Behandelter Abschnitt Nehemia 8,1-3
Einleitung
Bevor wir in dieses interessante Kapitel einsteigen, mag es von Nutzen sein, seine Stellung im gesamten Buch hervorzuheben. In Kapitel 6 finden wir die Fertigstellung der Mauer, in Kapitel 7 Vorkehrungen und Mittel zum Schutz der Stadt sowie die Zählung des Volkes anhand des Geschlechtsverzeichnisses, und in Kapitel 8 haben wird die Autorität des Wortes Gottes hergestellt. Diese Reihenfolge ist höchst lehrreich. Die Mauern mögen gebaut und das Volk säuberlich gesammelt und geordnet sein, doch nur Gehorsam gegenüber dem Wort konnte es in der Stellung erhalten, in die es gebracht worden war.
Gehorsam gibt sowohl dem Herrn als auch dem Volk seinen Platz – dem Herrn den Platz des höchsten Ansehens und dem Volk den der Unterordnung. Gehorsam ist daher der Weg der Heiligkeit: dadurch wird alles ausgeschlossen, was mit den übergeordneten Ansprüchen des Herrn nicht in Übereinstimmung ist. Dies enthält eine praktische Lektion von großer Bedeutung für die Versammlung. Das Zeugnis Gottes versammelt auf der Grundlage des einen Leibes Seelen zu Christus. Doch, sobald sie gesammelt sind, fällt es in die Verantwortung der Lehrer und Hirten, die Vorherrschaft des Herrn in der Autorität des geschriebenen Wortes geltend zu machen, die Herde Gottes mit passender Nahrung zu versorgen, sie in ihrem allerheiligsten Glauben aufzuerbauen und sie somit gegen die Listen und Methoden des Feindes zu befestigen.
„Da versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann auf dem Platz, der vor dem Wassertor liegt. Und sie sprachen zu Esra, dem Schriftgelehrten, dass er das Buch des Gesetzes Moses bringen sollte, das der Herr Israel geboten hatte. Und am ersten Tag des siebten Monats brachte Esra, der Priester, das Gesetz vor die Versammlung, sowohl vor Männer als Frauen und vor alle, die Verständnis hatten, um zuzuhören. Und er las darin vor dem Platz, der vor dem Wassertor liegt, vom lichten Morgen bis zum Mittag, in Gegenwart der Männer und der Frauen und derer, die Verständnis hatten; und die Ohren des ganzen Volkes waren auf das Buch des Gesetzes gerichtet“ (8,1–3).
Wir haben gesehen, dass Nehemia in Kapitel 7 Esra 2 wiederholt. Der erste Vers dieses Kapitels entspricht exakt Esra 3,1. Dort lesen wir: „Und als der siebte Monat herankam und die Kinder Israel in den Städten waren, da versammelte sich das Volk wie ein Mann nach Jerusalem.“ Hier lesen wir: „Da versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann auf dem Platz, der vor dem Wassertor liegt.“ In Vers 2 finden wir außerdem, dass diese Versammlung ebenfalls „am ersten Tag des siebten Monats“ stattfand. In beiden Fällen wird die Zusammenkunft in Verbindung mit dem Datum genannt.
Der erste Tag des siebten Monats war das Gedächtnis des Posaunenhalls (3Mo 23,24; 4Mo 29,1), ein Bild der Wiederherstellung Israels in den letzten Tagen. Daher würde es, wo irgend seine Bedeutung verstanden wurde, mit großer Macht auf die Herzen aller wahren Israeliten einwirken. Ob in diesem Fall die Posaunen geblasen wurden, wird nicht berichtet; doch auch die Tatsache, dass dem nicht so war, ist an sich schon bedeutsam. „Und sie sprachen zu Esra, dem Schriftgelehrten, dass er das Buch des Gesetzes Moses bringen sollte, das der Herr Israel geboten hatte.“ Wenn durch die Vernachlässigung des Wortes Gottes alles in Verwirrung gerät, sind nicht die Feste, sondern ist die Autorität der Schriften über das Gewissen als erstes wiederherzustellen. Daher gab es anstelle eines Posaunenstoßes5 eine feierlich ernste Versammlung, um das Gesetz zu lesen – eine Erinnerung an das, was unter dem Volk in Vergessenheit geraten zu sein schien.
Es ist überaus schön zu bemerken, dass Esra, der bisher in diesem Buch nicht erwähnt wurde, derjenige ist, auf den das Volk in der aktuellen Situation zurückgreift. Er war der Schriftgelehrte „in den Worten der Gebote des Herrn und seinen Satzungen für Israel“ und jemand der sich an dem Wort, das er an andere weitergab, erfreute und sich davon nährte. Doch in Zeiten fast gänzlichen Verfalls, der Verwirrung und Verwüstung war der Lehrer des Gesetzes nicht erwünscht gewesen; und so wurde Esra aus dem Blickfeld verloren, wenn er nicht sogar in Vergessenheit geraten war. Doch nun, wo es eine Art der Wiederbelebung gab, die ein Verlangen nach dem Wort Gottes auslöste, erinnerte man sich an Esra und seine Dienste wurden in Anspruch genommen. Wie glücklich ist der Diener, der zurücktreten kann, wenn er nicht gebraucht wird, und wieder hervortritt, wenn er wieder gewünscht wird, indem er willig ist, alles oder nichts zu sein, bekannt oder unbekannt, wenn er nur Gottes geliebtem Volk dienen kann!
In den Versen 2 und 3 finden wir die Beschreibung der Zusammenkunft, um das Wort zu hören. Versammelt waren „sowohl . . . Männer als Frauen und . . . alle, die Verständnis hatten“. Das sind nach unserer Beurteilung alle Kinder, die alt genug waren, das Gelesene zu verstehen. Es gab daher keine Unterteilung in Gruppen, keine Unterweisung getrennt von Männern, Frauen oder den Kindern. Es waren alle zusammen und bildeten die Versammlung des Herrn. Auf diese Weise zusammengekommen, las Esra aus dem Buch des Gesetzes „vom lichten Morgen bis zum Mittag“ – wahrscheinlich nicht weniger als sechs Stunden – „und die Ohren des ganzen Volkes waren auf das Buch des Gesetzes gerichtet“.
Zu gewöhnlichen Zeiten wäre es unmöglich gewesen, das Volk wie hier so lange mit dem einfachen Lesen der Schriften festzuhalten. Doch wenn der Geist Gottes nach einer Zeit des verbreiteten Niedergangs wahrhaft wirkt, wenden sich die Heiligen wieder aufs Neue und mit großem Verlangen zur Bibel und werden beim Lesen oder Hören der Wahrheiten nicht müde, die zur Belebung ihrer Seelen beitrugen. Liebe zum Wort Gottes, mit dem intensiven Verlangen, nach seinen verborgenen Schätzen zu suchen, ist immer ein Merkmal einer wahren Wiederbelebung. Diese Tatsache erklärt den Eifer des Volkes in diesem Kapitel, am ersten Tag des siebten Monats der Lesung des Buches des Gesetzes zuzuhören.
5 Wir zitieren die Worte eines anderen: „In Wirklichkeit war es die Posaune Gottes, obwohl es dem Volk nicht bewusst war, die sie zu dem neuen Mond versammelte, der wieder in Gnaden schien, welche Wolken auch immer sein schwaches Licht verschleiert haben mögen.“↩︎