Ich schlief, aber mein Herz wachte. Horch! Mein Geliebter {w. Stimme meines Geliebten}! Er klopft: Mach mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene! Denn mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der Nacht: Die Braut schläft und wacht zugleich. Was für ein widersprüchlicher Zustand für einen Gläubigen! Manche Ausleger denken dabei an einen Traum.
Horch, mein Geliebter! er klopft: Wie sehnt sich der Bräutigam nach Gemeinschaft mit seiner Braut, mit den Seinen (vgl. Off 3,20)!
Mach mir auf: In Kapitel 2 hatte der Bräutigam die Braut aufgefordert, herauszukommen (V. 10.13), hier erbittet er Einlass bei der Braut. Er bittet höflich um Einlass. Er drängt sich niemals auf. Doch die Liebe bittet.
Der Bräutigam versucht mit allen möglichen Kosenamen, ihre Liebe zu wecken:
meine Schwester: Er erinnert sie an die Verwandtschaft
meine Freundin: oder: Liebe
meine Taube: vgl. 1,15; 4,1.9
meine Vollkommene: völlig geweiht, hingegeben
Und jedes Mal fügt der Bräutigam „meine“ hinzu.
Mein Haupt ist voll Tau: Der Bräutigam hat die Nacht auf freiem Feld zugebracht, während die Braut, die mit ihm vom Libanon herabgekommen war, sich der Ruhe des Schlafes hingegeben hatte. Der Herr hatte keinen Platz hier auf der Erde (Mt 8,20). Am Ende von Johannes 7 ging jeder zu seinem Haus, Jesus aber nach dem Ölberg. Oft verbrachte der Herr die Nacht im Gebet, zuletzt im Garten Gethsemane, wo sein Schweiß wie große Blutstropfen auf die Erde herabfiel (Lk 22,44). In diesem Augenblick schliefen auch die Jünger. Der Herr ist allein!
Meine Locken voll Tropfen der Nacht: Diese Locken – das lange Haar – sind das Zeichen seiner Nasiräerschaft (vgl. 5,11).