Behandelter Abschnitt Hld 3,4
„Kaum war ich an ihnen vorüber, da fand ich ihn, den meine Seele liebt. Ich ergriff ihn und ließ ihn nicht los, bis ich ihn gebracht hatte in das Haus meiner Mutter und in das Gemach meiner Gebärerin“ (Hld 3,4).
Groß war die Freude Sulamiths, als sie ihren Geliebten fand. „Ich fand ihn.“ gesegnete Worte! Ich, ein armes, schwaches, irrendes Geschöpf, fand Ihn, den Urquell aller Freude, die Quelle aller Glückseligkeit! Ihr ernstes liebendes Suchen ist belohnt. Es muss immer so sein. „Der Suchende findet.“ Wenn das Herz wirklich dem Herrn zugewandt ist, so findet es Ihn bald. Es ist Seine Freude, Sich einer suchenden Seele zu offenbaren (vergl. Joh 20,16). Er begegnet Seiner Braut auf dem Weg. Sie erblickt Ihn, sie ergreift Ihn und will Ihn nicht eher wieder loslassen, bis sie Ihn in das Haus ihrer Mutter gebracht hat.
Aber so groß ihre Freude auch sein mag, so ist sie doch nichts im Vergleich mit Seiner Freude. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als wenn die Freude nur auf einer Seite vorhanden wäre. Aber es ist nicht so. Der Größe unserer Liebe wird unser Schmerz entsprechen, wenn wir den Geliebten aus dem Auge verloren haben, und unsere Freude, wenn wir Ihn wieder finden. Kostbare Wahrheit, wenn wir sie auf den Herrn anwenden. Welch ein weites Feld eröffnet sich da unseren Betrachtungen. Wahrlich, hier gibt es vieles zu lernen im Blick auf die Liebe unseres Herrn und auf Sein tiefes Mitgefühl mit Seinem Volk. Nehmen wir einmal an, die Liebe des Bräutigams sei hundertmal größer als die Liebe der Braut; wird nun Sein Schmerz, wenn sie von Ihm abirrt, nicht auch hundertmal größer sein als der ihrige? Sicherlich.
Die Größe der Liebe bestimmt, wie gesagt, die Größe des Schmerzes oder der Freude. Wie war das Verhältnis zwischen der Freude des Vaters und der Freude des verlorenen Sohnes, als sie einander begegneten? Oder richtiger, wie groß war der Unterschied? Unendlich! Und so wird es stets sein zwischen dem Herrn und den Seinigen. Mit welcher Sorge sollten wir deshalb über uns wachen, dass wir nicht abirren und so das zärtlich liebende Herz des Herrn Jesus betrüben und täuschen. Und andererseits, was für ein mächtiger Beweggrund liegt für uns in dieser Liebe, umzukehren und aufrichtig Buße zu tun, wenn wir uns aus Seiner Gegenwart verloren und dadurch Ihn betrübt und Seinen heiligen Namen verunehrt haben.
Indes möchte man fragen: Wer ist die Mutter und was haben wir unter dem Haus der Mutter zu verstehen? Auf diese Fragen gibt uns der Prophet Hosea eine einfache, klare Antwort. Wir lesen dort: „Sprecht zu euren Brüdern: ‘Mein Volk‘, und zu euren Schwestern: ‘Begnadigte‘. Rechtet mit eurer Mutter, rechtet!“ (Hos 2,2). Israel als Nation ist die Mutter. Und wenn die lange abgebrochenen Beziehungen zwischen dem Herrn und Seinem alten Volk wieder angeknüpft werden, dann wird Er eingehen in das Haus der Mutter.
Die Braut, oder der gottesfürchtige Überrest des Volkes, fällt, in dem Bewusstsein der Liebe des Bräutigams, in Seine Arme. Sie konnte keinen Ruheplatz finden, bis sie Ihn gefunden hatte. Jetzt aber, erschöpft von ihrem langen Umherwandern, gleich dem verlorenen Sohn im fernen Land, findet sie süße Ruhe in Seiner unveränderlichen Liebe. Sein Herz ist der einzige Ruheplatz für ihr Herz.