Einleitung
In diesem Psalm bitte der Gerechte Gott, dass Er Rache üben möge. Das ist in Zukunft völlig in Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes (vgl. Off 6,9-11). In den Mund eines Christen passt das nicht (Mt 5,44-45).
In diesem Psalm finden wir diesen Notschrei, der zugleich ein völliges Verständnis bezüglich der eigenen Lage, der Handlungsweise Gottes, der Stellung der Gottlosen und des zu erwartenden letzten Ergebnisses zum Ausdruck bringt, und zwar, wie in allen Psalmen dieses Buches, aufgrund wohlbekannter Beziehungen zum Herrn. Wir haben in Psalm 91 gesehen, wie Christus sich mit dem Volk einsmacht, damit sie, also mit Ihm vereinigt, zum Genuss der vollen Segnung gelangen mögen. Psalm 94 wendet sich an den Herrn als den Gott der Rache und wünscht, dass Er erscheinen, sich als Richter der Erde erheben und den Stolzen Vergeltung geben möge. Das „bis wann?“ (V. 3) wird jetzt ernstlich und dringend; die Gottlosigkeit und Gewalttätigkeit der Bösen nimmt überhand. In den Versen 8–10 wird den ungläubigen Israeliten die Torheit ihrer Handlungsweise vorgestellt. In den Versen 12–15 finden wir eine Erklärung der Wege des Herrn, die voller tiefer Unterweisung ist: „Glückselig der Mann, den du züchtigst, Jah, und den du belehrst aus deinem Gesetz!“ (V. 12). So handelt der Herr mit dem gläubigen Überrest, um ihm Ruhe zu geben vor den bösen Tagen, bis dem Gottlosen die Grube gegraben wird.
Ohne Zweifel haben die Gottesfürchtigen (wie wir das in den Psalmen ausgedrückt finden) zu Zeiten diese Wahrheit fast vergessen (vgl. Ps 73). Doch war dies nicht immer der Fall (siehe Ps 27,5). Der Glaube vergisst sie nicht, und darin liegt der Schlüssel zum Verständnis der Leiden des Überrests – auch der unseren unter der Leitung unseres Gottes und Vaters. Inmitten des uns umgebenden Bösen hat der Gläubige es mit Gott zu tun; nicht nur indem er sich willig unterwirft, sondern indem er die Leiden, durch die er geht, als einen Kelch betrachtet, der ihm vom Herrn (uns von unserem Vater) gereicht wird. Damit schwindet sogleich die Störung und Bestürzung, die empfunden wird, solange der eigene Wille ungebrochen ist und wir meinen, es mit Menschen zu tun zu haben, und uns nicht zu helfen wissen. Sobald der Eigenwille, dieses große Hindernis, gebrochen ist, unterweist Gott das nun unterwürfige Herz; es nimmt jetzt die richtige Stellung vor Ihm ein.5 Für den Glauben steht es darüber hinaus fest, dass der Herr sein Volk niemals verwerfen wird. Doch das Gericht wird zur Gerechtigkeit zurückkehren, und die von Herzen Aufrichtigen werden ihm folgen.
Das ist der große und überaus wichtige Grundsatz, der auf dem wichtigen Prinzip der Veränderung beruht, den wir in diesen Psalmen feststellen. Das Gericht, das so lange von der Gerechtigkeit getrennt war, kehrt jetzt zu ihr zurück. Einst war das Gericht in den Händen eines Pilatus, während die Gerechtigkeit in Christus war. In jenem Augenblick war der Gegensatz vollständig, aber wir finden ihn mehr oder weniger zu allen Zeiten und überall. Zu leiden um der Gerechtigkeit willen und eine in den Himmeln festgestellte göttliche Gerechtigkeit zu besitzen, mag ein noch besseres Teil sein, als auf der Erde das Gericht zur Gerechtigkeit zurückkehren zu sehen – ja, es ist sicherlich besser; es ist das Teil Christi als des jetzt verherrlichten Menschen, aber das ist nicht die Aufrechterhaltung der Gerechtigkeit auf der Erde. Das wird dann wirkungsvoll geschehen. Doch wer wird gefunden, der das ausführen wird?
Wer wird die Sache der Gottesfürchtigen in seine Hand nehmen und für den Überrest gegen die die mächtigen Übeltäter aufstehen? Hätte der Herr es nicht getan, so würden die Gottesfürchtigen bald ins Schweigen hinabgefahren sein. Wie wahr dies in Bezug auf Christus war, insoweit die Menschen in Betracht kommen, und wie völlig Er daher in diese Gedanken und Empfindungen des Überrests eingehen kann, brauche ich wohl kaum zu sagen. Sogar wenn der Überrest fürchtet zu fallen, hilft ihm der Herr, und bei der Menge der Gedanken, ja, inmitten aller Macht des Bösen, erfüllen die Tröstungen des Herrn die Seele mit Wonne (V. 19). In Vers 20 ruft der Überrest in höchst bemerkenswerter Weise die Gerechtigkeit des Herrn an: Sollte der Thron des Verderbens vereinigt sein können mit dem Thron des Herrn? Wenn nicht, so sind die Tage der Herrschaft der Gesetzlosigkeit gezählt. Dass Bosheit vorhanden ist, ist jetzt offenbar. Doch der Herr, die Zufluchtsstätte der Frommen, der Richter der Bösen, wird das Unheil, das Letztere gestiftet haben, auf ihr eigenes Haupt zurückbringen: Er wird sie vertilgen. So gibt uns dieser Psalm, wie ich schon sagte, einen beachtenswerten und vollständigen Überblick über die ganze Situation des Überrests und die Wege des Herrn mit ihm.
In den Psalm 95-100 haben wir den Prozess der Einführung des Erstgeborenen in den Erdkreis deutlich. Doch wird Er hier überall betrachtet als der Herr, der vom Himmel her zum Gericht kommt und schließlich seinen Platz zwischen den Cherubim einnimmt; und die Welt wird aufgefordert, Ihn an diesem Platz anzubeten. Die Errichtung und Segnung Israels in Macht wird in Gegensatz gestellt zu ihrem früheren Versagen nach ihrer ersten Befreiung (JND).
Einteilung
Die Bitte, der Herr möge Gericht üben (V. 1‒7)
Der Herr weiß und sieht alles (V. 8‒13)
Die freudige Zuversicht des Glaubens (V. 14‒19)
Der Herr wird die Gottlosen vertilgen (V. 20‒23)
Vers 1
Gott {hebr. El} der Rache {eig. der Rachen (d.h. der Rache-Vollstreckungen)}, Herr, Gott {hebr. El} der Rache {eig. der Rachen (d.h. der Rache-Vollstreckungen)}, strahle hervor: Ein Augenblick wird kommen, wo das Volk diesen Ruf nach Rache an Gott richten wird. Gott wird dann eine entsprechende Antwort geben, Er ist ja der Gott der Rache. Christus, der Richter der Lebenden und Toten, wird in seiner Herrlichkeit als König und Richter der ganzen Erde Rache an allen Feinden üben.
5 Obwohl der Herr Jesus alles, was Ihm bevorstand, zutiefst empfand, finden wir doch bei Ihm gerade das Gegenteil dieses Widerstreben des Eigenwillens, da in Ihm vollkommene Unterwürfigkeit war (vgl. Joh 12,27-28; Lk 22,42). Petrus hätte gern Widerstand geleistet, Christus aber sah in dem Kelch den Willen seines Vaters und trank ihn.↩︎