Behandelter Abschnitt Ps 94
In Psalm 94 finden wir diesen Notschrei, der gleichzeitig ein volles Verständnis bezüglich der eigenen Lage, der Handlungsweise Gottes, der Stellung der Gesetzlosen sowie des zu erwartenden Endergebnisses zum Ausdruck bringt, und zwar, wie in allen Psalmen dieses Buches, aufgrund wohlbekannter Beziehungen zu Jehova. Wir haben in Psalm 91 gesehen, wie Christus Sich mit dem Volke eins macht, damit sie, also mit Ihm vereinigt, zum Genuss der vollen Segnung gelangen möchten. Psalm 94 wendet sich an Jehova als den Gott der Rache und wünscht, dass Er erscheinen, Sich als Richter der Erde erheben und den Hoffärtigen Vergeltung geben möchte. Das „bis wann?“ wird jetzt ernstlich und dringend; die Gottlosigkeit und Gewalttätigkeit der Bösen nimmt überhand. In den Versen 8 - 10 wird den ungläubigen Israeliten die Torheit ihrer Handlungsweise vorgestellt. In den Versen 12 - 15 finden wir eine Erklärung der Wege Jehovas, die voll der tiefsten Unterweisung ist: „Glückselig der Mann, den du züchtigst, Jehova, und den du belehrst aus deinem Gesetz!“ So handelt Jehova mit dem gläubigen Überrest, um ihm Ruhe zu geben vor den bösen Tagen, bis dem Gesetzlosen die Grube gegraben wird.
Ohne Zweifel haben die Frommen (wie wir das in den Psalmen ausgedrückt finden) zu Zeiten diese Wahrheit fast vergessen (vgl. Ps 73). Doch war dies nicht immer der Fall (siehe Ps 27,5). Der Glaube vergisst sie nicht, und darin liegt der Schlüssel zum Verständnis der Leiden des Überrestes - auch der unseren unter der Leitung unseres Gottes und Vaters. Inmitten des uns umgebenden Bösen hat es die Seele mit Gott zu tun; nicht nur indem sie sich willig unterwirft, sondern indem sie die Leiden, durch die sie geht, als einen Kelch betrachtet, der ihr von Jehova (uns von unserem Vater) gereicht wird. Damit schwindet alsbald die Störung und Bestürzung, die gefühlt wird, solange der eigene Wille ungebrochen ist und wir meinen, es mit Menschen zu tun zu haben, und uns nicht zu helfen wissen. Sobald der Eigenwille, dieses große Hindernis, gebrochen ist, unterweist Gott das nun unterwürfige Herz; es nimmt jetzt die richtige Stellung vor Ihm ein33. Dem Glauben steht es überdies fest, dass Jehova Sein Volk niemals verwerfen wird. Aber das Gericht wird zur Gerechtigkeit zurückkehren, und die Aufrichtigen werden ihm folgen. Das ist der große und überaus wichtige Grundsatz, auf dem der Umschwung beruht, den wir in diesen Psalmen wahrnehmen. Das Gericht, das so lange von der Gerechtigkeit getrennt war, kehrt jetzt zu ihr zurück. Einst war das Gericht in den Händen eines Pilatus, während die Gerechtigkeit in Christo war. In jenem Augenblick war der Gegensatz vollständig, aber wir finden ihn mehr oder weniger zu allen Zeiten und überall. Zu leiden um der Gerechtigkeit willen und eine in den Himmeln festgestellte göttliche Gerechtigkeit zu besitzen, mag ein noch besseres Teil sein, als auf der Erde das Gericht zur Gerechtigkeit zurückkehren zu sehen - ja, es ist sicherlich besser; es ist das Teil Christi, als des jetzt verherrlichten Menschen, - aber das ist nicht die Handhabung der Gerechtigkeit auf der Erde. In jener Zeit aber, von der die vorliegenden Psalmen reden, wird die Gerechtigkeit tatsächlich auf der Erde gehandhabt werden.
Wer aber ist es, der das zur Ausführung bringen wird? Wer wird die Sache der Frommen in seine Hand nehmen und für den Überrest aufstehen gegen die so mächtigen Übeltäter? Hätte Jehova es nicht getan, so würde die Seele der Frommen bald ins Schweigen hinabgefahren sein. Wie wahr dieses in bezug auf Christum war, insoweit die Menschen in Betracht kommen, und wie völlig Er daher in diese Gedanken und Gefühle des Überrestes eingehen kann, brauche ich wohl kaum zu sagen. Selbst wenn der Überrest fürchtet zu fallen, hilft ihm Jehova, und bei der Menge der Gedanken, ja, inmitten aller Macht des Bösen, erfüllen die Tröstungen Jehovas die Seele mit Wonne. In Vers 20 ruft der Überrest in höchst bemerkenswerter Weise die Gerechtigkeit Jehovas an: sollte der Thron des Verderbens vereinigt sein können mit dem Throne Jehovas? Wenn nicht, so sind die Tage der Herrschaft der Gesetzlosigkeit gezählt. Dass Bosheit vorhanden ist, ist jetzt offenbar. Doch Jehova, die Zufluchtsstätte der Frommen, der Richter der Bösen, wird das Unheil, das die letzteren gestiftet haben, auf ihr eigenes Haupt zurückbringen: Er wird sie vertilgen. So gibt uns dieser Psalm, wie ich schon sagte, einen beachtenswerten und vollständigen Überblick über die ganze Lage des Überrestes und Jehovas Wege mit ihm.
In den Psalm 95-100 schreitet die Einführung des Eingeborenen in den Erdkreis deutlich fort. Doch wird Er hier überall betrachtet als Jehova, der vom Himmel her zum Gericht kommt und schließlich Seinen Platz zwischen den Cherubim einnimmt; und die Welt wird aufgefordert, Ihn an diesem Platz anzubeten. Die Aufrichtung und Segnung Israels in Macht wird in Gegensatz gestellt zu ihrem einstigen Fehlen nach ihrer ersten Befreiung.
33 Obwohl der Herr Jesus alles, was Ihm bevorstand, aufs tiefste fühlte, finden wir doch bei Ihm gerade das Gegenteil von diesem Widerstreben des Eigenwillens, da in Ihm vollkommene Unterwürfigkeit war (vgl. Joh 12,27.28; Lk 22,42). Petrus hätte gern Widerstand geleistet, Christus aber sah in dem Kelche den Willen Seines Vaters und trank ihn.↩︎