Daniel ist sich augenscheinlich all dessen, was sich abspielt, bewusst, und doch erhebt er offenbar weder Anklage gegen diese niederträchtigen Männer, noch sucht er sich selbst zu verteidigen. Er vertraut auf seinen Gott (6,24), nicht auf sich selbst oder seine eigenen Anstrengungen. Seine Aufgabe ist es einfach, Gott zu gehorchen und Ihm den Rest zu überlassen. Folglich geht er in sein Haus und betet wie gewöhnlich dreimal am Tag mit geöffneten Fenstern nach Jerusalem hin. In alldem finden wir keine Zurschaustellung, sondern er verhält sich schlicht so „wie er vorher getan hatte“. Da er die Gewohnheit hatte, auf diese offene Weise zu beten, wäre es von ganz Babylon als Feigheit oder Zustimmung zu der Verordnung gedeutet worden, wenn er plötzlich die Fenster geschlossen und im Geheimen gebetet hätte.
Inmitten dieser gottlosen Stadt hatte Daniel ein öffentliches Zeugnis für den wahren Gott abgelegt. Er war kein geheimer Nachfolger. Dem Befehl zu gehorchen würde einen Verstoß gegen das erste Gebot bedeuten. Darüber hinaus gab das Wort Gottes Daniel klare Anweisungen für die Umstände, in denen er sich befand. Das Gebet Salomos bei der Einweihung des Tempels sah seine Schwierigkeiten bereits vorher. „Wenn“, sagte König Salomo, sie „es zu Herzen [nehmen] in dem Land, wohin sie gefangen weggeführt sind . . . und sie beten zu dir zu ihrem Land hin, das du ihren Vätern gegeben, zu der Stadt, die du erwählt hast, und dem Haus, das ich deinem Namen gebaut habe, so höre im Himmel, der Stätte deiner Wohnung, ihr Gebet und ihr Flehen, und führe ihr Recht aus“ (1Kön 8,46-49). So lautete das Gebet Salomos, und Gott erhörte sein Gebet, denn der Herr sagte: „Ich habe dein Gebet und dein Flehen gehört, das du vor mir gefleht hast“ (1Kön 9,3).
Im Vertrauen auf Gott handelte Daniel nach dem Wort Gottes. Er weigerte sich, irgendwelche Kompromisse zu machen. Der fleischliche Geist könnte vorschlagen: Warum nicht das Fenster schließen und im Geheimen beten? Daniel lehnte jeglichen solchen Kompromiss ab und betete bei „offene[m] Fenster“. Doch wenn er schon mit offenem Fenster beten musste, warum wählte er einen der vorderen Räume, die zur Straße hinausgingen? Ohne zu zögern betete er „nach Jerusalem hin“. Doch wenn er mit offenem Fenster und nach Jerusalem hin beten musste, warum war es dann notwendig, dass er auch noch auf seine Knie ging – konnte er keine andere Haltung einnehmen, die nicht die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt hätte, dass er betete?
Nein, Daniel gab diese richtige Haltung gegenüber Gott nicht auf, und so „kniete er auf seine Knie“. Wenn er nun so streng ist, dass er mit offenem Fenster, nach Jerusalem hin und auf seinen Knien kniend betet, warum ist es notwendig, dass er es „dreimal am Tag“ machte? Sicherlich hätte er doch frühmorgens beten können, bevor irgendjemand wach ist, oder spät am Abend, nachdem jeder sich schlafen gelegt hat? Wirklich, hätte er nicht für diese dreißig Tage das Beten am Tage aufgeben und stattdessen in der Nacht beten können? Gott kann auch bei Dunkelheit sehen und hören. Doch keine solcher Vorschläge beeinflussen Daniel: Er betet dreimal, und das am Tage. Und obwohl er in Gefangenschaft lebt und von solchen umgeben ist, die nach seinem Leben trachten, findet er Gelegenheit, nicht nur zu beten, sondern er „lobpries“ auch. Mehr noch, er betet und lobpreist „vor seinem Gott“.
Die Menschen mögen ihn beten sehen, doch in Wirklichkeit betet er vor Gott und nicht vor Menschen. Dies war für Daniel nichts Neues. Es war nichts, womit er plötzlich in einem Anfall religiösen Eifers oder in trotzigem Widerstand gegen den Erlass des Königs begonnen hätte. Es war die Fortsetzung seines üblichen Weges – „wie er vorher getan hatte“. „Da liefen jene Männer eilig herbei und fanden Daniel betend und ßehend vor seinem Gott“ (6,12).