Behandelter Abschnitt Dan 9,22-23
Als Gabriel zu ihm kam, gab er Daniel in Vers 22 zuerst Verständnis und sprach dann zu ihm: „Im Anfang deines Flehens ist ein Wort ausgegangen, und ich bin gekommen, um es dir kundzutun; denn du bist ein Vielgeliebter. So höre aufmerksam auf das Wort und verstehe das Gesicht“ (Vers 23). Die Offenbarung, die er empfangen würde, setzte göttliche Einsicht voraus, um sie zu verstehen, und daher übermittelt Gott seinem Knecht diese zuerst durch Gabriel. Außerdem lässt Er Daniel wissen, dass Er das Verlangen seines Herzens gesehen hat und bereits zu Beginn des Flehens den Befehl zu Gabriels Auftrag gegeben hat.
In seiner kostbaren Gnade wird Er ihm auch mitteilen, dass er ein Vielgeliebter war, um Daniels Herz zu ermutigen – vielgeliebt, wie der Jünger, den Jesus liebte, der vertraut war mit den Gedanken und Gefühlen des Herrn und dadurch befähigt, Mitteilungen göttlicher Geheimnisse zu empfangen. Es ist wahr, dass der Herr uns seine Gedanken völliger eröffnen kann, je näher wir bei Ihm sind. Daher fügt Gabriel hinzu: „So höre aufmerksam auf das Wort und verstehe das Gesicht.“ Die Voraussetzungen – göttliche Einsicht und ein Herz in Einklang mit Gott – waren erfüllt, und so war Daniel durch Gnade befähigt, das Gesicht zu verstehen, das ihm offenbart werden sollte.
Das führt uns zum schwierigsten Abschnitt des Buches, oder zumindest zu einem durch Spekulationen und Widersprüche verkomplizierten Gegenstand: den 70 Jahrwochen.
Einige vorbereitende Beobachtungen helfen uns bei ihrer Betrachtung. Es ist von äußerster Wichtigkeit zu bedenken, dass die Offenbarung des Willen Gottes weit in die Zeit vor das Gebet des Propheten zurückreicht. Jeremia hatte gesagt: „Denn so spricht der Herr: Sobald siebzig Jahre für Babel voll sind, werde ich mich euer annehmen und mein gutes Wort an euch erfüllen, euch an diesen Ort zurückzubringen“ (Jeremia 29,10; siehe auch Jeremia 25,11-14). Diese Schriften hatte Daniel entdeckt, und darauf gründete sich seine Fürbitte, wodurch er, da er die Einsicht Gottes besaß, zum Mittler wurde. Deswegen geht er auch nicht – wie oft angemerkt – zurück auf den bedingungslosen Bund Gottes mit den Patriarchen, der die Grundlage dafür ist, dass Gott durch den Wert des Todes des Christus letztendlich sein Volk unter dem Segen der Regierung des Christus im Land wiederherstellen wird (siehe 3. Mose 26,40-45). Nein, Daniel bezieht sich auf das, was Gott über sich selbst offenbart und was Er Mose in 2. Mose 34 versprochen hatte.42 Was Daniel in seinem Flehen wünschte, war die Erfüllung der Verheißung durch Jeremia, und durch den Geist Gottes geleitet, befand er sich in der Gegenwart Gottes auf der richtigen Grundlage dafür. Aber in der Mitteilung durch Gabriel wird ihm offenbart, dass Gott sogar noch größere Gedanken des Segens für sein Volk hatte, welche am Ende der siebzig Wochen erfüllt werden sollten.
Außerdem sollte beachtet werden, dass diese Offenbarung ausschließlich Juden und Jerusalem betrifft. Es ist wirklich merkwürdig, dass es notwendig ist, hierauf zu bestehen, wenn man die verwendete Sprache bedenkt. Und doch neigen manche Ausleger hartnäckig dazu, die Schriften – welche die zukünftige Wiederherstellung der auserwählten Nation vorstellen – durch Vergeistlichung wegzuerklären, so dass es notwendig wird, ihre offenkundige Bedeutung zu bestätigen und festzuhalten. Gabriel erwähnt also vor Daniel „dein Volk“ und „deine heilige Stadt“. Selbst ein Kind, wenn es die Grundlagen des Neuen Testaments kennt, versteht, dass Christen keine heilige Stadt auf der Erde haben. Und sollte behauptet werden, dass es sich hier um die himmlische Stadt, das neue Jerusalem handle, so sollte hinterfragt werden, wann ihre Mauern denn zerstört wurden, so dass sie wiederaufgebaut werden müssten? Nein, die Stadt, für die hier gebetet wird, ist die, von der Gabriel spricht, wie aus Vers 25 hervorgeht, und daraus folgend ist Daniels Volk das der Juden und die Stadt das irdische Jerusalem.
Es ist außerdem bemerkenswert, dass, obwohl Daniel zum Herrn von „dein Volk“ und „deiner Stadt“ Jerusalem redet, Gabriel Daniel gegenüber von „dein Volk“ und „deiner Stadt“ spricht (vgl. auch 2. Mose 32 bis 34). Durch die Sünden des Volkes Israel wurde die Verbindung mit dem Herrn gebrochen und der Name Lo-ammi (Nicht-mein-Volk) wurde – wie bereits gesehen – für sie verwendet. Von dieser Zeit an bis zur Erscheinung des Christus und der Wiederherstellung seines Volkes wird die Bezeichnung „Mein-Volk“ nie wieder benutzt.43
42 In 2. Mose 32 beruft sich Mose auf die Verheißung, die Abraham, Isaak und Jakob empfangen hatten, als Gott kurz davor stand, sein Volk endgültig zu verwerfen und Mose an ihrer Stelle zu einer Nation gemacht werden sollte.↩︎
43 Demzufolge wird diese Bezeichnung auch in Esra und Nehemia nie gefunden, aber wenn der Herr erneut nach Zion zurückkehrt, wird Er sie wieder aufgreifen (siehe auch Sacharja 8,7.8; Sacharja 13,9; Hosea 2,23).↩︎