Behandelter Abschnitt 1Sam 1
Einleitung
Geschichtlich gesehen ist das erste Buch Samuel die Fortsetzung des Buches der Richter. Dort haben wir die Geschichte des Volkes, dessen Weg schon immer abwärts gerichtet war – trotz der gelegentlichen Erweckungen. Richter schließt mit der ernsten Aussage: „In jenen Tagen war kein König in Israel; ein jeder tat, was recht war in seinen Augen“ (Ri 21,25). Israel hatte jedes wahre Bewusstsein davon verloren, dass Gott sein König war. Dadurch hörten sie auf, ein vereintes Volk zu sein und zerbrachen einfach in mehrere Einheiten, die unabhängig voneinander handelten. Und jeder tat seinen eigenen Willen und wandelte gemäß dem eigenen Licht, nicht jedoch im Glauben und Vertrauen auf Gott.
Aber auch heute sieht es beim Volk Gottes nicht anders aus. Die gleiche Ursache führt zu denselben Folgen. Da die Gläubigen darin versagen, das Haupt im Himmel festzuhalten (Kol 2,19), tun sie es auch darin, die Einheit und Gemeinschaft im Volk Gottes auf der Erde zu bewahren. Und durch die fehlende Gemeinschaft fallen sie in einfachen Individualismus, bei dem jeder seinen eigenen Willen verwirklicht – unabhängig von den anderen.
Die dunkle Epoche des Volkes Israel
In den ersten 7 Kapiteln des ersten Buches Samuel finden wir einen der dunkelsten Abschnitte in der Geschichte Israels vorgestellt. Die Abwärtsbewegung des Buches der Richter wurde dort weitergeführt, bis die Nation nicht nur vollkommen durch das Böse gekennzeichnet war, sondern zudem in einem hoffnungslosen Zustand gefangen lag. Ihre Ungerechtigkeit war so schlimm, dass es für Gott unmöglich war, seine äußere Verbindung mit Israel aufrecht zu halten, ohne entweder ihre Sünden zu bestrafen oder seine Herrlichkeit zu beschmutzen. So beginnt eine ernste Periode in der Geschichte des Volkes, in der Gott das Symbol seiner Gegenwart zurückzieht – die Bundeslade – und jede äußere Beziehung zwischen dem Volk und Gott beendet ist.
Es gibt allerdings auch noch eine andere Seite dieses dunklen Bildes. Denn wenn uns erlaubt wird, das vollständige Versagen des Volkes Gottes hinsichtlich seiner Verantwortung zu sehen, so besitzen wir zugleich das Vorrecht, die unumschränkte Gnade Gottes zu bewundern. Wenn also diese Begebenheiten die Tiefe der menschlichen Sünden zeigen, machen sie zugleich die Höhe der göttlichen Gnade deutlich. So wird uns auf anschauliche Weise gezeigt, dass wo die Sünde überströmend geworden ist, die Gnade noch überreichlicher geworden ist (Röm 5,20).
Je dunkler das Bild, desto heller strahlt die Gnade
Wenn wir uns nun die einzelnen Begebenheiten anschauen, dann fehlen die unheilvollen Zeichen des kommenden Sturms nicht. Und im weiteren Verlauf werden die Schatten größer und die Dunkelheit breitet sich aus. Aber inmitten dieser Finsternis lernen wir die Wahrheit dieses Wortes: „Und es wird geschehen, wenn ich Wolken über die Erde führe, so soll der Bogen in den Wolken erscheinen“ (1Mo 9,14).
Kurz gesagt zeigen uns die ersten sieben Kapitel des ersten Buches Samuel das vollkommene Versagen des Volkes Gottes in seiner Verantwortung, und den letztendlichen Triumph der unumschränkten Gnade Gottes.
Einteilung von 1. Samuel 1-7
Dieser Teil des Buches kann folgendermaßen eingeteilt werden:
1. Samuel 1-2,10: Die unumschränkte Gnade Gottes ist trotz der Schwachheit der Natur und des Versagens des Menschen wirksam, um Gottes festgesetzte Ratschlüsse zu erfüllen, seine eigene Herrlichkeit aufrecht zu erhalten, und um den Segen des Volkes unter der Herrschaft von Christus als König zu sichern.
1. Samuel 2,11-36: Hier sehen wir das Versagen des Volkes Gottes in seiner Verantwortung. Dies wird durch den Zusammenbruch des Priestertums deutlich. Zudem finden wir hier Warnungen vor dem kommenden Gericht.
1. Samuel 3: Der Höhepunkt des Bösen mit dem daraus folgenden Beiseitesetzen des Priesters und der Einführung des Propheten.
