Behandelter Abschnitt Dan 8,1-2
Der Widder und der Ziegenbock
Die ersten sieben Kapitel des Buches Daniel beschäftigten sich hauptsächlich mit den heidnischen Mächten, sei es in ihrer Erscheinung aus menschlicher Sicht oder wie Gott sie sieht. Von Kapitel 8 bis zum Ende des Buches betreffen die Gesichte und deren Deutungen in besonderer Weise die Juden. Es werden viele Einzelheiten genannt, die für die heidnischen Mächte von geringem Interesse oder sogar bedeutungslos sind.
Dies könnte die Tatsache erklären, dass der Geist Gottes von Daniel 2,4 bis zum Ende von Daniel 7 den aramäischen Dialekt verwendet hat, da dieser Teil des Buches sich direkter mit den Nationen befasst. In Daniel 8 bedient sich der Geist Gottes wieder der hebräischen Sprache, die bis zum Ende des Buches verwendet wird, da dieser Teil der Prophezeiung sich insbesondere mit den Juden beschäftigt.
In Daniel 8 finden wir den Bericht von Daniels Gesicht vom Widder und dem Ziegenbock (8,1–14) und die Deutung dieses Gesichtes (8,15–27).
Wir haben bereits gesehen, dass das zweite und dritte Weltreich in dem Standbild durch die Brust und Arme aus Silber und den Bauch und den Lenden aus Kupfer vorgeschattet werden, die ihren aus menschlicher Sicht eindrucksvollen Charakter verbildlichen. In den Gesichten aus Daniel 7 werden sie uns erneut in Gestalt von Tieren vorgestellt – dem Löwen und dem Leoparden –, um ihren moralischen Charakter aus der Sicht Gottes darzustellen.
Nun begegnen uns das zweite und dritte Weltreich in Daniel 8 erneut in Form von zwei Tieren – dem Widder und dem Ziegenbock –, um ihre Geschichte in Verbindung mit den Menschen darzulegen. Dass diese Gestalten jeweils das Weltreich Persiens und Griechenlands darstellen, ist keine Sache der Mutmaßung, sondern nach der von Gabriel in den Versen 20 und 21 gegebenen Deutung eine Offenbarung.
Da diese Weltreiche bereits vergangen sind, könnte die Frage aufkommen, welchem Nutzen diese Einzelheiten dienen. Zwei Dinge müssen bei der Beantwortung dieser Frage berücksichtigt werden. Erstens hatten diese Weltreiche in den Tagen ihrer Macht mit dem Volk Gottes zu tun, und alles, was sein Volk betrifft, berührt seine Herrlichkeit und ist von tiefer und bleibender Bedeutung. Zweitens müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass zwar „ihre Herrschaft . . . weggenommen“ wurde, ihnen jedoch „Verlängerung des Lebens“ gegeben wurde „bis auf Zeit und Stunde“ (7,12).
So wird es bis zum Ende der Zeiten der Nationen immer noch Völker geben, die diese einst mächtigen Reiche repräsentieren, und zur Zeit des Endes werden sich diese Völker im Widerstand gegen das Volk Gottes, die Juden, befinden. Dies ist es, was den Einzelheiten aus Daniel 8 eine solche Bedeutung gibt. Es stellt in prophetischer Weise die Geschichte dieser beiden Weltreiche in den Tagen ihrer Macht und ihre Beziehung zum Volk Gottes dar – Prophezeiungen, die sich bereits erfüllt haben.
Gleichzeitig schattet ihre vergangene Geschichte ihre Feindschaft gegen das Volk Gottes zur Zeit des Endes vor.
Beim Lesen dieser Schriftstellen wollen wir, wie einmal jemand sagte, diese beiden Gedanken festhalten, „dass Christus das Ziel und das Ende aller Ratschlüsse Gottes ist, und dass die Juden der Gegenstand seiner Ratschlüsse hienieden sind“. Es stimmt zwar, dass Gottes irdisches Volk zerbrochen und unter der züchtigenden Hand Gottes zerstreut und nicht weiter öffentlich als sein Volk anerkannt ist. Nichtsdestotrotz ist es noch immer sein Volk, das um seiner Väter willen geliebt ist, und wenn die Zeit seiner gerichtlichen Blindheit vorüber ist, wird es ins Land gesammelt und segensreich wiederhergestellt werden. „Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar“ (Röm 11,29).
Wenn sich darüber hinaus die immerwährende Liebe Gottes noch immer gegen Israel richtet, sind seine Augen noch immer auf das Land und den Tempel gerichtet. Das Land mag trostlos und von den Füßen der Nationen zertreten worden sein, doch es ist noch immer „ein Land, auf das der Herr, dein Gott, Acht hat: Beständig sind die Augen des Herrn, deines Gottes, darauf gerichtet, vom Anfang des Jahres bis zum Ende des Jahres“ (5Mo 11,12). Auch an Salomo erging das Wort: „Ich habe dieses Haus, das du gebaut hast, geheiligt, um meinen Namen dahin zu setzen in Ewigkeit; und meine Augen und mein Herz sollen dort sein alle Tage“ (1Kön 9,3).
Wenn wir uns diese Gedanken vor Augen halten, können wir verstehen, dass alles, was Gottes irdisches Volk betrifft, ob in der Vergangenheit oder in der Zukunft, für Gott von höchster Bedeutung ist, denn in diesem und durch dieses Volk wird sich die Herrlichkeit Christi auf Erden letztlich durchsetzen, und in ihm werden sich die Ratschlüsse Gottes zum Segen aller Völker erfüllen.
Durch seine Sünde und sein Versagen ist das irdische Volk Gottes unter den Zorn und die Züchtigung Gottes gekommen, wodurch es der Knechtschaft unter die Nationen verfallen ist. Dennoch steht Gott der Misshandlung seines Volkes durch die, die die Züchtigung Gottes zum Anlass für ihre eigene Erhöhung und zur Verfolgung des Volkes Gottes nutzten, nicht gleichgültig gegenüber.
Die Prophezeiungen Daniels zeigen wie andere Schriftstellen deutlich, dass der Widerstand gegen Gott und die Verfolgung seines Volkes zur Zeit des Endes eine dreifache Form annehmen werden.
Erstens wird es die Verfolgung geben, die von dem wiederauferstandenen Oberhaupt des Römischen Reiches ausgehen wird, das uns in dem Bild des kleinen Horns aus Kapitel 7 vorgestellt wird (siehe 7,21.25 und Off 13,1-10).
Zweitens wird es die gegen die Juden aufkommende Verfolgung durch ihren nördlichen Feind geben, wenn sie in ihr Land zurückgekehrt sein werden, was durch das kleine Horn in Kapitel 8 dargestellt wird.
Drittens wird es die Verfolgung durch den Antichrist in ihrer Mitte geben, welche uns in Daniel 11,36-39 vor Augen geführt wird (siehe auch Off 13,11-18).
Es ist die zweite Form der Verfolgung des irdischen Volkes Gottes, die uns in Daniel 8 vorgestellt wird, also die Verfolgung, die aus Assyrien – oder dem König des Nordens – kommt und auf die sich so viele der Propheten beziehen.