Behandelter Abschnitt Rt 1,15-18
Ruth – der Weg der Gnade Gottes
„Und sie sprach: Siehe, deine Schwägerin ist zu ihrem Volk und zu ihren Göttern zurückgekehrt; kehre um, deiner Schwägerin nach! Aber Ruth sprach: Dringe nicht in mich, dich zu verlassen, um hinter dir weg umzukehren; denn wohin du gehst will ich gehen, und wo du weilst, will ich weilen; dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott; wo du stirbst, will ich sterben, und dort will ich begraben werden. So soll mir der Herr tun und so hinzufügen, nur der Tod soll scheiden zwischen mir und dir! Und als sie sah, dass sie fest darauf bestand, mit ihr zu gehen, da ließ sie ab, ihr zuzureden“ (1,15–18).
Wie anders ist die Geschichte Ruths. Sie wird zur Zeugin der Gnade Gottes. Ruth hat auch ein gutes Bekenntnis; sie äußert schöne Worte; sie ist auch tief bewegt, denn sie erhebt wie Orpa ihre Stimme und weint. Aber bei Ruth war es mehr, denn bei ihr fanden sich die „mit der Erettung verbundenen Dinge“: Glaube, Liebe und Hoffnung (Heb 6,9-12).
Bei Orpa war es nur ein äußerlicher Ausdruck der Liebe. Sie konnte Noomi küssen und dann verlassen, genau wie Judas zu späterer Zeit den Herrn küssen und überliefern konnte. Von Ruth wird noch nicht einmal gesagt, dass sie Noomi küsste, aber wenn auch kein äußerlicher Ausdruck der Liebe da war, war doch echte Liebe vorhanden, denn wir lesen, dass Ruth ihr anhing.
Echte Liebe kann nicht den Gegenstand der Liebe aufgeben, sie muss in der Gemeinschaft der geliebten Person sein und daher fügt Ruth hinzu: „Dringe nicht in mich, dich zu verlassen, hinter dir weg umzukehren.“
Darüber hinaus entspricht ihr Glaube ihren Zuneigungen. Mit der Energie ihres Glaubens überwindet sie die Anziehungskraft des Landes ihrer Geburt, des Hauses ihrer Mutter, ihres Volkes und ihrer Götter. Sie nimmt die Wanderschaft in Kauf, denn sie sagt: „Wohin du gehst, will ich gehen.“ Sie nimmt das Los einer Fremden an, denn sie sagt: „Wo du weilst, will ich weilen.“ Sie identifiziert sich mit dem Volk Gottes: „Dein Volk ist mein Volk.“ Über alles stellt sie ihr Vertrauen in den wahren Gott, denn sie sagt nicht nur: „Dein Volk ist mein Volk“, sondern fügt hinzu: „Dein Gott ist mein Gott.“ Selbst der Tod kann sie nicht zurückhalten, denn sie sagt: „Wo du stirbst, will ich sterben, und dort will ich begraben werden.“
Ob im Leben oder im Tod, sie identifiziert sich völlig mit Noomi, und beansprucht fortan Noomis Volk als ihr Volk und Noomis Gott als ihren Gott. Und alles das zu einem Zeitpunkt, an dem sie auf den ersten Blick nichts anderes mehr vor sich hatte, als eine alte, zerbrochene Frau, denn sie hängt sich, wie jemand gesagt hat, an Noomi „in der Stunde ihrer Witwenschaft, ihrer Fremdlingschaft und ihrer Armut“.