1. Samuel 4: Das Gericht in den göttlichen Regierungswegen fällt auf das Volk Gottes, so dass es in Gefangenschaft der Feinde gerät. Auch das äußere Kennzeichen der Gegenwart Gottes ist weggenommen.
1. Samuel 5 und 6: Gott bestätigt seine Heiligkeit noch einmal und bewahrt die Majestät seines Namens in Tagen, in denen das Volk Gottes aufgehört hat, ein öffentlicher Zeuge für Gott zu sein.
1. Samuel 7: Gott stellt in seiner unumschränkten Gnade sein Volk wieder her – und Er erneuert seine Beziehungen zum Volk durch den Propheten.
Die Absicht Gottes (1Sam 1,1 - 2,10)
In diesem einleitenden Abschnitt von 1. Samuel haben wir eine herrliche Vorwegnahme des folgenden Wortes: „. . . nach der Kraft Gottes; der uns errettet hat und berufen mit heiligem Ruf, nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade, die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben“ ist (2Tim 1,8-9). Am Ende des Liedes, das Hanna sang, kommen wir bis zum abschließenden und höchsten Vorsatz Gottes, den Segen unter Christus als König einzuführen. In der Geburt Samuels sehen wir die Gnade Gottes, diesen Vorsatz zur Ausführung zu bringen. Und das trotz der Schwachheit und dem Versagen des Menschen – also nicht nach unseren Werken, wie Paulus später schreiben sollte.
Darüber hinaus lernen wir, dass die Gnade jede Krise voraussieht, die unter dem Volk Gottes aufkommen kann. Aber sie überwindet diese Krise nicht nur, sondern trifft die geeigneten Vorkehrungen für solch schwierige Zeiten, bevor sie kommen.
Der Beginn der Geschichte zeigt uns einen gottesfürchtigen Leviten mit zwei Frauen; die eine fruchtbar, die andere unfruchtbar. Die unfruchtbare Frau – Hanna – bringt ihren Zustand mit Trauer vor den Herrn und wird von Peninna, der fruchtbaren Frau, gekränkt. Elkana geht jedes Jahr nach Silo, um vor dem Herrn anzubeten und zu opfern. An diesem Ort finden wir Hophni und Pinehas. Es sind zwei böse Menschen, wie wir in Kapitel 2,12 lesen, die als Priester des Herrn tätig sind. Eli, ihr Vater und zugleich Hoherpriester, ist persönlich sehr gottesfürchtig. Wir lernen ihn jedoch kennen als einen geschwächten alten Mann, der am Eingang des Tempels sitzt (Vers 9) und die Übungen einer Gott hingegebenen Seele als wirres Reden einer betrunkenen Frau missversteht (Vers 13). Dass er an einem Ort sitzt, für den Gott gar keinen Stuhl vorgesehen hat, zeigt uns den Mangel an geistlicher Energie. Dass er Hanna in ihrem Gebet vollkommen falsch versteht, zeigt uns den Mangel an geistlichem Urteilsvermögen.
Souveräne Gnade strahlt aus dem Dunkel hervor
So werden uns eine unfruchtbare Ehefrau, eine kränkende Frau, zwei wertlose Männer als Priester und ein schwacher und versagender alter Mann als Hoherpriester gezeigt. In solchen Umständen wird uns erlaubt, die souveräne Gnade Gottes zu sehen. Sie übergeht die fruchtbare Frau, wirkt durch die Schwachheit der Natur in der unfruchtbaren Frau und ist stärker als die Sünde des Menschen, wie es in den Priestern dargestellt wird. In dem Sohn, der Hanna gegeben wird, sehen wir den Weitblick der Gnade Gottes. Sie sorgt schon vor, um die Beziehungen Gottes mit seinem Volk in den kommenden Tagen des Zusammenbruchs zu erneuern.
Die drei großen Ämter, durch die die Beziehungen zwischen Gott und dem Menschen aufrechterhalten werden, sind die des Priesters, des Propheten und des Königs.
Der Priester hält die Beziehungen mit Gott aufrecht, indem er Gott zugunsten des Volkes naht. Dafür ist in Verbindung mit dem Priester die Bundeslade und das Opfer nötig – die Lade, die die Gegenwart des Herrn darstellt, und das Opfer, das uns den Weg des Herzunahens symbolisiert.
Der Prophet erneuert die Beziehungen mit Gott durch den Appell an Gewissen und Herz des Volkes, indem er eine Botschaft von Gott verkündigt. Wenn der Priester versagt und das Volk aufhört, Gott durch die Priesterschaft zu nahen, kommt Gott in seiner souveränen Gnade durch den Propheten zum Volk herab.
