebevollen Zuruf des Bräutigams noch zwei andere Worte, die das Herz mit tiefer Freude erfüllen; sie lauten: „mit mir“. „Komm mit mir!“ Könnte man Worte finden, die mehr geeignet wären, alle Furcht zu verbannen und dem Herzen volles Vertrauen einzuflößen, wie schwierig die Umstände auch sein mögen? Unmöglich. Wenn wir das Brüllen des Löwen vernommen haben und wissen, dass er nahe ist, so mögen wir wohl mit Besorgnis erfüllt sein; denn wo ist unsere Kraft, ihm zu widerstehen? Wir haben keine. Aber diese drei Worte voll unvergleichlicher Gnade: „Komm mit mir!“ enthalten alles, was das Herz braucht. Bei Ihm ist die Braut in vollkommener Sicherheit, wie rau und steil der Pfad auch sein und wie drohend die Gefahr sich ihr auch entgegenstellen mag. Indes ist das bloße Entrinnen die geringste Gnade, die jene Worte in sich schließen.
Sie geben zugleich auch der Freude Ausdruck, die der Bräutigam an der Gesellschaft Seiner Braut findet. Ihre Gegenwart ist Seine Wonne. Wunderbare gesegnete Wahrheit! Dieser Gedanke übertrifft alle anderen an Kostbarkeit. Der Herr erfreut Sich an uns und verlangt danach, uns bei Sich zu haben. Selbstverständlich ist Seine Freude in keiner Weise abhängig von dem Geschöpf, denn Er ist sowohl Gott als Mensch und genügt Sich Selbst vollkommen; Er ist der Unabhängige, der ewige, lebendige Gott, der JHVA = Jesus. Aber als Sohn des Menschen hat Er in Seiner wunderbaren Gnade und Liebe uns gleichsam notwendig gemacht für die volle Entfaltung Seiner Herrlichkeit und für Seine ewige Wonne. Die Versammlung, welche Sein Leib ist, ist Seine Fülle (Eph 1,22.23). Und zu der Tochter Zion sagt Er gleichfalls: „Höre, Tochter, und siehe, und neige dein Ohr; und vergiss deines Volkes und deines Vaters Hauses! Und der König wird deine Schönheit begehren; denn er ist dein Herr: so huldige ihm“ (Ps 45,10.11).
Diese schöne Stelle wird dem Herzen der Braut, des jüdischen Überrestes, bei der Rückkehr des Herrn in göttlicher Kraft nahe gebracht werden. Der Herr sucht hier ihre Gedanken und Neigungen von der alten jüdischen Ordnung der Dinge, „dem Hause ihres Vaters“, abzulenken und sie ganz und gar der neuen Ordnung unter dem Messias in Seiner königlichen Herrlichkeit entsprechend zu bilden. Israel wird auf dieser Erde, in dem Lande Immanuels gesegnet werden.
Der Geist Gottes hat diese kostbare Wahrheit: „mit Christus „, so eingehend und ausführlich in den Heiligen Schriften entwickelt, dass wir wohl noch einen Augenblick dabei verweilen sollten. Sie ist in dem unveränderlichen Ratschluss Gottes festgestellt und zieht sich gleich einem goldenen Faden durch alles hindurch. „Er, der doch seinen eigenen Sohnes nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat: wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken?“ (Röm 8,32). Welch ein Gedanke!
„Alles . . . mit Christus“, in Gemeinschaft mit Ihm! Gesund oder krank, reich oder arm, ich bin in jeder Lage mit Ihm und besitze Ihn in allen Umständen, wie sie sich auch gestalten mögen. Nach der Beweisführung des Apostels schließt das Größere das Geringere ein, und das Geringere wird besessen und genossen mit dem Größeren.
Sollte auch ein Christ in so ärmlichen Verhältnissen sein, dass eine trockene Brotkruste und ein Glas kaltes Wasser seine einzige Mahlzeit bildeten, so kann er doch triumphierend sagen: Mag es auch noch so ärmlich stehen, ich besitze meine Brotkruste mit Christus, und Christus mit ihr. Von dem niedrigsten Zustand hienieden bis zu der höchsten Stellung in der Herrlichkeit droben haben wir alles mit Christus, und unsere reichste Segnung besteht darin, eins zu sein mit Ihm; und dieses Einssein mit Christus, dem Haupt der Kirche, ist so wirklich, so vollkommen, dass der Apostel von sich sagen kann: „Ich bin mit Christus gekreuzigt“, und im Blick auf alle Christen: „Indem wir dieses wissen, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist“ (Röm 6).
Ja, er spricht von jenem Einssein in den verschiedensten Beziehungen: Wir sind mitgekreuzigt, mitgestorben, mitbegraben, mitlebendiggemacht, mitauferweckt; Gott hat uns in Ihm mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern; wir werden miterben, sind berufen mitzuleiden und sind mitverherrlicht.
Und dieses Einssein der Kirche mit Ihm ist dem Herzen Christi so wertvoll, dass überall, wo von unserem zukünftigen Zustand die Rede ist, er beschrieben wird als in Verbindung mit Christus stehend.
„Heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43). „Ausheimisch von dem Leibe, einheimisch bei dem Herrn“ (2Kor 5,8). „Indem ich Lust habe, abzuscheiden und bei Christus zu sein, denn es ist weit besser“ (Phil 1,23). „Und so werden wir allezeit bei dem Herrn sein“ (1Thes 4,17). „In dem Haus meines Vaters sind viele Wohnungen; wenn es nicht so wäre, hätte ich es euch gesagt; denn ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, damit, wo ich bin, auch ihr seiet“ (Joh 14,2-3). – Amen! Das gibt dem Herzen Ruhe, vollkommene Ruhe ewiglich.