Behandelter Abschnitt Ps 102,2-12
Christus wird als Mensch im Geiste mit den Leiden seines Volkes und als Gott mit der Herrlichkeit des HERRN einsgemacht
Der Psalm beschreibt Erfahrungen des Herrn, die Er im Lauf seines Lebens vielleicht im Geist vorhersah, die Er aber in ihrer gesamten Fülle nur im Garten Gethsemane durchlebte.
Die in diesem Psalm beschriebenen Leiden sind nicht die, die der Herr aufgrund seiner Behandlung durch Menschenhand fühlte, wenngleich diese seiner Seele durchaus gegenwärtig ist; es ist auch nicht das Leid angesichts seines Sühnewerkes – das Tragen des Zornes und Grimmes aus Gottes Hand –, obwohl dies ebenfalls vor seinen Augen steht. Der Psalm beschreibt sein persönliches Leid dadurch, dass Er sich mit seinem leidenden Volk einsgemacht.
Ps 102,2-12: 2 HERR, höre mein Gebet, und lass zu dir kommen mein Schreien! 3 Verbirg dein Angesicht nicht vor mir am Tag meiner Bedrängnis; neige zu mir dein Ohr; an dem Tag, da ich rufe, erhöre mich eilends! 4 Denn wie Rauch entschwinden meine Tage, und meine Gebeine glühen wie ein Brand. 5 Wie Kraut ist versengt und verdorrt mein Herz, dass ich vergessen habe, mein Brot zu essen. 6 Wegen der Stimme meines Seufzens klebt mein Gebein an meinem Fleisch. 7 Ich gleiche dem Pelikan der Wüste, bin wie die Eule der Einöden. 8 Ich wache und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dach. 9 Den ganzen Tag verhöhnen mich meine Feinde; die gegen mich rasen, schwören bei mir. 10 Denn Asche esse ich wie Brot, und meinen Trank vermische ich mit Tränen 11 vor deinem Zorn und deinem Grimm; denn du hast mich emporgehoben und hast mich hingeworfen. 12 Meine Tage sind wie ein gestreckter Schatten, und ich verdorre wie Kraut.
Diese Verse beschreiben die Einsmachung des Messias im Geiste mit dem leidenden Überrest seines Volkes Israel. Darin lesen wir den Schrei des „Mannes der Schmerzen“ (Jes 53,3) am Tag der Not. Das große Verlangen der gottesfürchtigen Seele in Not ist, dass der Herr diesen Schrei hören möge. Im Geiste begibt sich der Herr in dieser Not hinein und bringt dieses Verlangen zum Ausdruck (Ps 102,2-4).
Unter der Züchtigung des Herrn werden die Tage seines Volkes verkürzt und sie entschwinden wie Rauch; sein Ruhm verwelkt wie Gras. In diese Drangsal begibt sich der Herr hinein (Ps 102,4-6). Sein Volk ist einsam und verlassen wie ein Wüstenvogel oder ein einsamer Spatz auf einem Dach. Der Herr begibt sich auch in diese Verlassenheit hinein (Ps 102,7.8). Das Volk erfährt unablässig Hohn und Feindschaft von den Menschen und der Herr trägt diesen Hohn persönlich (Ps 102,9.10). Überdies war das Volk über alle Völker erhoben worden, dann aber aufgrund Gottes Zorn und Grimm zu Boden geworfen worden. Auch in diese Drangsal begibt sich der Herr hinein, denn Er, der gesalbt wurde, um der Messias zu sein, wurde niedergeworfen und seine Tage wurden abgeschnitten. Er sagt allerdings nicht: „Dein Zorn und Grimm liegt auf mir“, denn Er spricht jetzt nicht als derjenige, der am Kreuz das Gericht trägt, sondern als derjenige, der sich im Geiste in den Zorn und den Grimm, der auf dem Volk liegt, hineinbegibt (Ps 102,10.11).