Behandelter Abschnitt Mt 7,1-5
„Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet, denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden." Ich denke, um diesem Gebot, so wie es in den sechs Versen dieses Kapitels enthalten ist, nachkommen zu können, müssen wir innerlich in einer Stellung der Liebe zum Bruder und zur Schwester stehen, nicht aber in einer Stellung des Richtens. Es muss uns darum zu tun sein, dem Bruder und der Schwester, wenn wir ein allgemeines Sprichwort gebrauchen wollen, „nicht den Kopf, sondern die Füsse zu waschen." Um jemand die Füsse zu waschen, muss man sich bücken, den Kopf kann man einem andern von oben herab waschen; mit einem Worte also: es muss jemand demütige Liebe haben, die sich herunterlässt. Wenn wir beim Bruder oder der Schwester etwas sehen, was nicht in Ordnung ist, so gehen wir nicht sofort auf den andern los, sondern wir besprechen es mit Gott, damit er uns die rechte Art und Weise schenke, wie wir uns dem Bruder oder der Schwester nahen sollen — wie wir ihnen nahekommen können, ohne sie zurückzustossen.
In Prediger 8, Vers 5 und 6 heisst es: „ Wer das Gebot bewahrt, wird vor allem unrichtigen Vorgehen bewahrt, und das Herz des Weisen kennt den Augenblick, um vorzugehen, und die Art und Weise, wie man vorgeht; denn für alle Dinge gibt es einen richtigen Augenblick und eine richtige Art und Weise." Das gilt ganz besonders in bezug auf das Richten. Erstens haben wir überhaupt nicht zu richten im Sinne von abzuurteilen. Das steht Gott zu, und was bei dem andern zu richten ist, hat vielleicht weniger Bedeutung vor Gott als die Dinge, mit denen wir noch belastet sind. Es kommt darauf an, dass wir dem Nächsten in der Demut begegnen, ihm also die Füsse waschen und nicht den Kopf.
Wenn dienende Liebe da ist, dann kann Gott auch den richtigen Zeitpunkt geben, an dem eine offene Türe ist, um ein warnendes, liebendes Wort niederzulegen, nachdem wir die Sache zuerst im Gebet vor den Herrn gebracht haben mit dem Verlangen, ihm zu dienen, ohne richten zu wollen. Da müssen wir uns aber zuerst selbst durchrichten lassen, damit wir klar sehen, wann wir dem andern nahe treten und ihm Handreichung tun können durch irgendeine Warnung, Zurechtweisung oder Ermutigung. Um klar zu sehen, dürfen wir keinen Balken im eigenen Auge haben. Wie willst du, wenn du noch mehr gebunden bist als dein Nächster — wenn du einen Balken im Auge hast —, wie willst du dann den verhältnismässig geringfügigen Fehler an deinem Bruder — den kleinen Splitter — herausziehen? Natürlich kommt es dabei auch darauf an, ob wir es mit Kindern Gottes zu tun haben oder mit Fremden.