Der König hält die Beziehungen zwischen dem Volk und Gott aufrecht, indem er das Volk unter der Autorität Gottes führt. Wenn der König eingesetzt ist, dann regiert und führt Gott nicht mehr auf direkte Weise, sondern handelt durch den König. Dann hängt auch der Segen für das Volk von der persönlichen Treue des Königs ab.
Die Einführung von Christus beendet alles Versagen
Das erste Buch Samuel zeigt uns das Versagen des Priesters, des Propheten und des Königs nach Wahl des Menschen. Dadurch wird der Weg frei gemacht für die souveräne Gnade Gottes, um den Menschen in den Segen zu führen. Und dies geschieht durch die Einführung seines Gesalbten – des Christus – als König, von dem David ein Vorbild ist. So wird letztendlich dem ganzen Universum klar gemacht werden, dass aller Segen für Israel und die Nationen von der Treue Christi als König abhängt. Der Mensch wird gesegnet werden. Aber alle Herrlichkeit des Segens wird auf Christus ruhen. Die Herrlichkeit Christi ist das Ziel der Ratschlüsse Gottes.
Darüber hinaus zeigt uns die Geschichte von Hanna nicht nur den großen Grundsatz, nach dem Gott seinen Ratschluss der Gnade ausführt. Sie gibt uns auch eine reichhaltige moralische Belehrung für jedes geprüfte und leidende Kind Gottes. Wie auffallend ist der Kontrast zwischen der Hanna, die nicht essen kann und in ihrer Seele verbittert weint, wie wir in Vers 7 lesen, und der Hanna, die „ihres Weges ging und aß, und ihr Angesicht war nicht mehr dasselbe“ (Vers 18).
Wie kam es zu dieser Veränderung? Hatten sich die Umstände gewandelt, die ihren Kummer bewirkt hatten? Überhaupt nicht, denn sie war nach wie vor die unfruchtbare Frau. Das Geheimnis dieses Wechsels liegt in der Tatsache, dass sie ihre Seele vor dem Herrn ausgeschüttet hatte. Die Kränkung durch ihre Gegnerin, die Sorgen ihres Geistes und die Bitterkeit der Seele – alles das hatte sie mit Weinen vor ihren Herrn gebracht. So durfte sie das Wort hören: „Gehe hin in Frieden“. Sie schüttet ihren Kummer aus, und der Friede Gottes strömt in sie hinein. Das ist eine beeindruckende Illustration der Ermahnung, die uns sagt: „Seid um nichts besorgt, sondern in allem lasst durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden. Und der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, wird eure Herzen und euren Sinn bewahren in Christus Jesus“ (Phil 4,6-7).
Aus Leid kommt Freude hervor
Wie oft schleppen wir unseren Kummer mit uns herum, statt ihn vor dem Einen auszuschütten, der in diese Welt der Weinenden kam, um unsere Leiden zu tragen und unsere Schmerzen auf sich zu nehmen. Haben wir ein verstecktes Leid; haben wir einen Feind, der Kränkungen bewirkt (Vers 6); etwas oder jemand, der unseren Geist provoziert (Vers 6); etwas, das unsere Herzen betrübt (Vers 8); etwas, das unsere Seele mit Bitterkeit erfüllt und unsere Augen mit Tränen (Vers 10)? Dann lasst uns unsere Seelen vor dem Herrn ausschütten, und Er wird uns mit seinem Frieden erfüllen. Und ein freudiges Herz wird ein freudiges Gesicht zeigen, wie wir lesen: „Und ihr Angesicht war nicht mehr dasselbe.“ Wenn das Herz in Frieden ruht und damit der Freude des Herrn erfüllt ist, wird es zu einem anbetenden Herzen; so lesen wir von Hanna, dass sie vor dem Herrn anbetete (Vers 19).
Nachdem Hanna gelernt hat, dass der Herr in der Lage ist, sie in den Umständen aufrecht zu erhalten und sie trotz dieser Schwierigkeiten sogar zu einer Anbeterin zu machen, ändert die Barmherzigkeit des Herrn ihre Umstände. Denn Er gewährt ihr ihre Bitte. Sie hatte gebetet: „Herr der Heerscharen! Wenn du . . . meiner gedenken . . . wirst“ (Vers 11). Nun lesen wir: „Und der Herr gedachte ihrer“ (Vers 19). Sie bekommt einen Sohn, den männlichen Samen, um den sie gebeten hatte. Und das Kind, das sie von dem Herrn erhält, gibt sie Ihm zurück. „Um diesen Knaben habe ich gefleht, und der Herr hat mir meine Bitte gewährt, die ich von ihm erbeten habe. So habe auch ich ihn dem Herrn geliehen; alle die Tage, die er lebt, ist er dem Herrn geliehen“ (Vers 27–28).