Für den vernünftig denkenden Menschen dieser Welt erscheint die Wahl Ruths äußerst töricht. Die Sorglosigkeit Moabs, den Komfort des Elternhauses und das Land der Geburt zu verlassen, um eine Reise durch die Wüste auf sich zu nehmen, von der sie nichts weiß, in ein Land, das sie nie gesehen hat, in Gesellschaft einer armen, leidgeprüften Witwe, scheint wirklich der Gipfel der Torheit zu sein. Dies ist jedoch erst der Anfang der Geschichte, das Ende ist noch nicht in Sicht. Es ist noch nicht offenbar geworden, was sie sein wird. Der Glaube mag seine ersten Schritte in Umständen der Armut und Schwachheit tun, aber am Ende wird der Glaube gerechtfertigt werden und eine große Belohnung haben, in Umständen der Macht und Herrlichkeit. Am Anfang der Geschichte identifiziert sich Ruth von ganzem Herzen mit einer alten und einsamen Witwe, und am Ende wird sie als die Braut des mächtigen und wohlhabenden Boas dargestellt, ja noch mehr, ihr Name wird von Generation zu Generation weitergereicht, eingemeißelt im Geschlechtsregister des Herrn.
Mose, ausgestattet mit allen natürlichen Vorzügen, nur eine Armeslänge entfernt von allen Herrlichkeiten dieser Welt, wurde zum strahlenden Beispiel desselben Glaubens. Er kehrte den Vergnügungen der Sünde und den Schätzen Ägyptens den Rücken zu, achtete die Schmach des Christus für größeren Reichtum als alle Schätze Ägyptens und verließ die Welt und alle ihre Herrlichkeiten (Heb 11,24), um sich in der Wüste in Gesellschaft eines armen, leidenden Volkes wiederzufinden. Was für eine völlige Dummheit in den Augen der Welt! Aber in seinen Tagen konnte der Glaube wirklich sagen: „Es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden“ (1Joh 3,2).
Der Glaube musste 16 Jahrhunderte warten, bevor es begann, offenbar zu werden, was er sein würde. Da wird uns erlaubt, Mose in Herrlichkeit auf dem Berg der Verklärung erscheinen zu sehen, in Gemeinschaft mit dem Sohn des Menschen, in einer vorübergehenden Vision einer Herrlichkeit, die nie vorübergehen wird. Und wenn Mose schließlich in die kommenden Herrlichkeiten des Reiches in Gemeinschaft mit dem König der Könige eintreten wird, dann wird es ganz deutlich, dass die Herrlichkeiten dieser Welt, die er ablehnte, wirklich klein sind im Vergleich zu dem ewigen Gewicht von Herrlichkeit, das er gewann.
In unseren Tagen ist es nicht anders. Der Pfad des Glaubens mag aus Sicht dieser Welt der Gipfel der Torheit sein. Die Herrlichkeiten dieser Welt abzulehnen, sich mit dem armen und verachteten Volk Gottes zu identifizieren und zu Christus hinauszugehen, außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend (Heb 13,13), mag für den menschlichen Verstand und aus natürlicher Sicht der blanke Wahnsinn sein. Aber immer noch antwortet der Glaube: „Es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden“ (1Joh 3,2).
Der Glaube urteilt, dass „das schnell vorübergehende Leichte unserer Trübsal uns ein über jedes Maß hinausgehendes, ewiges Gewicht von Herrlichkeit bewirkt“ (2Kor 4,17). Und der Glaube wird seinen großen Lohn bekommen. Denn wenn schließlich der Tag der Herrlichkeit anbricht und der Glaube in Schauen verwandelt wird, wenn der große Tag der Hochzeit des Lammes gekommen ist, dann werden seine armen und verachteten Heiligen mit Ihm und gleich Ihm erscheinen als die Braut, die Frau des Lammes.
Wenn die mit der Seligkeit verbundenen Dinge – Glaube, Liebe und Hoffnung – in Tätigkeit sind, wird die Folge Entschlossenheit des Herzens sein. So war es auch bei Ruth. Sie nahm keine Rücksicht auf das Land, das sie verließ, da war kein vergebliches Nachtrauern, sondern sie bestand fest darauf, zu gehen. Und so kam es, dass sie beide gingen, „bis sie nach Bethlehem kamen“. Auch für uns ist es gut, wenn wir, beseelt von Glauben, Liebe und Hoffnung, die Dinge vergessen, die dahinten liegen, und uns ausstrecken nach dem, was vorn ist, und, das Ziel anschauend, hinjagen zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus (Phil 3,14).