Mein Gott {El}, mein Gott {El}, warum hast du mich verlassen, bist fern von meiner Rettung, den Worten meines Gestöhns? {o. fern von meiner Rettung sind die Worte meines Gestöhns}: Dieser Vers ist eine Zusammenfassung der Leiden des gesamten Psalms. Es sind die Worte, die der Herr Jesus am Kreuz gerufen hat (Mt 27,46; Mk 15,34).
Mein Gott: Hebr. El, der mächtige, starke Gott. Der Herr Jesus war der einzige Mensch auf der Erde, der uneingeschränkt sagen konnte „mein Gott“. Vom Leib seiner Mutter an war Gott sein Gott (V. 10). In seiner Gemeinschaft mit Gott gab es keinen Missklang. Er betete allein auf dem Berg; Er vertraute auf Gott (16,1). Dieser Gott hat Ihn auf dem Kreuz verlassen. Menschen, die in der Hölle von Gott verlassen sein werden, haben ihn dennoch nie wirklich als Gott kennengelernt, so dass sie nicht „mein Gott“ sagen können.
Warum hast du mich verlassen: So konnte allein Er fragen. Er war der einzige Mensch, für den es keinen Grund gab, von Gott verlassen zu werden. Wenn der Herr Jesus auch gesagt hat, dass der Vater bei Ihm wäre (Joh 16,32), so nahm das nichts davon weg, dass Er als Mensch von Gott verlassen wurde. Er wurde von Gott zur Sünde gemacht (2Kor 5,21). Das Schwert erwachte gegen den Hirten, gegen den Mann, der sein Genosse war (Sach 13). Dem Herrn gefiel es, Ihn zu zerschlagen (Jes 53,10). War es gerecht von Gott, den einzigen Gerechten zu verlassen? – Der Herr gibt in Vers 4 selbst die Antwort auf diese Frage: „Doch du bist heilig“ (V. 4).
Und hier ist es wohl angebracht, auf die Gefahr hinzuweisen, dass diejenigen, die Psalm 22,1 als eine gewöhnliche Erfahrung eines Gläubigen zitieren, die Lektion, die uns die Schrift gibt, verachten oder zumindest nicht nutzen, dass diese Worte zu Jesus am Kreuz passten und sicherlich zu keinem Christen seitdem. Er wurde damals so verlassen, damit wir es nie verlassen werden. Es ist also nicht wahr, dass der Gläubige unter irgendeinem Umstand von Gott verlassen ist. Jesus konnte nur in der Fülle der Wahrheit sowohl „Mein Gott“ als auch „Warum hast du mich verlassen?“ sagen. Und selbst Er hat diese Worte nie gesagt, noch hätte Er sie, wie ich glaube, sagen können, außer als Sühnung für die Sünde. Die Annahme, dass David, weil er die Worte geschrieben hat, sie als seine eigene Erfahrung gesagt haben muss, bedeutet, die Psalmen zu einer privaten Interpretation zu machen, anstatt die Kraft des Geistes anzuerkennen, der sie inspiriert hat. Psalm 16 könnte genauso gut oder besser Davids Erfahrung sein; dennoch braucht es wenig Unterscheidungsvermögen, um zu sehen, dass es in beiden Psalmen in ihrer vollen Bedeutung ausschließlich um Christus geht, und zwar unter ganz anderen Umständen (W. Kelly in Klagelieder,22 S. 29).
Bist fern von meiner Rettung, den Worten meines Gestöhns: Gestöhn heißt auch: Brüllen, Heulen: Der Herr erhielt in den drei Stunden der Finsternis keine Antwort. In Hebräer 5,7 heißt es: „Der in den Tagen seines Fleisches, da er sowohl Bitten als Flehen dem, der ihn aus dem Tod zu erretten vermochte, mit starkem Schreien und Tränen dargebracht hat (und wegen seiner Frömmigkeit erhört worden ist)“. Hat der Herr Jesus wohl im Garten Gethsemane geschrien? Hat Er dort auch geweint? Auf dem Kreuz hat Er jedenfalls geschrien (Mt 27,46; Mk 15,34.39). Als er am Kreuz hing und schrie, bekam Er keine Antwort von Gott.
22 Siehe https://biblische-lehre-wm.de/wp-content/uploads/AT-25-Klagelieder-WKelly-D.pdf↩︎